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Die Erweckung

Die Erweckung

Hastige Schritte, unterbrochen von keuchenden Geräuschen. Knackende Äste, kurz darauf ein Aufprall und ein erstickter Schrei. Leise geflüstert ein paar tröstende Worte, das Rascheln von Kleidung und wieder hastige Schritte.

Schließlich verloren sich die Geräusche im Wald.

 

***

 

In der Nähe blitzte für einen kurzen Moment ein silbernes Horn im Mondlicht auf.

 

***

 

Erschöpft ließ sich Elessa auf die von Herbstlaub und Nadeln bedeckte Erde fallen. Zitternd zog sie ihren Umhang fester um sich und ihr Kind, das sich an sie gekuschelt hatte und fest schlief. Liebevoll betrachtete sie das kleine, runde Köpfchen, auf dem roter Haarflaum nach allen Richtungen abstand.

»Genau wie sein Vater«, dachte Elessa traurig. »Genau dieselben roten, widerspenstigen Haare!«

Wie gerne würde sie ihm diese Haare aus dem Gesicht streichen. Wie gerne hätte sie ihn jetzt in ihrer Nähe!

Aber er war nicht da.

Verbrannt in einem Feuer, das genauso rot gelodert hatte wie seine Haare.

Verbrannt als Hexer.

Elessa merkte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Schnell wischte sie sie weg und verschloss die Erinnerung tief in ihrem Herzen. Jetzt galt es, nach vorne zu sehen und sich und ihr Kind zu retten. Denn ihr Dorf würde das Kind eines Hexers nicht dulden.

Schon gar nicht, wenn es unehelich auf die Welt gekommen war.

»Satansbrut!«, würden sie rufen und es über die Klippen werfen.

Und seine Mutter gleich mit ihm.

Beschützend drückte die junge Frau ihr Kind enger an sich und erinnerte sich an die Tage nach der Verbrennung.

Eine Woche nach dem Tod ihres Geliebten bemerkte sie, dass sie schwanger war. Für Elessa brach eine Welt zusammen, denn sie wusste genau, was mit ihr und dem Kind passieren würde, würde jemand von der Schwangerschaft erfahren. Im vollen Bewusstsein der Konsequenzen für ihren Körper war ihr erster Gedanke, das Kind in ihrem Leib zu töten. Aber als sie die Stricknadel in der Hand hatte und bereit war zuzustechen, zitterte sie plötzlich so sehr, dass sie die Nadel nicht mehr halten konnte und sie klirrend auf den Boden fiel. Da wusste Elessa, dass sie das Kind behalten wollte – koste es, was es wolle.

Die Schwangerschaft verlief zum Glück ohne die typischen Symptome wie Erbrechen oder Schlimmeres. Auch ihr Bauch wölbte sich nur leicht, ohne wirklich dick zu werden, sodass sie ihn gut verbergen konnte. Als sie merkte, dass die Geburt näher rückte, packte sie heimlich ihre wenigen Habseligkeiten in einen kleinen Beutel und nahm Brot und etwas Käse als Wegzehrung mit. Dann machte sie sich auf den Weg. Wohin dieser Weg letztendlich führen sollte, wusste sie nicht, nur, dass sie ab jetzt ein Leben führen musste, das ihr den Umgang mit anderen Menschen verwehrte. Nur so sah Elessa eine Chance, dass sie und ihr Kind überleben konnten.

Den Wald, den sie vor ein paar Tagen betreten und dort das Kind zur Welt gebracht hatte, schien der perfekte Ort für sie zu sein. Groß, beinahe undurchdringlich und unheimlich durch die Nebel, die plötzlich kamen und genauso plötzlich wieder verschwanden, war er ein ideales Versteck, auch wenn der jungen Frau Schauder über den Rücken liefen, sobald ein neuer Nebel sich auf sie senkte. Aber dieser Nebel hielt den Boden feucht, sodass mehr Pflanzen wachsen konnten, als sie es von einem Wald gewohnt war. Das bedeutete für sie mehr Nahrung und mehr Kräuter, die sie als Arznei benutzen konnte. Wie gut, dass sie von ihrem rothaarigen Geliebten so viel über Heilkräuter gelernt hatte. Dieses Wissen würde ihr jetzt nützlich sein.

Elessa schaute in ihren Wasserbeutel und stellte fest, dass er nur noch ein paar Tropfen enthielt. Sie musste ihren Vorrat wieder auffüllen. Also hob sie das Kind sanft hoch, schnürte es vorsichtig mit einem Tuch auf ihrem Rücken fest und machte sich auf die Suche nach einem Wasserrinnsal. Ein Rinnsal würde zu einem größeren werden, das, wenn sie Glück hatte, sich zu einem Bach verbreiterte.

Sie musste nicht lange suchen, bis sie das Rauschen und Gluckern eines kleinen Baches hören konnte. Elessa löste den Wasserbeutel von ihrer Hüfte und ging auf den Bach zu.

Und blieb abrupt stehen.

Am Bach stand ein Einhorn.

Anmutig drehte es den Kopf und schaute Elessa direkt in die Augen.

Geschockt fiel die junge Frau in Ohnmacht.

 

***

 

Durch blutige Nebel hindurch sah Elessa das Einhorn über sich, den Blick fest auf sie gerichtet. Wie tiefe schwarze Seen, in denen man ertrinken konnte, wenn man nicht aufpasste, wirkten die onyxfarbenen Augen des Wesens, hypnotisch, einsaugend. Nur mit Mühe gelang es Elessa, sich diesem Blick zu entziehen.

Und erschrak zutiefst.

Reißzähne!

Das Einhorn hatte Reißzähne!

Scharf und spitz wie Dolche ragten sie bedrohlich über ihr auf und troffen vor Blut.

Ihrem Blut, wie sie erschrocken feststellte, als sie sich an den Hals griff und zwei tiefe Wunden ertastete.

Wieder glitt Elessa in tiefe Dunkelheit hinab.

 

***

 

Als sie von Neuem erwachte, sah sie eine goldene Sonne, deren Strahlen sich ihren Weg durch die Baumkronen brachen und kleine verspielte Lichter über den Waldboden tanzen ließen. Die Wärme der Sonne und die Sorglosigkeit der Lichter taten ihr gut und minderten das beunruhigende Gefühl, das sie in einer versteckten Schublade ihres Geistes immer noch verspürte.

Elessa versuchte sich aufzusetzen, um sich ein Bild von ihrer Umgebung zu machen. Sofort wurde ihr schwindlig. Ruhig blieb sie sitzen und wartete, bis sie wieder klar sehen konnte.

Das Einhorn stand einige Schritte von ihr entfernt am Bach und trank.

Ein kleines, feuerrotes Einhorn, das ihr seltsam bekannt vorkam, sprang um seine Beine herum und jagte dann einem Vogel hinterher, der sich gerade auf dem Boden Zweige für sein Nest gesucht hatte und erschrocken aufflog, als das Füllen ihn entdeckte.

Ein Bild des Friedens, auch wenn die Einhörner nicht so recht in dieses Bild passen wollten.

Das große Einhorn hatte bemerkt, dass Elessa aufgewacht war, und kam langsam auf sie zu.

Keine Fänge.

Kein Blut.

Elessa musste geträumt haben. Vielleicht träumte sie immer noch, denn wer hatte schon davon gehört, dass es Einhörner gab – oder gar solche, die Blut saugten?

Aber diese Szene war so friedlich. Wenn es denn ein Traum war, konnte er ruhig noch ein wenig andauern.

Auch das Füllen drehte sich jetzt zu ihr um und sprang voller Begeisterung auf sie zu. Wieder bemerkte Elessa, dass ihr das junge Einhorn vertraut vorkam, so, als würde sie es gut kennen. Auch sein Duft war ihr vertraut, als es sie anstupste. Sie bemerkte, dass sein rotes Fell nach allen Seiten abstand. Inzwischen hatte das große Einhorn sie erreicht, und wieder sah sie in diese unglaublichen Augen.

Aber in den Augen spiegelte sich nicht Elessa wider.

Nicht die Elessa, die sie kannte.

Was sie sah, waren große, jadegrüne Augen, ein mit struppigem braunem Fell bewachsenes Gesicht, weiche Nüstern und ein goldglänzendes Horn.

»Endlich bist du erwacht!«, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. »Komm mit mir, denn jetzt gehörst du zu mir!«

Erwacht? Wieso erwacht?

Verwirrt zögerte Elessa.

Sie bemerkte, dass ihr Hals noch immer schmerzte. Und als sie an sich hinunter blickte, sah sie Beine, die wie Pferdebeine aussahen und in Hufe mündeten. Merkwürdigerweise fühlte sie sich trotzdem gut, so, als hätte sie endlich zu sich selbst gefunden.

Flüchtig dachte sie an ihre alte Welt. Aber was gab ihr diese Welt noch? Dort hatte sie alles verloren und nichts mehr zu gewinnen. Hier dagegen konnte sie alles gewinnen, wenn sie es nur wagte.

Entschlossen setzte sie einen Huf vor den anderen und folgte dem großen Einhorn, das geduldig auf sie wartete.

Das Füllen sprang hinter ihnen drein, als sie im Nebel verschwanden.

(ud)