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Die Gespenster – Erster Teil – Dreiunddreißigste Erzählung

Die-GespensterDie Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Erster Teil

Dreiunddreißigste Erzählung

Von einem Gespenst, welches nach dreizehnjähriger Vermauerung noch singend spukte

Am 4. Juli 1642 wurde Olmütz, unter dem Kommando des Generalmajors von Winter, mit schwedischen Truppen besetzt. Schon waren einige Tage seit dieser Einnahme verstrichen, als sich das Gerücht verbreitete, dass sich auf dem Hauptwall unweit der Bastion am Wiener Tor, dicht an der ganz massiven Mauer eine menschliche Stimme singend hören lasse. Es konnte nicht fehlen, diese spukhafte Erscheinung in einer Gegend, wo dergleichen schlechterdings unmöglich zu sein schien, musste damals doppeltes Aufsehen erregen und bange machen.

Der General, selbst ein guter Soldat, aber kein sonderlicher Philosoph, hörte im Beisein seines Feldpredigers diesen dumpfen Gesang. Beide waren der Meinung, dass diese unbegreifliche Erscheinung eine Untersuchung verdiene. Es musste daher sogleich ein Maurermeister aus der Stadt kommen und in Gegenwart jener Herren an dem Ort, wo der Klagegesang gehört wurde, ein Loch in die Mauer brechen. Dieser Mann, welcher katholischer Religion war und wahrscheinlich seine Mutmaßungen über den Zusammenhang dieser Sache haben mochte, arbeitete zwar tief in die Mauer hinein. Allein man fand da nichts, was einiges Licht über das dunkle Rätsel hätte verbreiten können.

Indessen entdeckte man bald darauf beim Nachspüren des Schalles innerhalb des oberen Teils der Mauer eine ganz kleine Öffnung. Daraufhin wurden Maurergesellen von den evangelischen Glaubensgenossen der Stadt beordert, welche eben diese Mauer, zweckmäßiger etwas höher hinauf, durchbrachen. Man wunderte sich, das Mauerwerk stellenweise noch ganz frisch vorzufinden. Kaum war eine Öffnung von wenigen Mauerziegeln vorhanden, als sie durch dieselbe mit Entsetzen ein Gespenst in sitzender Gestalt wahrzunehmen glaubten. Mehrere von den Anwesenden prüften, halb ungläubig, die vorgegebene Erscheinung mit eigenen Augen und erblickten das nämliche Gespenst, das einem schon halb in Verwesung übergegangenen alten Mann mit langem Bart und eisgrauem Kopf glich. Keiner von allen wollte anfangs seinen Augen trauen. Viele, deren Sache es nicht sein mochte, es so unberufen mit einem Gespenst aufzunehmen, schlichen schüchtern und bange davon. Selbst der General verlor auf einige Augenblicke seine Fassung. Im ersten Schreck verlangte er, dass der Feldprediger den Geist beschwören sollte. Dieser hingegen bat, ihm zu erlauben, dass er die Sache ohne Beschwörungsformel aufklären dürfe. Am Ende ließ er die Öffnung in der Mauer vergrößern. Kaum war dies geschehen, so berührte er die dem Anschein nach leblose Gestalt und überzeugte sich dadurch, dass er es wenigstens mit keinem spukhaften, nicht berührbaren Wesen zu tun habe.

Sogleich verschwand auch bei den Übrigen die Furcht vor einem Gespenst. Einige Personen stiegen nun wirklich in die Öffnung hinein. Man entdeckte zur großen Freude aller noch einige Spuren von vorhandener Lebenskraft in dem vermeintlichen Gespenst, welches nicht mehr und nicht weniger als ein ehrwürdiger Greis war, der beim plötzlichen Eindringen der frischen Luft in sein dumpfes Gewölbe und vielleicht auch vor Freude über den Augenblick seiner Rettung sprachlos und ohnmächtig in eine sitzende Stellung hingesunken war.

Das Gemach ohne Tür, worin der Unglückliche eingemauert saß, war ein viereckiges, enges Behältnis von zehn bis zwölf Fuß Umfang. Licht konnte gar nicht hineinfallen und Luft nur so viel eindringen, als eine Art Feuermauer, die oben zur Seite hinausgeführt war, dies gestattete. Zn den Füßen des Alten befand sich neben einem Wasserkrug der Rest eines Brotes, welches noch völlig genießbar und nicht verschlimmert war.

Man schaffte nun den halb toten Leichnam aus seiner Gruft und traf ernstliche Vorkehrungen zu seiner Wiederbelebung. Man rieb ihn mit erwärmenden Tüchern, bestrich ihn mit Balsam und brachte ihn endlich durch die vereinigten Bemühungen aller ins Leben zurück. Nun ertönten Fragen von allen Seiten. Jeder wünschte zu wissen, wer er sei und welcher Unmensch ihn lebendig eingemauert habe. Der kaum ins Leben zurückgekehrte Greis nahm alle seine Kräfte zusammen und begann wie folgt:

»Ich heiße Johann Gottreu Felsner und war bis in das Jahr 1629 evangelischer Pfarrer hier zu Olmütz. Aber man beeinträchtigte katholischerseits mich und meine Pfarrkinder auf alle mögliche Art, verwies mich zuletzt sagar aus der Stadt um des Glaubens willen und bedrohte mich im Übertretungsfall mit Einkerkerung.«

»Ist es möglich!«, unterbrach ihn der General.

»Ist es möglich!«, schallte es von allen Seiten wider.

Katholische Glaubensgenossen entfernten sich. Einige Evangelische drängten sich anteilnehmend näher. Mehrere waren, die ihn wieder erkannten, ihn freudig beim Namen riefen und Gott für seine Errettung priesen. Es war ein Anblick, um auch den Verruchtesten bis zu Tränen zu rühren. Jeder lauschte auf die Worte des unglücklichen Greises, der also fortfuhr:

»Als ich auf Verlangen meiner verschwiegensten Pfarrkinder im Jahre 1629 zurückgekehrt war und in deren Häusern heimlich meines Amtes wartete, da wurde ich ergriffen und, auf Befehl des Pater Rektors der Jesuiten bei Nachtzeit lebendig eingemauert.«

Man schrieb gegenwärtig 1642, mithin waren seitdem ganze dreizehn Jahre verstrichen. Die Erhaltung des Greises in diesem lichtleeren Loch während eines so langen Zeitraums sah einem wahren Wunder gleich, das durch den vorgefundenen Rest des dreizehnjährigen, nicht verdorbenen Brotes noch viel unerklärbarer wurde. Selbst das bisschen Wasser im Krug war noch schmackhaft und unverdorben. Und doch berechneten diejenigen von seinen ehemaligen Pfarrkindern, welche ihn wiedererkannten, die seit seiner Ausweisung aus dem Land und seit dem plötzlichen Verschwinden nach seiner Rückkehr verflossene Zeit, einstimmig auf volle dreizehn Jahre. Jeder andere Eindruck von Leidenschaft verschwand jetzt und machte dem Erstaunen Platz. Indessen war der im Erzählen seiner Märtyrergeschichte unterbrochene, abgemattete Greis abermals in eine Art von Ohnmacht gefallen.

Den General sah ohnehin auch ein, dass man den gleichsam vom Tode Auferstandenen gerade jetzt am wenigsten mit tausend Fragen überschütten sollte, und befahl, dass man ihn vor allen Dingen in sein Quartier bringen und unter der Aufsicht seines Feldarztes erquicken möchte. Auch ließ er sogleich den grausamen Pater Rektor, der noch am Leben war, gefänglich einziehen.

Sobald Felsner wieder ein wenig zu Kräften gekommen war und ohne Beschwerde sich weitläufiger über seine wundervoll scheinende Erhaltung während ganzer dreizehn Jahre erklären konnte, gab er dem General und dessen Feldprediger, da niemand weiter im Zimmer gegenwärtig war, unaufgefordert den Schlüssel zum großen Rätsel.

»Ich rede jetzt zu Ihnen, meine teuren Glaubensgenossen!«, hob er an, »als meinen Retter, zu Männern von Treue und Verschwiegenheit. Sie werden gewiss nicht unsere hier ohnehin so sehr gedrückte Glaubenspartei dadurch noch unglücklicher machen, dass Sie ein Geheimnis, welches ich Ihnen bekannt machen muss, zu früh der Welt mitteilen. Denn die Dankbarkeit, die ich Ihnen, Herr General, als dem Wiederhersteller meiner öffentlichen Existenz schuldig bin, erlaubt es meinem Herzen nicht, Sie ferner zu täuschen. Und wenn mich gleich ein mir heiliger Handschlag an Eidesstatt zur Verschwiegenheit gegen die Welt verpflichtet, so findet doch diese Verpflichtung gegen Sie nicht statt, der Sie zur Vermehrung der Zufriedenheit und Ruhe Ihrer hiesigen protestantischen Glaubensgenossen mit Vergnügen das Ihrige beitragen wollen.

Meine wundervolle Erhaltung lief nicht gegen die ewigen Gesetze der Natur. Der noch lebende Pater Rektor der hiesigen Jesuiten ließ mich zwar bereits vor dreizehn Jahren hier einmauern, nachdem er zuvor mit blindem Religionshass und Verfolgungseifer bei Sr. Kaiserlichen Majestät meine Landesverweisung auszuwirken gewusst hatte. Allein ich schmachtete nicht dreizehn Jahre lang in diesem abscheulichen Kerker. Nach meines Verfolgers Absicht sollte ich eines schrecklichen Hungertodes sterben. Aber wenn auch meinWasserkrug nicht dem Ölkrüglein der biblischen Witwe glich, und kein Engel, kein Rabe Elias, mir Speise brachte, so hat die Hand der Vorsehung mich dennoch wunderbarlich erhalten und mich durch Sie, Herr General, der Welt gänzlich wiedergegeben.

Die Jesuiten hatten eine Wache vor die Mauer meines Kerkers gestellt. Diese ging aber schon am Abend des zweiten Tages ab. Ich bereitete mich indes auf den Tod des Hungers vor, wozu ich mich, so ermattet ich auch schon war, durch das Lied Verzage nicht, ob dir das Licht gebricht zu ermuntern suchte. Beim dritten Vers bemerkte ich, dass jemand von außen mit einem Hammer an das Mauerwerk pochte. Darauf fing man an, wirklich durchzubrechen, und bald gewann man eine Öffnung. Besonders ist es, dass ich, der ich schon an den Pforten des Todes stand, mich noch fürchtete, ermordet zu werden. Es war Nacht, aber bei dem Schein einer Handlaterne erkannte ich mit Entzücken in den Hammernden zwei meiner Beichtkinder, namens Beyer, Vater und Sohn, die mir die Worte eines Engels Wir kommen, um Sie zu retten zutiefen. Als die Öffnung groß genug war, sollte ich hindurchkriechen. Beide halfen mir, denn ich war sehr kraftlos. Eilig führte mich Beyer, der Vater, in seine Wohnung. Der Sohn blieb zurück, um die Öffnung wieder zu vermauern.

Ich war nun wieder frei von den Schranken eines Gefängnisses, welches mein Grab sein sollte. Allein die bürgerliche Freiheit, in meiner Gemeinde nach wie vor öffentlich zu wirken, konnten mir die Erhalter meines Lebens nicht wiedergeben. Indessen taten sie, was ihre Kräfte vermochten. Ihre Wohnung war mir ein geheimer Zufluchtsort während ganzer dreizehn Jahre. Sie verbanden sich mit einigen unserer hiesigen Glaubensbrüder, deren Lehrer und Seelsorger ich ganz im Stillen war, zu meiner Unterhaltung. So harrten wir unter fortwährenden Bedrückungen des Glaubens halber auf den Zeitpunkt unserer Erlösung.

Wir hofften vertrauensvoll, er sei gekommen, seitdem Ihre Truppen hier eingerückt sind. Man hätte mich nun öffentlich in Ihren Schutz, Herr General, überliefern können, aber teils würde das, beim Abzug Ihrer Truppen den Hass gegen unsere Partei nur von Neuem rege gemacht haben, teils hätte ich mit Ihnen diese Stadt und meine Gemeinde auf immer verlassen müssen. Man dachte daher darauf, wie man mich der Welt öffentlich wiedergeben und mir zugleich das Mitleid derjenigen katholischen Miteinwohner erwecken könnte, deren natürlich gute Herzen durch die Glaubenswut und Sophistereien ihrer Religionslehrer noch nicht ganz verstockt sind, noch nicht alles Gefühl für die leidende Menschheit verloren haben.

Am Ende beschloss man, mich nebst etwas Brot und Wasser wieder in mein altes Gefängnis heimlich einzumauern, damit ich durch Sie auf die Ihnen bekannte Art der Welt öffentlich wiedergegeben würde.

Es war sonst nie meine Sache, durch Täuschung Gutes möglich zu machen, und es stimmt noch weniger jetzt, da ich an den Pforten des Todes stehe, mit meinen Grundsätzen überein. Allein die Dankbarkeit gegen meine vieljährigen Wohltäter verpflichtete mich diesmal, mich in ihren Willen zu fügen, zumal da ich in meiner Lage keinen eigenen Willen geltend machen konnte.

Aus Liebe zu mir und unseren hiesigen Glaubensgenossen nahm der eine Sohn meines bereits verstorbenen Erretters Beyer kurz vor meiner letzten Einmauerung, Dienste in Ihrem Regiment. Da er zur Nachtzeit in der Gegend meines Gefängnisses die Wache hatte, unternahm es sein Bruder, mich wieder einzumauern. Als er abgelöst ward, war alles in Ordnung. Er selbst sprengte nun absichtlich das Märchen aus, dass es in dieser Gegend der Mauer spuke. Die weiteren Folgen kennen Sie.«

Der General ließ nun den Pater Rektor der Jesuiten als einen absichtlichen, höchst grausamen Mörder gerichtlich einziehen und vernehmen. Anfangs leugnete der Jesuit standhaft, etwas von dem Ende des letzten lutherischen Pfarrers Felsner zu wissen, als dass er auf Befehl des Landesherrn zur Stadt hinausgebracht und des Landes verwiesen sei. Da aber der General den verfolgten Greis, der bisher hinter einer spanischen Wand verborgen gehalten war, hervorholen ließ, überfiel den Pater Rektor, der seinen Augen kaum zu trauen schien, plötzlich ein Zittern und Entsetzen. Es war die Bangigkeit und das Zagen des erwachenden bösen Gewissens und des Glaubens an schreckliche Wunder. Da er nichts von der natürlichen Rettung Felsners wusste, so war die vor dreizehn Jahren durch ihn ermordete Unschuld in seinen Augen höchst wunderbar vom Tode auferstanden und von der Gerechtigkeit Gottes zum Zeugnis wider ihn erhalten. Er sank auf seine Knie und bat Gott und die Welt um Gnade und Vergebung seiner beabsichtigten Greueltat.

Das Regimentsgericht erkannte, im Geist jenes Jahrhunderts, auf den Hungertod des Paters, und zwar in dem nämlichen Gefängnis, welches er selbst zu Felsners Hungergruft bestimmt hatte.

Der General milderte indessen, auf Felsners und seines Feldpredigers dringende Fürbitte, dieses Urteil dahin, dass er nur auf acht Tage, mit hinlänglichem Wasser und Brot versehen, eingemauert und bloß bedroht werden sollte, als ob der Urteilsspruch, so eingemauert den Hungertod zu sterben, nun wirklich an ihm vollzogen würde.

Die Einmauerung geschah wirklich, und vor dem Gefängnis wurde Wache gestellt. Nach Verlauf der acht Tage brach man das Gefängnis wieder auf, um ihm das Leben zu schenken. Allein – er war tot. Wahrscheinlich hatte ihn nicht der Hunger getötet, sondern die Angst des bösen Gewissens und die qualvolle Vorstellung der Todesart, die nach Aufzehrung der Brot- und Wasservorräte seiner wartete.