Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge
»Als ständiger Beobachter Ihres interessanten Lebensweges, Ihres unaufhörlichen Voranschreitens in wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht kommt man nicht umhin, sich Gedanken zu machen, welche Kraft einem Mann wie Ihnen […] die Lebensenergie verleiht. Ich möchte in meiner nicht allzu langen Rede versuchen, mögliche Antworten auf diese Frage zu finden, die einerseits vermutlich in familiären Wurzeln, andererseits in ungewöhnlichen, oft tragisch zu nennenden Ereignissen im Leben der genannten Personen zu finden sind.«
(Holmes Rede zu Moriartys Geburtstagsfeier)
1894 tritt Sherlock Holmes nach seinem vermeintlichen Tod an den Schweizer Reichenbachfällen wieder ins Licht der Öffentlichkeit. Sein akribisches Studium der Meldungen in der Times bringt ihn zu der Überzeugung, dass auch sein Erzfeind James Moriarty dort nicht sein Ende gefunden hat und dass der »Napoleon des Verbrechens« wieder in London aktiv ist.
Doch warum plant der Meisterverbrecher ausgerechnet den Rufmord an dem harmlosen – wenn auch wenig gesellschaftskonformen – Poeten Oscar Wilde. Enthält dessen Verwechslungsspiel »Ernst sein ist alles« etwa versteckte Hinweise auf Moriartys Herkunft? Und wie gelangt dann ausgerechnet Wilde an dieses Wissen?
»Als er das Manuskript beiseitelegte, dachte er nach, welcher Hinweis darin verborgen sein könnte. Die Reaktion Moriartys ließ auf eine geheime Botschaft schließen. Der Professor hätte Wilde töten lassen können. In diesem Fall wären dessen Stücke weiterhin aufgeführt worden. Nur der öffentliche Skandal, der Sturz des Schriftstellers, gewährleistet dessen Verstummen.«
Im Comicbereich ist es schon lange üblich, dass Figuren, die zunächst als Nebenfiguren oder eindimensionale Bösewichte eingesetzt wurden, eigene Herkunftsgeschichten erhalten. Diese ermöglichen es auch aus den Gegenspielern der Helden vollwertige Figuren zu machen, die durchaus nachvollziehbare Motivationen für ihre Taten haben. Mit Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge liegt nun tatsächlich so etwas wie eine Moriarty-Origin-Geschichte vor, nahtlos eingebettet in Holmes Ermittlungen in Sachen »Rufmord an Oscar Wilde«, die zwar die Story ins Rollen bringen aber schnell zweitrangig werden.
Für seine Herkunftsgeschichte benutzt J. J. Preyer sowohl die bisher bekannten »Fakten« zur Figur Moriarty – wie z.B. die »Tatsache«, dass dieser ein brillanter Mathematiker ist als auch neu erfundene, mit denen er dem Napoleon des Verbrechens sogar leicht mystische Züge verleiht.
Bereits mit Sherlock Holmes und die Freimaurer, Sherlock Holmes und die Shakespeare-Verschwörung und Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic (alle BLITZ-Verlag) hat sich J. J. Preyer als verlässlicher Autor im Dienste des Meisterdetektivs Sherlock Holmes erwiesen. Auch die »Moriarty-Lüge« kommt mit einem gewohnt unaufgeregten aber nicht minder fesselnden Handlungsverlauf daher. Darüber hinaus gelingt es Preyer hier Sherlock Holmes und besonders dessen Gegenspieler Moriarty neue Charakterfacetten auf den Leib zu schreiben, ohne die Figuren zu demontieren. Lediglich der hastige Showdown trübt empfindlich die ansonsten exzellente Geschichte.
J. J. Preyer ist ein Profi, der bereits zahlreiche Kriminalromane (auch mit Mystery-Einschlag) verfasst hat und aktuell regelmäßig für Jerry Cotton schreibt. Für den BLITZ-Verlag hat Preyer neben den Sherlock Holmes-Büchern auch Beiträge für Larry Brent – Die neuen Fälle verfasst. Außerdem bestreitet er ebenfalls im BLITZ-Verlag die Der Butler-Reihe.
Für das großartige Covermotiv ist wieder einmal Mark Freier verantwortlich, ebenso für Umschlaggestaltung und den ansehnlichen Satz. Das Taschenbuch ist außerdem sehr gut verarbeitet und sieht auch nach dem Lesen noch aus wie neu.
Fazit:
Die Herkunftsgeschichte von Professor James Moriarty, der hier aus dem Schatten von Sherlock Holmes heraustritt. Lediglich der eilige Ausgang schwächt diesen ansonsten großartigen Roman.
Copyright © 2012 by Elmar Huber