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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Marone – Ein seltsamer Entschluss

der-marone-drittes-buchThomas Mayne Reid
Der Marone – Drittes Buch
Kapitel 18

Ein seltsamer Entschluss

Nachdem Smythje fortgegangen war, verblieb Käthchen einige Augenblicke auf dem Platz, wo er sie verlassen hatte, schweigend und bewegungslos wie die aus gehauenen Marmorbilder um sie herum. Unter ihnen befand sich auch Niobe, und zufällig fielen die Augen der jungen Kreolin auf die Statue der jammernden Tochter der Dione.

»Ach!«, sprach sie für sich, von einem eigenen Gedanken ergriffen. »Du unglückselige Mutter hingemordeter Kinder! War deine Trübsal je so schwer zu ertragen wie die meine, gewiss, deine Strafe musste zur Wollust werden. O, könnte doch auch ich, wie einst du, jetzt plötzlich hier in Stein verwandelt sein! O weh, mir Armen!«

Als sie diesen trüben und schwermütigen Anruf mit einem tiefen Seufzer beendet hatte, stand sie einige Zeit schweigend und starrte, in tiefe Gedanken versunken, auf die Bildsäule. Doch dann nahmen diese eine andere Richtung an und mit ihnen wandten sich ihre Augen ebenfalls von den Bildsäulen und Büschen ab. Ihr Blick glitt in die Höhe dem Gebirge zu und blieb auf dessen höchster Spitze, dem Jumbéfelsen haften, die jetzt lebhaft im vollen Sonnenschein erglänzte.

»Dort«, sprach sie leise murmelnd für sich, »dort auf jenem kahlen Felsen und dort allein habe ich eine kurze Zeit der Glückseligkeit genossen, jener höchsten Glückseligkeit, von der ich wohl in Romanen gelesen habe, doch ohne eigentlich daran zu glauben. Aber jetzt weiß ich, sie ist wirklich vorhanden – dann, wenn man in die Augen des Geliebten schaut und fest vertraut, wie ich es damals tat, wieder geliebt zu werden! O, es war wonnig, es war über alles wonnig!«

Die Erinnerung an das kurze Zusammensein mit ihrem Vetter, denn auf dieses bezogen sich ihre schwärmerischen Ausrufungen, trat so lebhaft und überwältigend vor den Geist der leidenschaftlich aufgeregten Kreolin, dass sie nicht weiter zu reden vermochte und einige Zeit lang gänzlich schweigend verharrte.

Doch dann fuhr sie weiter fort: »Eine kurze Zeit der Glückseligkeit, habe ich gesagt? Ach ja, sie war sehr kurz, kaum eine Minute hielt die süße Täuschung an. Doch hätte ich zu wählen, ich wollte lieber noch einmal diese einzige Minute durchleben, als mein ganzes übriges vergangenes Leben. Ja, meine ganze Zukunft wollte ich für sie hingeben!«

Abermals hielt sie inne und starrte unverwandt auf den Felsen, dessen heller Glanz eigens dazu geschaffen schien, um in ihrem erregten Herzen die dadurch geweckte süße Erinnerung fortwährend wieder von Neuem anzufachen.

»O, ich möchte doch wohl wissen«, begann sie zuletzt, als sich ihre sehnsüchtige Erinnerung in Worte auflöste, »ich möchte doch wohl wissen, wie mir zumute sein würde, wenn ich einmal wieder da oben wäre, wenn ich auf derselben Stelle stände, wo ich damals gestanden habe! Vielleicht könnte ich mir dann einbilden, er stände wieder an meiner Seite! Vielleicht mir gar seinen süßen, mir seine ganze Seele enthüllenden Blick zurückrufen, so wie meine eigenen Gefühle, als ich ihm diesen Blick wiedergab. O, das müsste tatsächlich ein wunderbarer wonniger Traum sein!«

Hier hielt sie, überwältigt von der Glut ihrer Gefühle, abermals inne, doch bald machten sie sich wieder Luft.

»Und warum sollte ich mir diesen Genuss nicht verschaffen, warum sollte ich mir diesen Strahl früherer entschwundener Wonne nicht gewähren? Warum nicht? Was könnte mir das für Schaden zufügen? Was für Unrecht darin liegen? Selbst wenn die Erinnerung mich noch trauriger machte, meinen Gram zu vergrößern, meinen Schmerz zu vermehren vermöchte sie schwerlich. Nein, nein, davor brauche ich mich nicht zu fürchten! Deshalb will ich hinaufgehen und mich auf denselben Platz hinstellen, wo ich damals gestanden habe! Da will ich die Vergangenheit zurückrufen und mich für einige Augenblicke ungestört gänzlich den süßen Täuschungen der Erinnerung und der Phantasie überlassen! Niemand wird da zugegen sein, nur der reine klare Himmel über mir und der große allgegenwärtige Gott! Sie werden die Zeugen meines Opfers sein, des Opfers meines in der Erfüllung seiner Pflicht gebrochenen Herzens!«

Nach diesem leidenschaftlichen Erguss band sich das junge Mädchen ein weißes Batisttuch, das sie in ihrer Hand hielt, rasch um ihr von reichen Haarflechten und Locken umrungenes Haupt und eilte, ohne im Haus oder sonst etwas von ihrem Vorhaben zu sagen, mit raschen Schritten dem hinteren Garten zu. Hier war ein kleines Pförtchen, durch das sie in den Wald gelangte, in dem sich ein Fußpfad durch die Schlucht bis oben auf den Berg hinaufwand.

Es war ganz derselbe Fußpfad, den sie damals am Tag der Sonnenfinsternis gegangen waren, aber wie verschieden waren jetzt ihre Empfindungen, von denen, die damals ihr Herz erfüllten! Freilich war sie auch schon damals keineswegs in ganz ungetrübter heiterer Stimmung, aber sie war doch noch voller Hoffnungen, sie fühlte sich noch nicht davon bedrückt, dass sie Herberts gänzliche Gleichgültigkeit gegen sie erkannte, wie seine Zuneigung zu einer mehr beglückten Nebenbuhlerin. Allein die seit jener Zeit entstandenen Verhältnisse, die von ihr selbst gesehenen Tatsachen, die mannigfachen Gerüchte, die ihr zu Ohren gekommen waren und die sich als nur zu wahr erwiesen, all dies hatte bewirkt, dass der früher bereits schwache Hoffnungsstrahl nun vollkommen erloschen und ihrem Geist für immer entschwunden war.

Außerdem erfüllte sie an diesem Morgen noch ein anderer Gedanke, der ganz dazu geeignet war, sie trübe zu stimmen und schwer zu bedrücken. Die ihr von ihrem Vater vor dem Antritt seiner Reise notgedrungen gemachten Enthüllungen, die in Bezug auf den untergeordneten Zustand ihrer Rasse und die damit verbundenen gesellschaftlichen Nachteile ihr jetzt zugekommenen Mitteilungen hatten unbedingt schon an und für sich einen höchst peinlichen Eindruck auf das Gemüt der jungen Quinterone hervorbringen müssen. Jetzt musste sie sich aber auch noch fragen, ob Herberts Geringschätzung etwa hiermit in Verbindung stände? Ob ihr eigener Vetter sie wegen des gesellschaftlichen von ihrer Abkunft hergeleiteten Unterschieds missachte, ob auch er vorurteilsvoll Anstoß an der Farbe nähme? Diese und ähnliche Fragen hatte Käthchen sich schon den ganzen Morgen stellen müssen, ohne doch zur endlichen Entscheidung zu gelangen, ob sie zu bejahen oder zu verneinen seien.

Und was beabsichtigte sie denn eigentlich jetzt? Nichts als die Erinnerung an einen kurzen Augenblick süßer vergangener Wonne wieder zu beleben und freilich damit auch um ihr Herz den unlösbaren Zauberfaden noch fester zu schlingen, der es bereits schon zu erdrosseln und zugleich alles und jedes Glück ihres Lebens für immer zu vernichten drohte.

Ach, aber das Glück hatte sie ja schon längst verlassen! Deshalb war auch jetzt in der trübseligen Wiederbelebung jener holdseligen Erinnerung weiter keine Gefahr, keinerlei Verlust für sie zu befürchten!

Mit diesen Gedanken stieg sie den sich mannigfach krümmenden Pfad raschen Schrittes hinauf, im dunklen Waldesgrün eine an Lieblichkeit und bezaubernder Anmut reiche Lichtgestalt.