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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der goldene Fels Kapitel 6

Der-goldene-FelsRobert Kohlrausch
Der goldene Fels
Kriminalroman, Alster-Verlag, Hamburg, 1915

Sechstes Kapitel

Martha war schnell durch die Straßen gegangen. Zorn und Widerwillen hatten ihren Schritt beflügelt. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, was ihr durch ein schleichendes Gerücht schon zugetragen worden war. Dass ihr Mann beinahe täglich in der Gesellschaft einer schönen Fremden zu finden sei, hatte sie gewusst. Aber obwohl ihr Herz für ihn tot war, hatte der Anblick der verführerischen Frau an seiner Seite sie nun doch mächtig erregt. Sie fühlte sich erst wieder freier und ruhiger werden, als der stille Friede reiner, gütiger Natur sie umgab. Sie hatte den Anlagenweg eingeschlagen, den ihr Mann ein paar Stunden vorher in entgegengesetzter Richtung zur Stadt hin gegangen war. Hier war es einsam. Nur mitunter saß eine Frau mit einer Handarbeit auf einer Bank und beaufsichtigte ihre spielenden Kinder, die im Sand gruben oder einander jagten.

Martha ging jetzt langsam. Mit einem Seufzer sah sie die friedlichen Bilder von ruhigem Familienglück. Der helle Tag warf ein warmes Licht auf ihren Weg und ließ die bunten Baumwipfel über ihr sanft erglühen. Tief aufatmend blieb sie stehen, trank mit ihren Lungen die reine Herbstluft. Eine leer gebliebene Bank war am Weg, sie ging darauf zu, setzte sich nieder und sann still vor sich hin.

Zuerst blieb ihr Gesicht noch zornig und finster. Das Bild, vor dem sie geflohen war, wiederholte sich immer wieder vor ihren Augen. Sie sah die fremde Frau neben ihrem Gatten und fühlte den kalten Blick der Augen, die sich im Glas spiegelten. Langsam aber, wie sie so dasaß unter dem leise fallenden Herbstlaub, entwich das feindliche Bild, und ihre Züge verwandelten sich. Gedanken kamen, die hinweg spülten, was hässlich und feindlich war. Und ihr Gesicht, in dem der Ausdruck wichtiger war als die Form, gewann eine klare, seelenhafte Schönheit. Sanftes Rot stieg in ihre Wangen, ein Rot, in dem sich Glück, Scham und Weh miteinander mischten. Es war ein madonnenhaftes Erglühen, das ein schönes und schmerzliches Wunder begrüßte.

Von dieses Wunders Hand gebeugt, saß Martha lange Zeit, ihre Blicke still auf die welken Blätter am Boden gerichtet. Sie sah kaum empor, wenn einer der seltenen Spaziergänger vorüberkam. Aber jetzt fiel auf den Weg ein Schatten, der nicht vorüber glitt gleich den anderen, sondern zu ihren Füßen haltmachte. Und wie sie nun aufsah, hörte sie von einer tiefen, ein wenig rauen Stimme die Worte: »Guten Tag, gnädige Frau.« Die Worte waren konventionell und nichtssagend an sich, aber es war ein besonderer Ton darin, der ihnen Bedeutung verlieh.

Sie fühlte, wie das Rot auf ihren Wangen sich verstärkte. Hatten ihre Gedanken Zauberkraft gehabt und gerade den Mann herbeigeführt, an den sie gedacht hatte? Die leise Scham vor sich selbst wurde stärker in ihr, zugleich aber war in ihrem Herzen eine warme Freude.

»Herr Burkhardt, Sie?« Weiter vermochte sie nichts zu sagen.

Auch er fand keine Worte, machte nur eine unbestimmte, verlegene Bewegung mit seiner Hand. Nach einem raschen Blick empor in seine Augen hatte Martha wieder den Kopf gebeugt und sah vor sich nieder auf die gelben und roten Blätter wie zuvor.

So blieben die beiden ein paar Sekunden. Die Frau gewann zuerst wieder die gesellschaftliche Beherrschung.

Sie richtete sich auf und fragte: »Sie waren in der Stadt?«

»Ja, gnädige Frau.«

Nach einer kleinen Pause wieder eine Frage: »Der Abend neulich bei uns, ist er Ihnen gut bekommen?«

»Ja, gnädige Frau.«

Ein Zucken ging um ihre Lippen. Fragend sah sie zu ihm empor.

»Warum nennen Sie mich so?«

»Wie soll ich Sie anders nennen?« Seine Stimme war noch ein wenig rauer geworden als vorher.

»Freilich, wir sind einander sehr fremd geworden.«

»Sehr fremd.«

»Aber Sie denken auch noch zuweilen an das, was früher war. Sind wir nicht Kinder gewesen zu gleicher Zeit, sind wir nicht hier zusammen ausgewachsen, haben wir nicht miteinander gespielt und uns Max und Martha genannt?«

»Ja, wir waren Kinder!« Eine beinahe drohende Bitterkeit klang in seinen Worten. Er schwieg einen Augenblick, um dann in gleich bitterem Ton hinzuzufügen: »Kinder wissen nichts von der Welt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, von Standesunterschieden wissen die Kinder nichts. Wenn man klein ist, ja, dann darf man zusammen spielen, die Tochter des Fabrikherrn und ein Werkmeistersohn. Aber dann, später, wenn er großer und klüger wird, er muss dann doch einsehen, was zwischen ihnen liegt.«

Lebhaft hob sie den Kopf und sah ihm voll ins Gesicht. »Wenn wir einander so fremd geworden sind …« Nun stockte sie wieder, besann sich zögernd eine Sekunde lang. Dann sagte sie rasch und fest: »Wenn Sie ein wenig Zeit haben, setzen Sie sich zu mir her. Lassen Sie uns das alles einmal besprechen als gute Freunde. Sie haben mich gemieden diese ganze Zeit, sind mir immer ausgewichen, heute führt uns ein Zufall zusammen. Kommen Sie … wollen Sie?«

Burkhardt atmete ein paar Mal hintereinander tief und rasch. »Ja, ich will«, stieß er dann hervor und setzte sich mit schwerfälliger Bewegung ans äußerste Ende der Bank.

Nun er neben ihr saß, musste sie auch erst nach Worten suchen. In ihrer Verlegenheit griff sie nach einem herabgefallenen Ahornblatt, das zwischen ihnen lag und wundervoll rot und gelb gezeichnet war. Auf das Blatt niederbückend, sagte sie mit unsicherer Stimme: »Sie sind lange fort gewesen.«

»Fort und vergessen.«

»Wer sagt Ihnen das?«

»Was inzwischen geschehen ist, sagt es mir. Denn sonst … ich an Ihrer Stelle …« Seine Blicke sprachen weiter für seine stockenden Lippen. Er sah sie mit so glühenden Augen an, dass ihr war, als ob der Blick sie verbrennen müsste. Gleich einem Abglanz dieses Feuers kam neues, heißes Rot auf ihre Wangen.

»Sie sind ja verheiratet«, stieß er jetzt mühsam hervor. »Glücklich verheiratet!«

»Wer sagt Ihnen, dass ich glücklich bin?«

Er ballte die Fäuste, hob seinen mächtigen Oberkörper. »Ich will es hoffen … will es glauben … sonst …«

Es war eine furchtbare Drohung in seinen Blicken, vor der sie erschrak, während gleichzeitig ein leises, warmes Freudengefühl ihr durch die Adern rieselte wie schwerer Wein.

»Ja, ja, glauben Sie’s, nehmen Sie es an, dass ich glücklich bin«, sagte sie schnell.

Er ließ die geballte rechte Hand schwer auf seinen Schenkel niederfallen. »Nun, dann ist es ja gut.«

Sie schwiegen. Martha zerdrückte das Ahornblatt, das sie noch immer gehalten hatte, in ihrer Hand und ließ es zu Boden sinken.

»Warum sind Sie so lange fortgeblieben«, fragte sie dann.

»Warum ich …«

»Fünf lange Jahre waren Sie fort, in Amerika drüben. Und vorher schon, die Zeit auf der Hochschule, vier Jahre waren das auch. Aber damals haben wir uns doch noch zuweilen gesehen, wenn Sie in Ihren Ferien nach Hause kamen.«

»Ich wollte, dass ich fortgeblieben wäre.«

»Warum?«

Er schwieg. Er hatte schon die vorigen Worte nur mit einer scheinbar schmerzlichen Anstrengung hervorgebracht. Sie aber fragte weiter: »Wenn Sie so sprechen, warum sind Sie jetzt überhaupt gekommen, warum sind Sie geblieben?«

Er stemmte seinen Stock schräg auf den Boden, beugte tief den Kopf, als ob er hinab gepresst würde, und ließ das Kinn auf den Händen ruhen, die den Silbergriff umklammerten. So gab er Antwort, vor sich nieder blickend, als ob er zum Erdboden spräche.

»Drüben in Amerika habe ich’s einmal gesehen, es war ein großes Feuer, auch ein paar Stallgebäude brannten. Man hatte die Tiere gerettet, sie standen weit ab vom Feuer. Aber eins von den Pferden, es war ein gesundes, braves Tier, wie das die Flammen sah, da riss es sich los und rannte hinein in den brennenden Stall, in dem es zu Hause gewesen war, mitten hinein in die Glut. Es war nicht mehr zu retten, es ist elend verbrannt.«

Martha presste die Hände mit Gewalt ineinander, als ob sie sich an etwas halten müsste, um nicht fortgerissen zu werden von einem gewaltigen Strom des Gefühls.

Nach einer Weile sagte sie leise: »Ich verstehe Sie nicht.«

»Nein, Sie verstehen mich nicht, haben mich niemals verstanden. Sonst …«

»Was wollen Sie sagen?«

»Sonst hätten Sie nicht geheiratet.«

Nun hob sie zornig den Kopf und stolz. »Es ist nicht meine Schuld, wenn es dahin gekommen ist.«

»Meine Schuld etwa?«

»Jawohl! Das ist es, was ich vorhin sagen wollte. Wenn wir einander so fremd geworden sind, ist es Ihre Schuld, nicht meine. Warum haben Sie mir nie geschrieben?«

»Warum ich …?« Er stockte, sah sie verständnislos mit weit geöffneten Augen an.

»Ich habe gewartet, geduldig gewartet. Sie hatten mir ja gesagt, damals beim Abschied, Sie würden mir nicht schreiben, ehe Sie nicht aus eigener Kraft sich eine Stellung im Leben errungen hätten. Ich habe Sie verstanden, wenn ich selbst auch niemals einen Unterschied gefühlt habe zwischen uns. Mensch ist Mensch, und Sie waren mein Freund. Aber als dann Monat auf Monat verging und Jahr auf Jahr, als keine Zeile von Ihnen kam, kein einziges warmes Wort …«

In seinen Augen war das dumpfe, verständnislose Staunen immer größer geworden. »Aber ich habe geschrieben.«

»Das ist nicht wahr!«

»Ich lüge nicht, ich habe noch niemals gelogen. Sie haben es wohl über Ihr neues Glück vergessen.«

»Über mein Glück! Vergessen, einen Brief von Ihnen vergessen! Oh, wenn Sie wüssten, wie mein Herz nach einem Brief sich gesehnt hat. Ich wüsste heute noch jedes Wort in ihm, wenn er gekommen wäre!«

»Hören Sie mich an. Wir müssen ruhig bleiben, müssen das ruhig besprechen. Es ist eine so wichtige Sache, für mich gewiss, vielleicht auch für Sie. Lassen Sie mich nachdenken. Ja, so war’s. Ich hatte in den ersten fünf Monaten nicht geschrieben, als ich drüben war. Es wurde mir schwer, aber ich wollte mein Abschiedswort halten. Und es dauerte länger, als man denkt, wenn man jung ist, bis man eine Stellung erringt im Leben. Aber dann, als ich wirklich festen Boden unter den Füßen fühlte, da war es mein Erstes, dass ich Ihnen schrieb. Im Reden bin ich ungeschickt, Sie wissen es. Aber im Schreiben, wenn ich so ganz allein bin mit mir, da kann ich schon sagen, wie mir zumute ist. Und ich hab’ es getan, es war ein langer Brief. Alles war darin, mein ganzes Gefühl, meine Sehnsucht, meine grenzenlose Sehnsucht, hierher nach Ihnen! Haben Sie das wirklich vergessen, oder …?«

»Ich habe diesen Brief niemals bekommen. Keine Zeile von Ihrer Hand hab’ ich bekommen in all den Jahren.«

»Das ist ja nicht möglich! Briefe gehen so selten verloren. Es kann ja geschehen, vom Ausland her, aber es ist mir noch niemals passiert. Und gerade dieser Brief, dieser wichtige Brief, an dem gewissermaßen mein Leben …«

»Er muss verloren gegangen sein, auf irgendeine Weise. Niemals ist er in meine Hände gelangt.«

»Welch ein Unglück! Oh, Sie wissen ja nicht, welch ein Unglück das für mich gewesen ist! Sie wissen ja nicht, welche Zeit ich damals durchgemacht habe. Dies Warten auf einen Brief, auf die Antwort von Ihnen, jeden Tag und jede Stunde, und immer vergeblich …«

»Warum haben Sie nicht noch einmal geschrieben?«

»Dazu war ich zu stolz. Ihr Schweigen war mir Antwort genug. Und ich wäre niemals wieder hierhergekommen, wenn nicht Ihr Herr Vater, Sie wissen ja, dass er mich weiter studieren ließ, als mein Vater starb. Als er von den Verpflichtungen der Dankbarkeit sprach, dass ich nun seinem Unternehmen meine Kräfte widmen sollte, da hab’ ich mir vorgelogen. Mich selbst kann ich belügen, andere nicht, ich käme nur aus Dankbarkeit für ihn zurück. In Wahrheit ist es mir gegangen wie dem Tier, dem Pferd, von dem ich gesprochen habe, das wieder in den brennenden Stall hineingerannt ist. So bin ich hineingerannt in die Flammen, die hier, hier um Sie brennen!«

Seine Lippen zitterten, sein ganzer Körper bebte. Die Leidenschaft hatte seine Zunge freimachen wollen, und wenn er auch in stammelnden, abgerissenen Sätzen sprach, sein Gefühl brach doch in ihnen hervor wie glühender Lavastrom.

Martha legte die Hände für einen Moment vor ihre Augen, als ob sie diese Glut von sich abschließen müsste, um klar zu sehen. Dann wieder die Hände sinken lassend, sagte sie langsam: »Ja, das war wirklich ein großes Unglück mit jenem Brief. Ein großes Unglück für uns beide. Wenn ich ihn bekommen hätte.«

»Sagen Sie mir nur das eine, darum bitte ich Sie: Haben Sie deshalb, nur weil dieser Brief nicht in Ihre Hände kam, haben Sie deshalb einen anderen Mann geheiratet?«

»Deshalb nicht allein. Ihr Schweigen hatte mich irregemacht, aber ich hätte doch wohl noch weiter gewartet und gehofft, wenn das andere nicht hinzugekommen wäre.«

»Welches andere?«

Mit einem tiefen Atemzug holte Martha sich zu der Antwort Kraft: »Ihre Verlobung.«

Noch staunender, noch verständnisloser als vorher blickte Burkhardt sie an. »Meine Verlobung? Ich verstehe Sie nicht.«

»Sie haben doch …, Sie wollten sich doch verloben, drüben in Amerika, mit einem reichen Mädchen, Miss Hastings …«

»Ich kenne keine Miss Hastings, und ich habe nie daran gedacht, mich zu verloben. Aber das muss ich wissen: Wer hat Ihnen das von mir gesagt?« Wie schweres Donnergrollen klang es in seiner Stimme.

»Jemand, an dessen Wort ich glauben musste. Denn er kam ja von drüben, dieser Herr Ebisberg.«

»Ebisberg? Oh, nun wird es mir klar, nun verstehe ich alles. Das also war seine Rache!«

»Rache?«

»Jawohl. Er kam damals herüber, um als Lernender in das gleiche Geschäft einzutreten, in dem ich angestellt war. Ich wusste, dass er von hier kam, dass er ihren Vater besucht hatte vor seiner Abreise nach drüben. Er hatte Sie gesehen! Ich sprach von Ihnen, fragte nach Ihnen. Zurückhaltend, vorsichtig, meiner Ansicht nach, er muss aber doch bemerkt haben, dass ich … Bald bekam ich auch heraus, was für ein Mensch er war. Einer, der glaubt, sich alles in der Welt kaufen zu können, seines reichen Vaters einziger Sohn. Einer, für den es auch keine Frauenreinheit und Frauenehre gibt. Nicht einmal vor Ihnen hat er haltgemacht mit seinen schmutzigen Gedanken und schmutzigen Worten. Ich will es nicht wiederholen, was er gesagt hat. Aber damals, wir saßen beim Wein, damals hab’ ich die nächste Flasche genommen, die vor mir stand und sie auf seinem verdammten Kopf zerschlagen. Dafür hat er sich dann gerächt.«

»Mag sein. Aber es ist noch etwas anderes hinzugekommen, Rache war es nicht allein. Dieser Herr Ebisberg hat mich heiraten wollen.«

»Er, Sie?«

»Jawohl. Eine Geschäftsverbindung Sie verstehen. Mein Vater und seiner machen ja seit langer Zeit Geschäfte miteinander, sie haben jetzt auch das Unternehmen in Amerika, das der Sohn leiten soll, zusammen begründet. Meine Heirat sollte nur so etwas wie ein Siegel auf den Geschäftsvertrag sein. Darum war Vater auch dafür und redete mir zu. Sie bedrängten mich von allen Seiten. Aber ich hab’ es nicht getan. Ebisberg war mir vom ersten Augenblick an zuwider. Seit er mir das gesagt hatte, das mit Ihnen, da hab’ ich immer nur daran denken müssen, sobald ich ihn sah. Das hätte zwischen uns gestanden für immer, auch wenn ich mich zu dieser Heirat hätte zwingen wollen. In seinen Armen hätt’ ich immer nur an Sie denken können.«

Sie schwieg einen Augenblick, und auch Burkhardt sprach nicht. Er grübelte stumm vor sich hin, während er gleichzeitig auf ihre Worte hörte. Nun fuhr sie fort: »Mein jetziger Mann kam gerade damals hierher. Sein glänzendes Äußeres, seine gesellschaftlichen Talente bestachen mich. Dass eine Heirat mit einem anderen mich am sichersten von dem verhassten Ebisberg befreien würde, war mir klar. Der vornehm klingende Name de la Motte gefiel auch Vater. Sie wissen, er hat seine kleinen Schwächen, so gut er ist. Er möchte gern selbst geadelt werden, hat ja darum auch die Ruine der Burg Eschersleben hinter unserem Haus gekauft, um vielleicht einmal Helbig von Eschersleben zu heißen. Ich habe meinen Widerwillen gegen Ebisberg deutlich gezeigt, und Vater wollte mich nicht zwingen. Als darum der andere kam, der um mich warb, hat er ja gesagt, als ich selbst es tat. Es geschah, weil ich unglücklich war, weil ich mich von Ihnen verlassen glaubte, nach einem Halt und einem Schutz suchte. Gefunden habe ich das nicht. Ob Ebisberg mich unglücklicher gemacht hätte, weiß ich nicht. Sie sind beide von gleicher Art. Geld ist beiden der Inbegriff des Lebens, nur dass Ebisberg um seiner selbst willen es liebt, dass er es besitzen und aufhäufen möchte, während mein Mann, wenn er es könnte, die Sterne vom Himmel risse und sie zu guten Goldstücken münzen ließe, die er dann um sich her unter die Leute streuen würde.«

Burkhardt war ganz in sich zusammengesunken. Das tiefe Grübeln lag auf ihm gleich einer schweren Last. Er murmelte halblaut vor sich hin: »Er hat es doch getan!«

»Was meinen Sie?«

»Dass es genug ist an einem Schurken. Dass der eine, der meine Verlobung erlogen hat, auch der Dieb des Briefes gewesen ist.«

»Vielleicht …«

»Mein Gefühl sagt es mir, es betrügt mich nicht. Und er war damals hier, als ich den Brief schrieb. Ich weiß das bis auf das Datum genau. Vor vier Jahren ist es gewesen, am 15. August 1906. Im Herbst 1905 war ich hinübergegangen. Ebisberg kam im Laufe des Winters. Bis in den Juli hinein blieb er dort. Er trat sehr bald nach seiner Heimkehr in Ihres Vaters Fabrik als Volontär hier ein. Er war damals hier.«

Burkhardt begleitete die letzten Worte mit einer schweren Bewegung seiner geballten Faust, als ob er den Mann zerschmettern wollte, von dem er sprach. Und er übersetzte die Bewegung in Worte mit wutbebender Stimme: »Dieser Schurke, dieser falsche, tückische Hund! Aber ich will ihn stellen, er soll mir Rede stehen!«

»Um Gottes willen, ich beschwöre Sie, bleiben Sie ruhig! Der Zorn ist ein schlechter Wegweiser. Überlegen Sie, warten Sie. Versprechen Sie mir das. Ich muss auch Vater noch fragen, ob er etwas von dem Brief weiß. Gleich Morgen will ich es tun, wenn es mir heute nicht mehr möglich ist. Er hat eine Konferenz in der Stadt. Warten Sie, bis ich Ihnen darüber Nachricht geben kann, lassen Sie vierundzwanzig Stunden vergehen und werden Sie ruhig. Tun Sie es mir zuliebe, wollen Sie, Max?«

Ihre Stimme war ganz leise geworden, aber ihre letzten Worte trafen ihn ins Herz. Von seinen Lippen kam ein Ton, halb wie ein Schluchzen, halb wie ein Jubelruf.

»Sie nennen mich … nennen mich … wie damals … damals, als wir Kinder waren … und später. Als wir … als wir …«

»Einander zum ersten Mal sagten, dass wir uns lieb hätten. Ja, Max, wie damals. Und sehen Sie, so traurig das alles ist, was wir heute hier erfahren haben, dieser Irrtum, dieser Betrug, der eingegriffen hat in unser Leben, eins hat uns der heutige Tag doch wieder geschenkt. Und es ist so golden schön, wie der Sonnenschein dort oben auf den goldenen Blättern! Das Bewusstsein, dass wir einander nicht verloren haben.«

»Ja, das ist schön, so wunderbar, so schön, o Martha, Martha!«

Sie stand auf. »Hier können wir nicht sprechen, wie wir sprechen möchten. Morgen früh will ich Vater wegen des Briefes fragen. Kommen Sie morgen Abend um zehn Uhr in die Eschenallee hinter unserem Garten. Dann kann ich Ihnen auch sagen, was Vater geantwortet hat. Wollen Sie, Max? Ist es Ihnen so recht?«

»Alles, alles!« Er war auch aufgestanden und schaute nach oben, wo das weichende Tageslicht in roter, letzter Glut erstarb. Er sagte leise: »Ja, so golden schön, wie der Sonnenschein dort oben!«

Ganz versunken in ihr großes Glücksgefühl, das für den Augenblick alle Zweifel und Fragen überflutete, gingen sie nun stumm nebeneinander unter den herbstlichen Bäumen über das welke Laub her. Die Glut über ihnen verloderte nach und nach, das Tageslicht erblich, ein leiser Abendnebel stieg vom Boden auf.