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Die Totenhand – Teil 7

Die-TotenhandDumas-Le Prince
Die Totenhand
Fortsetzung von Der Graf von Monte Christo von Alexander Dumas
Erster Band
Kapitel 7 – Das Guckloch in dem Vorhang

Während dies in der kleinen Loge des Portiers vorging, bereiteten sich die beiden Freundinnen Armilly auf ihr Debüt vor, indem sie Arm in Arm auf der Bühne umhergingen.

»Ich glaube, das Haus ist überfüllt«, flüsterte Luise, »und bald, ach nur zu bald, wird der Vorhang in die Höhe gehen – dann werden wir uns der Menge gegenüber erblicken, als Zielpunkt für die Augen aller!«

»Du hast recht, Luise. Ich empfinde daher auch gleich dir ein gewisses Beben. Mich friert, besonders in diesem Augenblick. Gleichwohl habe ich die feste Überzeugung, dass der Mut mir nicht mangeln wird, denn ich will mich so vom Geist meiner Rolle durchdringen lassen, dass ich alles vergesse, was nicht Semiramis ist. Das wird mir um so leichter, da Arsaces niemand anderes ist, als meine Luise. Du wirst meine Freundin sein, mein Schutzengel. Wir werden uns gegenseitig unterstützen und halten. Aber sag mir jetzt, da ich gerade daran denke, was hältst du von einem Fall, der sich mehrmals wiederholt hat? Den ersten Abend, als wir zur Probe hierher kamen, hast du da nicht einen Mann bemerkt, der die Türen unserer Loge öffnete, und als er uns kaum bemerkt hatte, entfloh, indem er einen Schrei ausstieß?«

»Allerdings. Mir fällt da ein …«

»Dieser Mann war der Portier. Am zweiten Abend, während ich in meiner Loge saß, hörte ich zufällig ein Gespräch, das mir sehr interessant erschien. Es enthielt ungefähr Folgendes: ›Wenn Fräulein Eugenie ihre Loge verlässt, vergessen Sie nicht, ihr den Schlüssel abzufordern, falls sie verabsäumen sollte, Ihnen denselben zu übergeben.‹

›Das werde ich nicht tun.‹

›Weshalb nicht?‹

›Weil ich dazu meine Gründe habe!‹

›Sie haben aber doch die Aufsicht über die Schlüssel und würden daher durch das Versäumnis Ihre Pflicht verletzen.‹

›Ich werde alle Schlüssel abfordern, die Sie verlangen, nur den nicht.‹

›Ah, Sie wollen also nicht mit Fräulein Eugenie d’Armilly sprechen?‹

›Entschuldigen Sie mich. Aber sehen Sie – Fräulein Eugenie hat mich in Paris in einer ungleich besseren Stellung gekannt, als die ist, welche ich in Rom einnehme, und es wäre mir nicht lieb, wenn Fräulein Eugenie erführe …‹

»Hier endete das Gespräch«, fuhr Eugenie fort, »und seitdem habe ich nie verfehlt, den Schlüssel bei dem Portier abzugeben. Allein wenn ich ihn auf den Tisch lege, höre ich sogleich ein Geräusch, ein wahres Getöse, wie wenn jemand schnell entflieht und sich verbirgt.«

»Aber wie heißt er denn?«, fragte Luise.

»O, sein Name ist sehr einfach – Josef. Es wäre indes möglich, dass er auch noch einen andern Namen hätte.«

»Sollte es nicht zufällig der unglückliche Prinz Cavalcanti sein, der auf dem Punkt stand, dein Gatte zu werden, wenn man ihn nicht plötzlich als Betrüger entlarvt hätte?«, fragte Luise.

»Welch ein Gedanke! Der ist ja längst wegen Mordes guillotiniert. Übrigens ist mir der Mensch, der sich so sorgfältig vor mir verbirgt, viel älter vorgekommen, als ich ihn das erste Mal sah. Er ist nicht so groß und viel dicker …«

»Ich glaube, wir müssen auf unserer Hut sein, Eugenie. Es ist vielleicht irgendein Spion, den deine Familie geschickt hat!«

»O, das glaube ich nicht. Aber sieh nur, Luise, mir scheint, als kenne ich jene Dame, die gerade in die Loge Nummer 4 des ersten Ranges tritt!«, sagte Eugenie, welche einen Blick durch das Guckloch in dem Vorhang geworfen hatte.

»Ha!«, rief Luise, indem auch sie zu der bezeichneten Loge blickte.

»Was ist dir?«, fragte Eugenie.

»Diese Dame«, fuhr Luise fort – und sie war ganz blass geworden, indem sie dies sagte – »diese Dame ist … ja, es ist … o mein Gott, vielleicht täusche ich mich doch! … Gib mir deine Lorgnette, Eugenie.«

Eugenie zog aus ihrer Tasche ein Etui mit einem eleganten Operngucker und überreichte diesen ihrer Freundin. Luise ergriff ihn und richtete ihn hastig auf die Loge Nummer 4.

»Eugenie«, sagte sie dann, »wenn du wahrhaft eine unerschütterliche Seelenkraft besitzest, so bietet sich dir jetzt die Gelegenheit, sie auf unbestreitbare Weise darzutun. Sieh selbst hin!«

Eugenie tat es und taumelte wie von einem Blitzstrahl getroffen, indem sie murmelte: »Meine Mutter!«

In der Tat hatte Eugenie, als sie zuerst ihren Blick flüchtig auf die Loge richtete, das Gesicht der Frau von Danglars nicht erkennen können, weil diese mit jemand zu sprechen schien, der hinter ihr stand. Dieser verließ indes die Loge, Frau von Danglars drehte sich um und wendete ihr Gesicht der Bühne in eben dem Augenblick zu, in dem Luise den Operngucker auf sie richtete.

Die Pfeife des Regisseurs ertönte in der Kulisse, um die Schauspieler zu ermahnen, sich bereitzuhalten.

»Hörst du, Luise?«, sagte Eugenie. »Lass uns nach unserer Garderobe eilen, und wenn auf meinen Schultern der Mantel der Königin der Assyrier ruht, dann stehe ich dir dafür, dass hier weder in die Logen noch im Parterre irgendjemand den geringsten Einfluss auf mich ausüben soll.«

Wenn in diesem Augenblick der Vorhang plötzlich aufgegangen wäre, so würde das Publikum unbedingt mit rasendem Enthusiasmus applaudiert haben. Aber der Augenblick dazu war noch nicht gekommen, und das Publikum, welches vielleicht die Anwesenheit des sich enthüllenden Genius ahnte, ließ jenes verworrene und feierliche Gemurmel ertönen, welches stets die Erwartung eines großen Ereignisses begleitet, das nahe bevorsteht und welches alle Geister in der Spannung von tausend verschiedenen Gefühlen erhält, die kein menschliches Wort zu beschreiben vermöchte. Dies Gemurmel, ähnlich dem der Wogen des Ozeans, erstarb zu den Füßen der beiden Freundinnen, als wollte es ihnen die Nähe ihres Triumphes oder ihres Unterganges verkünden.

Eugenie ergriff die zitternde Hand Luises und zog sie hastig fort zu ihrer Garderobe, deren Tür sich hinter ihnen schloss.

»Nun, Luise«, sagte sie, indem sie ihr das Kleid aufnestelte, »jetzt darfst du nicht mehr zittern. Erinnere dich nur daran, dass von diesem Abend das Glück und die Zukunft unserer ganzen Laufbahn abhängen.«

Eugenie gab mit so viel Natürlichkeit und so viel kaltem Blut das Beispiel des Mutes, dass auch Luise ihre Geistesgegenwart etwas wiedergewann. Überdies fanden sie einen Grund der Ermutigung und der Zuversicht in den italienischen Sitten, welche die dramatische Laufbahn keineswegs verdammen und nicht, wie beinahe in dem ganzen übrigen Europa, mit einer Art von gesellschaftlichem Anathema alles belegen, was nur entfernt mit dem Theater im Zusammenhang steht. Sie kannte die dünkelvolle Eitelkeit der Baronin Danglars, einer Dame von der höchsten Abstammung, verwandt mit den berühmtesten Namen, und verhehlte sich nicht, wie unangenehm derselben die Erscheinung Eugenies auf der Bühne, unter der Gestalt der Semiramis, sein würde. Sie konnte sich daher auch nicht verwehren, zu erblassen, indem sie an die Flüche dachte, welche die Baronin gewiss ihr zusandte, der sie ohne Zweifel den Entschluss ihrer Tochter zuschrieb, da sie in dem Herzen derselben die Flamme entzündet hatte, von der sie verzehrt wurde, und durch die sie sich bestimmen ließ, dem väterlichen Dach zu entfliehen, um alle Zufälle einer Existenz aufzusuchen, die zwar zuweilen glänzend, viel häufiger aber so abenteuerlich ist.

Obgleich in Italien die Bühnenlaufbahn hoch in Ehren steht, sodass man dem Genie, welches die Bühne verherrlicht, sogar eine Art von Kultus widmet, verzieh die Baronin Danglars, der Sprössling der Servières, gewiss nie, dass Luise zu deren Tochter gesagt hatte: »Eugenie, du verabscheust das Pariser Leben. Du liebst die Unabhängigkeit. Du betest die Musik an. Lass uns fort von hier und Sängerinnen werden!«

Indes jetzt gab es kein Zurück mehr.

Eugenie und Luise umschlossen sich innig, als wollten sie sich schon jetzt so zeigen, wie sie auf der Bühne erscheinen sollten, und in eben dem Augenblick ertönte abermals die Pfeife des Regisseurs, durch das zweite Signal die Künstler in die Kulissen rufend.

Einige Augenblicke später ging der Vorhang in die Höhe. Eugenie trat mit dem ganzen Übermut, mit der ganzen Hoheit auf, welche die königliche Bacchantin charakterisierte, die sie darzustellen hatte. Ihre helle, kräftige, volle Stimme fesselte gleich bei den ersten Klängen die Aufmerksamkeit der Musikfreunde, und mit dem Ende ihrer ersten großen Arie begann ihr Triumph.

Indes herrschte in der Loge Nr. 4 eine unbeschreibliche Unruhe. Ein Opernglas war beständig auf das Gesicht Eugenies gerichtet, und die Hand, welche das Glas in der Höhe der Augen hielt, schien von Minute zu Minute stärker zu zittern, bis die Bewegung zuletzt beinahe krampfhaft wurde. Frau von Danglars trocknete unablässig ihr bleiches Gesicht mit ihrem feinen Batisttaschentuch. Bald zog sie sich mit einer heftigen Bewegung in das Innere ihrer Loge zurück, bald beugte sie sich, wie durch einen unsichtbaren Antrieb gezwungen, vornüber, das Gehör spannend, den Blick fest auf das edle, majestätische Gesicht und die elegante Erscheinung der neuen Semiramis gerichtet. Als dann der Tempel des Belus verödet stand und der tapfere Scythe erschien, zitterte der Arm der Frau von Danglars noch heftiger, denn sie hatte mit der vollkommensten Gewissheit erkannt, dass das leidenschaftliche und melancholische Gesicht des Arsaces kein anderes war, als das der Lehrerin ihrer Tochter Eugenie. Sie durfte nicht mehr daran zweifeln. Die edle Baronin sah sich gezwungen, in der Person der Semiramis ihre Tochter zu erkennen, und ihre Pein oder vielmehr ihr Märtyrertum dauerte ebenso lange wie die Vorstellung. Die Wangen bedeckt mit dem Feuer des Unwillens, das sie verzehrte, empfand sie bald eine jener nervösen Krisen, welche beinahe immer durch eine große moralische Niederlage bewirkt werden. Der Gedanke stieg in ihr auf, dass sie zu dem Gipfel der Erniedrigung weiter nichts mehr bedürfte, als an eben diesem Abend ihren Gatten zu erblicken, wie er irgendeinen schwierigen Pas in dem Ballett ausführte. Zwanzigmal dachte sie daran, sich zu entfernen, aber eine unwiderstehliche Gewalt schien sie auf ihren Sitz gefesselt zu haben, und keuchend blieb sie unter dem Einfluss einer verhängnisvollen und grausamen Neugier bis zum Ende der Oper.

Endlich senkte sich der Dolch des Arsaces in den bebenden Busen der lüsternen Semiramis, welche sterbend zu den Füßen ihres Sohnes niedersank. Da stieß die Baronin einen leisen Schrei aus, und um ihr Märtyrertum zu vollenden, fehlte ihr in der Tat nichts mehr, als ihre Tochter mit dem Gesicht gegen den Boden gekehrt vor einem ganzen Volk niederstürzen zu sehen. Doch das Bravo, der Beifallsjubel dieses Volkes erstickten den Schrei der Baronin, welche hastig ihre Loge verließ, gedemütigt, das Herz von Wut erfüllt, rasend gegen sich selbst, so von der Charybdis in die Scylla gefallen zu sein.

»Ha!«, murmelte sie, indem sie in ihren Wagen stieg, »ein Dämon muss es geschworen haben, mich überall zu demütigen und herabzuwürdigen. In Paris war ich die Mutter eines elenden Banditen, den die Strenge der Gesetze verfolgte. In Rom sehe ich meine Tochter, in deren Adern das Blut der Servières fließt, erkauft durch eine Handvoll schmutzigen Goldes, der Menge des Theaters zur Unterhaltung dienen! Wer weiß, ob ich nicht in irgendeiner anderen Stadt meinen Gatten auf dem Wagen irgendeines reich gewordenen Tölpels hinten aufstehen sehe?«

Tränen benetzten die aristokratischen Wangen der edlen Dame, die so stolz und so hochmütig war.

Die beiden Freundinnen erregten einen Enthusiasmus, der an das Delirium streifte, und empfingen an dem Tag nach der Vorstellung aus den Händen des Impresario zwei prachtvolle silberne Becher von ausgezeichneter Arbeit und dem feinsten Geschmack.