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Der Freibeuter – Die höchste und letzte Ehre

Der-Freibeuter-Zweiter-TeilDer Freibeuter
Zweiter Teil
Kapitel 4

Gegen Abend desselben Tages war es in der Schank- und Barbierstube der Frau Ankarfield voll. Die Wirtin selbst saß in ihrem Lehnstuhl. Der Schrecken der vergangenen Nacht hatte ihrer Gesundheit geschadet. Sie fühlte sich unwohl und war sichtlich verfallen. Vor ihr saß der Schiffschirurgus Habermann und fühlte ihr den Puls mit besorgter Miene. Auf dem Tisch eine Teekanne, eine Schachtel mit Pillen, eine Büchse mit Latwerge, eine Flasche voll Medizin, ein Päckchen Pulver. In einiger Entfernung sah man eine stattliche Klistierspritze, einen Aderlassschnäpper, Schröpfköpfe, Bindezeug und Pflaster. Den übrigen Raum der Stube hatte meist die Schiffsmannschaft des Graf Mörner gefüllt, aus Neugierde, um Näheres über die Vorfälle der verwichenen Nacht zu erfahren, bei denen sie gewissermaßen sich alle beteiligt fühlten. Auf der Ofenbank in der Ecke hatte sich Samuel Brondlov zusammengekauert, und während sich alle lebhaft unterhielten, sprach er, der so gern sprach, mit niemand. Er schien im tiefen Nachdenken über sein ferneres Schicksal begriffen zu sein, denn sowohl Miss Palmerston als auch Frau Elisabeth Brondlov und sogar Fanny, ihre Tochter, hatten ihm wissen lassen, er wöge sich nicht wieder unterstehen, der einen oder der anderen unter die Augen zu kommen, möchte nicht daran denken, die Reise nach England wieder zurückzukehren, möchte sich nicht schmeicheln, von ihnen jemals wieder einen Bissen Brot zu erhalten. Da saß der geschlagene Mann nun in der Verzweiflung seines Herzens und verwünschte für sich, dass er die unvorsichtige Kühnheit gehabt hatte, seiner Frau zu widersprechen und nicht zu tun und zu sagen, wie sie ihm anbefohlen hatte. Ihm leuchtete ihre wohlmeinende Absicht immer deutlicher ein. Was half es ihm denn, dass er die Wahrheit geredet hatte? War er nicht dadurch elend geworden? Fühlte er sich nicht von Gott und den Menschen verlassen? War es ein Wunder, wenn sein sonst so geschwätziger Mund verstummte und er einem Leichnam glich? Eben rang er mit dem Entschluss, die Stiege gegen den harten Befehl seiner ewigen Verbannung zu erklimmen und auf den Knien in das Zimmer der Miss zu rutschen, an deren Bett Frau und Tochter zu vermuten waren, und flehentlichst um Vergebung seiner Schuld zu jammern. Nur die Furcht hielt ihn noch zurück, statt einer günstigen Antwort eine üble Bedienung von den Nägeln seiner Ehehälfte zu erhalten. Endlich wurde er vom Lieutenant Gad dringend aufgefordert, zu erzählen, was er von dem Unglück der vergangenen Nacht wisse, und so tat er denn seinen Mund auf. Als das Brünnlein seiner Rede erst im Zuge war, sprang es reichlich und konnte kein Ende finden, den angeblichen Mörder recht verrucht zu schildern, wobei er nicht verfehlte, einige Unwahrheiten, Entstellungen und Vergrößerungen mit einfließen zu lassen. Dem Lieutenant wurde dadurch das Herz gelabt, und er rief endlich seelenvergnügt: »Hab’ ich’s nicht immer gesagt, dass er ein Teufelsbraten ist, ein verseuchter Schwarzkünstler und Hexenmeister? Wie anders wäre er denn in das Haus gekommen, wenn er nicht Schloss und Riegel aufgehext hätte? Aber seine Zeit und Stunde ist gekommen, und der Teufel hat ihn verlassen.«

»Ihr irrt sehr, Herr Lieutenant, wenn Ihr glaubt, mit dem Mörder sei es aus«, sagte ein Schiffsmann von einem anderen Schiff, welcher mit einigen seiner Kameraden noch nicht lange da war. »Schon vor vier Stunden kam er frank und frei mit dem Lieutenant Rosenpalm in den Hafen, bestieg eine Schaluppe mit ihm und stach in See. Man sagte allgemein, es geschehe auf ausdrücklichen Befehl des Königs.«

»Das ist nicht möglich!«, rief Gad.

»Erkundigt Euch, wo Ihr wollt. Meine Kameraden werden meine Aussage bestätigen.«

Diese taten es.

»Mit Verlaub, Frau Ebba, schickt doch einmal hinauf zum Fräulein«, sagte Meister Habermann zur kranken Wirtin – denn beide hatten das Gespräch mit angehört – »und lasst sie fragen, ob sie etwas von der Befreiung des Mörders weiß.«

Der kleine Sohn und Kellner wurde geschickt und kehrte gleich darauf mit der Nachricht zurück: Der Fremde sei für unschuldig befunden und sogleich freigelassen worden.

Alle schüttelten die Köpfe, und Gad fuhr endlich ärgerlich heraus: »Da dem wirklich also ist, so hat er seine Freiheit durch nichts weiter als seine höllischen Zauberkünste erlangt und den König selbst behext. Und dass er ein Hexenmann war, davon haben wir die deutlichsten Beweise gehabt.«

»Ach, Gott im Himmel! Meine Ehre! Meine Ehre!«, seufzte die Barbierswitwe aus tiefer Brust. »Einen Zauberer, Schwarzkünstler, Mord in meinem ehrlichen Haus durch die Hand eines Hexers! Meine Ehre ist für ewig dahin. Und Ihr, Meister Habermann, habt mich darum betrogen. Die Ehre ist das höchste Gut, und um das habt Ihr mich allein gebracht.«

»Mit Verlaub zu fragen«, versetzte der Schiffschirurgus , »wie versteht Ihr das, Frau Ankarfield?« »Habt Ihr nicht erst gewusst, dass jener Mann mittels der Schwarzen Kunst übernatürliche Dinge verrichtet? Und diesen Mann schickt Ihr mir, Eurer vieljährigen Freundin, ins Haus, Eurer Freundin, von der Ihr doch wisst, dass ihr die Ehre über alles geht? Womit habe ich solche Schmach von Euch erworben, Meister Habermann? Oder hat’s mein seliger Mann an Euch verdient, dass Ihr seine Witwe und Kinder um Ehre und Reputation bringt? Ach, Meister Habermann, ich kann die Schande nicht überleben! Sie brennt mir wie Kohlen auf der Seele. Hab’ ich denn schon zu lange gelebt, dass Ihr meine Tage also mit allem Fleiß verkürzt?«

Der Schiffschirurgus rutschte in großer Verlegenheit auf dem Stuhl hin und her, und ungeheure Schweißtropfen quollen aus seiner kupferroten Stirn. Er hatte abermals das Unglück, in ein doppeltes Feuer zu geraten, denn die empfindlichen Vorwürfe seiner alten Freundin waren es nicht allein, die ihm den heftigen Schweißerguss zuwege brachten. Andere quälende Gedanken setzten ihm noch gewaltiger zu. In Folge deren ließ er sich also vernehmen: »Mit Verlaub, Frau Ankarfield, von Eurer Ehre ist Euch kein Haarbreit entwendet worden. Ihr habt bis diese Stunde noch das reiche Gut zusammen, welches Ihr zu Lebzeiten Eures Eheherrn gehabt, wo ich schon Euer Freund war. Aber ich weiß, mit Verlaub zu melden, einen Mann, der durch die Befreiung und eilige Abreise dieses Magiers mehr verloren hat als seine Ehre, mehr als sein Leben. Ach! Und dieser Mann ist Gott erbarm’s kein anderer als Johann Gabriel Habermann, Euer gehorsamer Diener.«

»Und was könnte es Höheres geben als die Ehre?«, fragte die Kranke.

»Die Waffensalbe und das sympathetische Wundwasser!«, platzte der Chirurgus heraus. »von beiden hatte er mir die Zubereitung zu lehren versprochen, und nun ist er fort, und ich bin, mit Verlaub zu sagen, um meine schönsten Lebenshoffnungen betrogen. O, ich unglückseliger Mann!«

Die kranke Wirtin sah ihn groß an und rief dann mit einem wenig verhehlten Abscheu: »Also habt Ihr mit dem Teufelsbraten auch in Verbindung gestanden und Eure arme Seele dem Teufel verschreiben wollen, vielleicht gar schon verschrieben? Und Ihr wagt’s, mein Haus zu betreten, mir ein Medikament zu reichen? Fort! Fort! Meine Ehre! Ihr seid mein Ehrendieb! Fort! Fort!«

Die kranke Frau war in große Heftigkeit geraten, und alle Anwesenden erwarteten mit stummen Staunen, wohinaus das wolle. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und der Kapitän Norcroß trat mit zwei anderen Männern herein, die, gleich ihm, in Mäntel gehüllt waren. Die Schiffsmannschaft begrüßte den Kapitän ehrerbietig. Im entstellten Gesicht der Frau Ankarfield zeigte sich wieder ein milder Zug, als sie hörte, dass ihr der berühmte Kaperkapitän Norcroß die Ehre antue, bei ihr einzukehren. Sie bekomplimentierte die neuen Gäste nach aller Form und fragte so freundlich, wie es ihr Gemütszustand erlaubte.

»Was ist meinen hoch zuverehrenden Herren gefällig? Wollt Ihr mir die Ehre antun, Euch von mir rasieren zu lassen, Herr Kapitän, so habt die Gnade, Euch auf jenen Sessel niederzulassen. Ich werde gleich meine Schuldigkeit verrichten.«

»Mit Verlaub, Kapitän, ich kann Euch auf Schifferparole versichern«, sagte der Schiffschirurgus, »dass Frau Ankarfield das zarteste Messer führt, was je in eines Mannes Gesicht gekommen ist. Als Mann von Fach muss ich das verstehen. Wenn Ihr Euch ein Delicium machen wollt, so lasst Euch von ihr bedienen. Ihr werdet mir zugestehen, dass ich Euch den Bart abzunehmen weiß, als ob er erst in Mandelmilch gesotten wäre, aber Ehre, dem Ehre gebührt. Der Frau Ankarfield stehe ich mit Freuden nach und Ihr werdet mir beistimmen, dass ihr Messer den Vorrang vor dem meinen und allen Messern der Welt verdient.« Der vorhin in die Brüche geratene Chirurgus suchte durch diese Schmeichelreden sich wieder einen Stein ins Brett bei der auf ihn zürnenden Frau zu bringen, und sein pfiffiger Anschlag gelang. Sie warf ihm einen Blick der Verzeihung zu, indem sie den Kapitän auf den Stuhl schob und die zum Rasieren nötigen Utensilien zusammentrug. Norcroß war mit der ungemeinen Zierlichkeit, womit sie ihn bediente, sehr zufrieden, und lobte die Frau für ihre Leistung mit schmeichelhaften Redensarten. Frau Ankarfield geriet darüber in einen Anfall von Verzückung und bedankte sich einmal über das andere für die ihr angetane Ehre. Kaum aber hatte sie den letzten Streich am Kinn des Kapitäns getan, als sie auch schon den zunächst stehenden fremden Gast höflichst ersuchte, ihr ebenfalls die Ehre anzutun. Dieser machte nun zwar ein mürrisches Gesicht und versuchte das höfliche Anerbieten mit dem Bemerken abzulehnen, dass er am Morgen schon rasiert sei. Aber ehe er sich versah, befühlte ihm Frau Ankarfield mit ihrer weichen Hand das Kinn und versicherte, dass dasselbe wieder stachelig sei und ein nochmaliges Scheren nichts schaden könne. Es sei ihr durchaus nicht um den Verdienst, sondern allein um die Ehre, und sie würde sich die Ehre, die sie glücklich mache und gesund, so vornehme Gäste erst mit dem Schermesser, dann mit dem Tranchiermesser, erst mit dem Barbierbecken, dann mit der Bierkanne pflichtschuldigst zu bedienen, an diesem Abend nicht nehmen lassen. Die Frau redete so viel in den Gast hinein, dass er sich endlich auf den Stuhl sitzend und die Serviette vor sich hängen sah. Er mochte nun wollen oder nicht, um sich sein hageres, halb saures, halb von einer komischen Verzweiflung durchzwicktes Gesicht rasieren zu lassen, damit er die ehrbegierige Frau nur los werde. Obgleich bereits die Dämmerung gekommen war, und der kleine Kellner seiner Frau Mutter mit einem brennenden Kienspan vorleuchtete, so bediente die Witwe doch auch diesen Gast zu seiner vollkommenen Zufriedenheit, und die Reihe kam an den Dritten.

Samuel Brondlov, von einem natürlichen Instinkt aus seinem Winkel herbeigezogen, sobald er die eigentümlichen Töne vernahm, welche das Wetzen des Schermessers auf dem ledernen Streichriemen erzeugt, stand daneben und verrichtete aus Geschäftseifer und Liebe für die Sache die Funktionen des kleinen Kellners, dessen Tätigkeit durch das Leuchten bereits in Anspruch genommen war. Frau Ankarfield hätte sich in keinem Fall herabgelassen, etwas weiter zu tun wie einzuseifen und das Messer zu führen. Der kleine Engländer wusch also erst seinem Landsmann und präsumierten Schwiegersohn und dann dem Fremden das glatt geschorene Kinn. Als er beschäftigt war, dem Letzteren das Gesicht mit einer Serviette abzutrocknen, fiel ein voller Strahl des vom Kienspan ausgehenden Lichtes in das Antlitz des Mannes, und der kleine Barbier und Perückenmacher glaubte vor Staunen zu Stein werden zu müssen. Wenigstens blieb ihm das weit geöffnete Maul aufstehen, seine großen Augen glotzten gerade weg, die Hände fielen ihm schlaff am Leibe herab und nur an seinen Knien war eine schlotternde Bewegung sichtbar. Der rasierte Mann trocknete sich vollends selbst ab, warf dem perplexen Barbier die Serviette mit einem halblaut gesprochenen Fluch zu und stand auf, um den Kapitän Norcroß etwas zuzuflüstern. Samuel schlich sich mit dem an den Wänden sich hindrückenden Gang eines Katers vorsichtig hinter den Ofen und machte ein so wunderlich schlaues geheim tuendes Gesicht, dass man hätte glauben können, es sei ihm Wunder was begegnet. Der dritte Mann war auch bedient und musste sich selbst abtrocknen.

Norcroß nahm die höfliche Frau beiseite und sagte heimlich zu ihr: »Sagt mir doch, Frau Wirtin, wie befindet sich die verwundete Dame, welche bei Euch wohnt?«

»Sie leidet noch an einem heftigen Fieber.«

»Habt Ihr keinen geschickten Wundarzt holen lassen?«

»Meister Samuel Brondlov war ihr eigener Wundarzt, und seit er in Ungnade gefallen ist, habe ich sie nach seiner Angabe verbunden, und vor einer Stunde hat ihr Meister Habermann, Euer Schiffschirurgus , einen Besuch gemacht und ihr seinen ferneren Beistand zugesagt.«

»Es wäre doch nötig, dass noch ein anderer sie besichtigte und ihren Zustand prüfe, damit, wenn derselbe gefährlich sein sollte, gleich die rechten Medikamente angewendet würden. Ich habe dies vermutet, und deshalb zwei geschickte Ärzte mitgebracht, von welchen der eine sogar der Leibarzt des Königs ist.«

»Der Leibarzt des … großer Gott! Welche erstaunliche Ehre ist mir da widerfahren, den Leibarzt Seiner Majestät des Königs von Schweden zu rasieren! Sagt mir doch, Herr Kapitän, welcher von beiden ist es denn?«

»Der, welchen Ihr zuletzt bedient habt.«

»Ei, über die unschätzbare Ehre! Ihr macht mich ganz glücklich, Herr Kapitän. Aber wer ist denn der andere Herr?«

»Ein anderer Arzt«, versetzte Norcroß kurz.

»Ebenfalls viel Ehre für mich. Ei, ei, ein anderer Arzt!«

»Wollt Ihr uns hinaufführen zur Kranken?«

»Ich werde, ja. Es wird mir sehr zur Ehre gereichen. Ich weiß auch, dass Ihr der Kapitän seid, auf welchen das geschossene Fräulein so sehnlichst wartete. Glaubt nur, sie hat Euch recht lieb und oft von Euch gesprochen. Nun, so kommt!«

Frau Ankarfield leuchtete voraus und die drei rasierten Gäste folgten. Die Verwundete schlummerte eben. Die Männer entschlossen sich, ihr Erwachen abzuwarten. Da sich aber Frau Ankarfield selbst nicht wohl befand, so ging sie wieder in ihre Wirtsstube, um sich in ihren Lehnstuhl zu verfügen. Kaum war sie dort eingetreten, als sie der kleine Samuel auf den Zehen schleichend mit jenem geheimniswichtigen Gesicht antrat, sie am Rock zupfte, mit dem Finger bedeutungsvoll winkte und sie dann mit den Worten »Ich habe Euch etwas sehr Wichtiges zu sagen, ehrenwerte Frau Ankarfield« in die Ofenecke zog. Sie hielt ihr mit gespannter Aufmerksamkeit horchendes Ohr seinem Mund nahe.

Er fragte sie: »Wisst Ihr denn auch, wen zu rasieren eben Eure Hand gewürdigt worden ist?«

»Ei, ja wohl« versetzte sie schmunzelnd, »ich weiß auch die hohe Ehre zu schätzen. Der eine war der Leibarzt Seiner Majestät unseres großmächtigsten Königs!«

»Sein Leibarzt?«, fragte der Barbier schlau lachend. »Und wer war der andere?«

»Ein anderer Arzt.«

»Wer hat Euch das gesagt?«

»Der Kapitän Norcroß.«

»Er hat Euch belogen, und ich will’s Euch besser sagen. Aber das ist fürwahr ein schlechtes Schaf, das seinen Hirten nicht kennt. Ei! Ei! Frau Ebba! Ihr seid in Stockholm geboren und erzogen und kennt den großmächtigen König Karl den Zwölften von Schweden nicht? Er war es und kein anderer Mensch, den Euer Messer des Bartes entledigte, als Ihr mit dem Kapitän Norcroß fertig wart.«

»Seid Ihr toll geworden?«, kreischte die Barbierswitwe, selbst wie des Verstandes bar, fasste den kleinen Mann mit beiden Fäusten an einem Arm, drückte ihre dürren Finger tief in sein Fleisch und schüttelte ihn in einem Anfall von begeisterter Wut, dass er Zeter schrie. Dabei quollen ihre Augen gewaltig heraus und rollten wie feurige Räder im Kopf, ihre sonst stets gebückte Gestalt richtete sich kerzengerade auf und wurde um mehrere Zoll größer.

»Des Königs Majestät hab’ ich rasiert?«, schrie sie noch einmal auf. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Ihr habt recht, Samuel Brondlov! Er war’s! O Haus, mein Haus! Du bist zu klein für diese Ehre! O Ehre über Ehre! Nein, das ist der Ehre Übermaß. O Gott! Wie soll ich das ertragen? Die größte Schande und die größte Ehre in einem Tag zu erleben! Aber diese Ehre gleicht alles wieder aus. Ihr Leute, freut Euch mit mir! Ebba Ankarfield hat den mächtigen Schwedenkönig rasiert! Ich sterbe vor Wonne und Lust! Das Schermesser, womit ich ihm den königlichen Bart abgenommen habe, darf keines anderen Mannes Gesicht wieder berühren. Es muss in Gold gefasst werden. Es ist das unschätzbare Kleinod meines Hauses, das kostbare Pfand meiner unveräußerlichen Ehre. Lasst mich hinauf. Ich will dem großen Monarchen den Staub von den Füßen küssen, dass er eine Frau wie ich solcher Ehre gewürdigt hat! Nun mag mir geschehen auf Erden, was will. Diese Ehre kann mir nicht wieder genommen werden, und immer und ewig wird es heißen: Ebba Ankarfield hat der Majestät den Bart abrasiert. Heißa! Rufe mir meine Kinder zusammen, dass sie erfahren, welche Ehre ihrer Mutter widerfahren ist. Mir wird ganz schwindlig. Es dreht sich alles um mich im Kreise. Haltet mich! Ich falle!«

Aber schon lag sie ohnmächtig in den Armen der sie umstehenden Gäste. Heftige Fieberglut überblühte ihr Gesicht, die Pulse flogen. Man musste sie zu Bett bringen. Nach einiger Zeit fing sie an zu fantasieren und sprach verkehrte Dinge von der ihr widerfahrenen ungeheuren Ehre. Meister Habermann und Meister Brondlov verordneten ihr augenblicklich Mittel und übernahmen ihre Pflege selbst. Auch schickte man nach ihren Kindern, weil Habermann die Anzeichen der heranstürmenden Krankheit für bedenklich hielt.

Frau Elisabeth und ihr Töchterlein wunderten sich nicht wenig, den Kapitän Norcroß in die Wohnung ihrer Beschützerin treten zu sehen. Erst überkam sie ein Schrecken, indem sie die beiden Begleiter des Kapitäns für Militärpersonen hielten, beordert, sie wegen entdeckter Lüge ins Gefängnis zu führen. Aber sie beruhigten sich bald, als sie die friedlichen Gesinnungen der Angekommenen innewurden. Als Norcroß sich angelegentlich nach der schlafenden Herrin erkundigte, kam Frau Elisabeth gar auf den Gedanken, er habe sich eines Besseren besonnen und sei gekommen, um bei Miss Palmerston alles wieder gut zu machen.

Der König – denn er war es wirklich – hielt sich im dunklen Hintergrund des Zimmers auf, und der Leibarzt untersuchte die auf dem Tisch stehende, von Meister Habermann verordnete Medizin.

Endlich meldete Fanny das Erwachen der Miss, und der Leibarzt trat zuerst in das Nebenzimmer, um sich über den Zustand der Kranken zu unterrichten. Hierauf winkte er Norcroß, und dieser trat an das Lager.

»Ich bin gekommen, Mylady«, redete er sie an, »Ihnen den Scheidegruß Ihres Bruders zu bringen.«

»Fräulein von Gabel hat mich bereits von seiner Abreise unterrichtet«, versetzte sie.

»So wird das Fräulein Sie auch von seiner Unschuld unterrichtet und Ihnen mitgeteilt haben, wie die schauderhafte Geschichte zusammenhängt.«

»Sie hat es.«

»In dem heute gerichtlich bei Ihnen aufgenommenen Protokoll scheinen Sie Ihren Bruder stark im Verdacht der absichtlichen Mitwirkung der Mordtat zu haben. Sobald Sie Ihre Meinung geändert haben, ist es auch notwendig, dass Sie auch Ihre Aussage ändern.«

»Ich habe meine Meinung nicht geändert. Was wollen Sie von mir? Ihr Anblick ist mir unerträglich.«

»Die Sorge für Ihr Leben, aber auch für die Ehre Ihres Bruders hat mich zu Ihnen geführt. Ich bin sein Freund und auch Ihr Feind nicht.«

»Wie, Sie hassen mich nicht? Sie sind nicht gekommen, mich zu quälen?«

»Keineswegs. Was zwischen uns vorgefallen, ist auf ewig vergessen.«

Auf dem Gesicht der Lady spiegelte sich der Kampf ihrer Seele ab.

»Des Königs Majestät«, fuhr Norcroß fort, »hatte heute befohlen, dass Sie mit Ihrer Dienerschaft binnen vierundzwanzig Stunden Stockholm und das Reich meiden sollten. Ich bringe Ihnen den Widerruf dieses Befehls, und der König hat die hohe Gnade, Ihnen durch mich seinen Leibarzt zuzuschicken. Wollen Sie die Hilfe desselben annehmen?«

»Alles«, versetzte sie mit zitternder Stimme.

»Zur Ehrenrettung Ihres Bruders gehört, dass Sie den im Protokoll ausgesprochenen Verdacht zurücknehmen. Wollen Sie das?«

»Alles, was Sie wünschen.«

»Das Protokoll über Ihren Bruder muss überhaupt durch Sie vervollständigt werden. Der andere Herr, der mit mir gekommen, ist der Sekretär eines Reichsrats. Beantworten Sie ihm gefälligst, was er Sie fragen wird.«

»Alles, was ich weiß.«

»Wie ist der vollständige Name Ihres Bruders?«, fragte der König.

»John Anthony James Palmerston.«

»Wo wurde er geboren und wann?«

»Auf unserem Stammsitz am nördlichen Ufer des Binandermeeres. Das Jahr seiner Geburt ist dasselbe des Prätendenten. Ich bin mehrere Jahre jünger.«

»Sind Ihnen keine besonderen Umstände seiner Geburt bekannt?«

»Dass ich nicht wüsste. Ich bin zu jung, um über dergleichen unterrichtet zu sein. Doch entsinne ich mich, dass meine ältere Schwester einst sagte: Wenn noch ein jüngerer Bruder da wäre, so würde es dem älteren schwer werden, seine Rechtmäßigkeit zu beweisen.«

»Dies scheint auf einen Verdacht zu deuten, als sei er nicht der Sohn Ihres Vaters.«

»Fast. Doch erzählte mir einst seine alte Wärterin, er sei viel zu frühzeitig zur Welt gekommen und deshalb so schwächlich gewesen, dass man ihn stets habe in warme Milch stecken müssen, und es sei ein wahres Wunder, dass er mit dem Leben davongekommen ist.«

Der König nickte beifällig vor sich hi, und tat dann noch einige Fragen, die mit Genauigkeit und Aufrichtigkeit beantwortet wurden, während der Leibmedikus die nötigen Medikamente verschrieb und sich zur Anlegung eines neuen Verbandes anschickte. Hierauf entfernten sich alle drei wieder.

»Es ist notwendig, Kapitän«, sagte der König unterwegs zu Norcroß, »dass Ihr über Euren Plan ausführlich mit dem Baron Görz redet und ihm den jungen Lord Palmerston vorstellt. Da nun nicht zu erwarten steht, dass der Baron bald aus Holland zurückkehrt – denn die hochmögenden Herren machen ihm viel zu schaffen – so müsst Ihr zu ihm reisen. Auch ist es mir lieber, wenn die Sache außer Land betrieben wird, und Holland schickt sich besser zur Ausführung solcher Pläne wie Schweden. Deshalb macht Euch bald zur Abreise fertig. Für das Fräulein von Gabel sorgt der Graf Mörner.«

»Ich bin zu jeder Zeit zu Ew. Majestät Befehl bereit«, versetzte der Kapitän.

»So geht zu Euerer Braut. Da die Freude ohnedies nicht lange dauert, so muss man Euch die paar Stunden gönnen. Was mich betrifft, so glaube ich noch keinen Tag erlebt zu haben, wo ich so viel mit Weibern zu schaffen gehabt hätte, wie heute, und ich bin so satt Weiber, dass ich … gute Nacht!«

Der König ging, und Norcroß kehrte zur Barbierstube der Frau Ankarfield zurück, um den kleinen Juel aufzusuchen, der ihm einige Geschenke zum Fräulein Broke tragen sollte. Denn mit leeren Händen wollte er bei ihr nicht eintreten, nachdem er wieder zu Gnaden angenommen worden war.

In dem Wirtshaus war aber alles in großer Verwirrung, denn Frau Ankarfield rang mit dem Tod. Ihre Kinder, soviel deren aufzutreiben gewesen war, standen um das Bett herum und betrübten sich weniger um den Tod ihrer Mutter, als sie sich über die derselben widerfahrene Ehre freuten. Die Sterbende selbst ging gern hinüber. Ihre schwachen Worte waren: »Herr, nun lässt du deine Dienerin in Frieden fahren, denn meine Hände haben deinen gesalbten König rasiert.«

Als sie nach einigen Stunden verschied, waren im letzten Hauch ihres Mundes noch die Worte enthalten: »L’bonneur pour moi!«

Meister Habermann stand tiefsinnig an ihrem Bett und sagte endlich: »Wer hätte das gedacht, als wir gestern auf Stockholm zusteuerten, dass wir meiner alten Freundin den Tod brächten! Aber, mit Verlaub, zu sagen, sie ist an einer Krankheit gestorben, die mir noch nicht vorgekommen ist.«

»Und welches wäre die?«, fragten mehrere Stimmen.

»Honor morbus1«, versetzte der Schiffschirurgus. »Sagt selbst, ist sie nicht an der Ehre des königlichen Bartes gestorben?«

»Wohl ihr!«, sagte der Schneider, ihr ältester Sohn mit Pathos und breitete seine dürren langen Finger segnend über ihre Leiche aus. »Wohl allen, die an solcher Krankheit sterben! Ihr Freunde und Nachbarn, was steht ihr mit tränenumflorten Blicken herstarrend auf dies Häuflein Staub? Ihr besseres Selbst schwebt schon in den höheren Regionen, und auf Erden lässt sie ihre Ehre Eurem Gedächtnis zurück.«

»Ei, wie ergötzlich doch der Schneider spricht!«, entgegnete die Trödelfrau weinend. »Es ist wie gedruckt. Der Schneider hat doch seine besondere Ambition.«

»Lasst uns über ihrer Leiche schwören, auf Ehre zu halten, wie sie getan«, rief der Schneider, durch den Beifall seiner Schwester in eine Rabies versetzt, und streckte seine Hände aus. Sie schwuren.

»Der Galgenstrick!«, flüsterte hinten ein Matrose dem anderen zu. »Sein Söhnlein dort trägt eine Jacke von meiner Hose, die er mir zu eng gemacht hatte.«

»Das ist weiter kein Schade«, meinte der andere. »Aber schade ist es um die Alte, denn an wen sollen wir uns wenden, um einmal eine Nacht bei einer gefälligen Dirne zuzubringen? Solche Geschäfte verstand doch niemand bester als Frau Ankarfield. Da blieb alles geheim, denn sie salvierte ihre Ehre.«

»Requiescat in pace!2 Mit Verlaub zu sagen«, sprach Meister Habermann und verließ das Trauerhaus. Ihm folgten die anderen Gäste. Norcroß ging mit Juel zu seiner Braut.

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  1. Die Ehrenkrankheit
  2. Sie möge in Frieden ruhen!