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Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal

Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal

Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal ist ein Roman, der die Ungerechtigkeit der Hexenprozesse im kolonialen Amerika aufgreift, und wie ein junger Mann wagt, der Mentalität des Pöbels zu widerstehen, um die Frau zu retten, die er liebt. Er beginnt im Jahr 1699, als Richter Isaac Woodward und sein junger Angestellter Matthew Corbett in die kleine Stadt Fount Royal an der Küste Carolinasgerufen werden, um die Beschuldigungen wegen Hexerei und Mordes gegen die hübsche Rachel Howarth zu untersuchen.

Rachel wurde beschuldigt, ihren eigenen Mann Daniel und den Reverend Grove getötet, somit dem Teufel Geschlechtsverkehr ausgeübt zu haben und den langsamen Untergang der Gemeinde zu verursachen. Die Leute der Stadt sind bereit, sie zu lynchen, aber Richter Woodward nutzt die Macht seiner Position, um darauf zu bestehen, dass ein fairer Prozess stattfindet, bevor irgendetwas mit der Frau gemacht wird.

Als die Zeugen in den kommenden Tagen aufgerufen werden, beschreibt jeder ausführlich, wie sie Mrs. Howarth in der Leidenschaft mit ihrem vermeintlich dunklen Meister sahen. Woodward glaubt fest, dass die Zeugen die Wahrheit sagen, aber der junge Matthew fängt an zu vermuten, dass es jemand anderes im Hintergrund gibt … jemand, der die Fäden der Einheimischen der Stadt zieht, welche die Absicht hegen, Fount Royal zu zerstören und Rachel zum Sündenbock zu machen, um die Aufmerksamkeit von ihren bösen Plänen abzulenken.

Als Rachel endlich verurteilt ist, auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden, hat Matthew nur wenige Tage Zeit, um ihre Unschuld zu beweisen und die Identität des wirklichen Mörders herauszufinden. Das erweist sich als eine würdige Herausforderung und verwandelt schnell einen Teenager in einen jungen Mann, als er einen wahren Einblick in das Böse hinter der Maske der Menschheit erkennt.

Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal übertrifft deutlich Robert McCammons frühere Romane inpunkto Entfaltungsmöglichkeiten und Kunstfertigkeit. In der Tat halte ich die Story für eine Art Krönung im Bereich der Fiktion. Im Gegensatz zu seinen Werken im Horrorgenre ist dies ein historischer Roman von großen Ausmaßen, der sich in die Nöte des täglichen Lebens während der Kolonialzeit vertieft, gepaart mit den Ängsten und Aberglauben, die das Verhalten vieler Menschen in der scheußlichsten Art und Weise zu ihren Mitmenschen bestimmen.

Der Autor entführt uns in eine trostlose Welt, entwickelt eine Kriminalgeschichte von einer solchen Komplexität, dass der Leser in vermeintlich aussichtslosem Bemühen, herauszufinden, wer der wirkliche Mörder ist, auf Trab gehalten wird. Mithilfe einer Vielzahl von Hinweisen, jeder mit seiner Einzigartigkeit, Perversität und eigenem Hintergedanken, versteht es Robert McCammon brillant, den Roman lebendig zu gestalten. Es braucht nicht lange, bis man erkennt, dass fast jeder, der in der Stadt lebt, etwas zu verbergen und einen starken Grund für den Wunsch, dass Rachel hingerichtet werden soll, hat.

Natürlich ist es Matthew Corbett, der der wahre Held der Geschichte ist, als er rasch die Reise ins Mannesalter macht und seinen eigenen Instinkten vertraut, die Wahrheit zu entdecken und sich weigern zu müssen, als er mit dem Unmöglichen konfrontiert wird und an die Macht der Gerechtigkeit und der Liebe glaubt. Aber ist er stark genug, um es mit der ganzen Stadt aufzunehmen und zu riskieren, zusammen mit Rachel auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden?

Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal ist ein wahres Meisterwerk literarischer Fiktion, das mit nervenzerreißender Spannung und knallharten Intrigen gefüllt ist. Dies ist die Art von Roman, in welchem Sie bis in die frühen Morgenstunden berauscht blättern werden, um herauszufinden, was als Nächstes passiert. Sehr zu empfehlen!

Das Buch

Robert McCammon
Matthew Corbett – Band 1
Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal
Originaltitel: Speaks the Nightbird
historischer Thriller, Hardcover mit Schutzumschlag, Luzifer Verlag, Drensteinfurt, März 2017, 516 Seiten, 19,95 Euro, ISBN: 9783958351974, Cover: Michael Schubert, Übersetzung: Nicole Lischewski

Kurzinhalt:
Geht eine Hexe in Carolina um? Das zumindest glauben die Bewohner der kleinen Stadt Fount Royal. Ihr Name ist Rachel Howarth, eine Fremde – wunderschön und mutig. Kein Wunder, dass sie von manchen Einwohnern gehasst wird und den meisten zumindest suspekt vorkommt.

Der fahrende Friedensrichter Isaac Woodward und sein scharfsinniger Gerichtsdiener Matthew Corbett sollen ihr den Hexenprozess machen. Die Beweise sind erdrückend: In ihrem Haus finden sich okkulte Hinweise, sie weigert sich, die Worte des Herrn zu sprechen, und Zeugen berichten von unaussprechlichen Dingen, die sie mit dem Leibhaftigen selbst begangen haben soll.

Aber Matthew zweifelt an den Anschuldigungen. Gibt es so etwas wie Hexerei wirklich? Und wenn Rachel tatsächlich wie ein Dämon durch die Nacht fliegen kann, wieso hat sie sich dann nicht längst selbst aus dem Gefängnis befreit?

In Fount Royal gehen noch weitaus rätselhaftere Dinge vor. Wer ermordete Rachels Ehemann? Wer wäre imstande, eine ganze Stadt zu paralysieren? Und wer würde davon profitieren, wenn die Hexe verbrannt würde?

Es tobt tatsächlich ein Kampf zwischen Gott und Teufel, zwischen Gut und Böse in dieser Stadt, und selbst die Unschuldigen sind nicht länger sicher. Schon bald muss sich Matthew Corbett mit Herz und Hirn dem wahrhaftigen Bösen stellen, das in Fount Royal umgeht …

Der Autor

Robert McCammon ist der Autor der New York Times Bestseller Boy’s Life und Gone South, sowie zahlreicher anderer von Kritikern hochgelobter Romane. Mehrere Millionen Exemplare seiner Bücher wurden verkauft. Robert McCammon ist für sein Lebenswerk mit dem Bram Stoker Lifetime Achievement Award ausgezeichnet worden und hat außerdem den Grand Master Award der World Horror Convention und den World Fantasy Award erhalten.
Er lebt in Alabama.

Leseprobe

Kapitel eins

Die Stunde kam, zu der die Reisenden bemerkten, dass die Nacht sie einholen würde und ein Unterschlupf gefunden werden musste.
Für Frösche und Sumpfhühner war es ein herrlicher Tag gewesen. Den Menschen jedoch hatten sich die tief hängenden grauen Wolken und der kalte Regen wie Ketten um die Seele gelegt. Der Mai sollte dem Kalender und allen Vorhersagen nach ein gnädiger, wenn auch kein fröhlicher Monat sein; dieser Mai jedoch war wie ein dünnlippiger Geizhals dahergekommen, der die Kerzenflammen in der Kirche ausdrückt.
Regelrechte Wasserfälle strömten durch die starken Äste, die sich in vierzig Fuß Höhe über der Straße ineinander verflochten. Die Blätter uralter Eichen und Ulmen, und auch die Nadeln der hohen Kiefern, waren finster statt grün, und die mächtigen Stämme von Moos und braunen Klumpen eines Pilzes gefleckt. Zu sagen, dass sich unter diesen Ästen eine Straße befand, war eine freizügige Verwendung des Wortes: Es handelte sich um ein fäulnisfarbenes matschiges Loch, das dem Nebel entstieg und auch wieder im Nebel verschwand.
»Weiter, weiter«, rief der Kutscher den beiden Kleppern zu, die sich abmühten, den Wagen gen Süden zu ziehen. Ihr Atem dampfte und die mageren Flanken zitterten beim Kampf mit den schweren Holzrädern im Schlamm. Der Kutscher hielt eine kleine scharfe Peitsche griffbereit, doch entschied sich dagegen, Gebrauch von ihr zu machen. Die Pferde, die ihm mitsamt des Wagens von den städtischen Stallungen in Charles Town überlassen worden waren, taten ihr Bestes. Hinter der ungehobelten Kiefernholzplanke, die den Reisenden ab und zu Splitter in den Hintern trieb, standen unter der braunen durchweichten Sackleinenplane des Wagens zwei nicht zueinander passende Schrankkoffer, eine Reisetasche und eine Perückenschachtel. Alle vier Gepäckstücke wiesen Narben und Schrammen auf, die auf rüde Transportmethoden hindeuteten.
Über ihnen grollte Donner. Die Pferde strengten sich an, ihre Hufe aus dem Matsch zu ziehen.
»Na los, schneller«, rief der Kutscher ohne die geringste Leidenschaft. Er knallte halbherzig mit den Zügeln, die er in seinen durch graue Stoffhandschuhe geschützten Händen hielt. Dann saß er wieder kommentarlos da, während Regentropfen von den gerollten Rändern seines schwarzen schlammbespritzten Dreispitzes fielen und seinen rabenfarbigen Wollmantel noch mehr durchnässten.
»Soll ich übernehmen, Sir?«
Der Kutscher warf einen Blick auf seinen Mitreisenden, der ihm anbot, die Zügel zu halten. Selbst mit lebhaftester Fantasie ließen sich zwischen den beiden kaum Ähnlichkeiten finden: Der Fuhrmann war fünfundfünfzig Jahre alt, sein Passagier gerade über zwanzig. Der ältere Mann war grobknochig und hatte ein gerötetes Gesicht mit Hängebacken, in dem dichte, borstig-graue Augenbrauen wie ein Schutzwall über tief liegenden eisblauen Augen herausragten, die so freundlich wie zündfertige Kanonenrohre dreinschauten. Ein höflicher Engländer hätte seine Nase vielleicht als gutproportioniert bezeichnet. Ein freimütiger Holländer würde eher dazu neigen, einen Bluthund in der Ahnenlinie dieser Nase zu vermuten. Auch das Kinn des Fahrers war fest umrissen: Ein quadratisches Bollwerk mit einer Kerbe, in der eine kleine Musketenkugel Schutz suchen konnte. Üblicherweise war sein Gesicht durch peinlich genaues Rasieren glatt und sauber gehalten, aber an diesem Tag zeigte sich sein grau melierter Bartwuchs.
»Ja«, murrte er. »Danke.« Er übergab die Zügel wie schon so oft in den letzten Stunden, während der sie sich bei dieser Pflicht abgewechselt hatten, und rieb sich die Finger, bis er sie wieder fühlen konnte.
Das lange, hagere Gesicht des jüngeren Mannes hatte mehr Kerzenschein als Sonnenlicht zu sehen bekommen. Er war dünn, aber nicht gebrechlich – eher sehnig wie ein zähes Klettergewächs. Er trug kantige Schuhe, weiße Strümpfe, olivgrüne Kniebundhosen und über einem einfachen weißen Leinenhemd eine kurze, eng anliegende braune Jacke aus billiger Wolle. Die Knie seiner Beinkleider und auch die Ellbogen der Jacke waren mindestens ebenso oft geflickt worden wie die Kleidung des älteren Mannes. Auf seinem Kopf saß eine graubraune Wollmütze. Sie war über schwarze feine Haare gezogen, die in Charles Town vor Kurzem im Kampf gegen die Läuseplage raspelkurz geschoren worden waren. Alles an dem jungen Mann – Nase, Kinn, Wangenknochen, Ellbogen, Knie – erweckte den Eindruck von scharfen Ecken. Seine Augen waren grau mit dunkelblauen Sprenkeln; die Farbe von Rauch in der Dämmerung. Er feuerte die Pferde weder an, noch klatschte er ihnen die Zügel auf die Rücken. Sein einziger Ehrgeiz war, sie zu lenken. Man hätte ihn vielleicht als einen Stoiker bezeichnen können. Er wusste um den Wert von Unerschütterlichkeit, denn er hatte in seinem Leben bereits Schicksalprüfungen durchlaufen, an denen ein weniger stoischer Mensch hätte zerbrechen können.
Der ältere Mann sann während des Händereibens darüber nach, dass er, falls er nach diesem Martyrium noch seinen sechsundfünfzigsten Geburtstag erlebte, seinen Beruf am besten aufgeben und als Dank für Gottes Gnade ein Samariter werden sollte. Er war nicht aus dem rohen Material der Pioniere gemacht. Vielmehr verstand er sich als ein Mann mit Geschmack und Noblesse, ein Städter, der kaum dazu geeignet war, in diese Wildnis vorzustoßen. Schnurgerade Ziegelmauern und gestrichene Zäune gefielen ihm, die angenehme Symmetrie manikürter Hecken und die verlässliche Pünktlichkeit, mit welcher der Laternenanzünder seine Runde machte. Er war ein zivilisierter Mann. Regen lief seinen Nacken herunter und in seine Stiefel, es dämmerte und er hatte lediglich einen rostigen Säbel im Wagen, um ihr Hab und Gut sowie ihre Skalps zu beschützen. Das Dorf Fount Royal lag am Ende dieser Matschstrecke, doch das war wenig Trost. Seine Aufgabe dort war unschön.
Doch nun wurde ihnen etwas Gnade zuteil! Der Regen ließ langsam nach und das Donnergrollen klang weiter entfernt. Der ältere Mann dachte, dass die Sturmfront sich nun auf das Meer hinausbewegte, das sie durch Lichtungen im Wald hie und da wie eine aufgewirbelte graue Ebene erspäht hatten. Tiefhängende Nebelschwaden verschleierten die Äste, hüllten den Wald wie in ein Leichentuch. Der Wind hatte sich gelegt und in der schweren Luft lag ein sumpfig grüner Geruch.
»Frühling in Carolina«, brummte der Ältere, in dessen heiserer Stimme der melodische Akzent hochwohlgeborener englischer Vorfahren mitschwang. »Auf den Friedhöfen werden im Sommer viele Blumen stehen.«
Der jüngere Mann erwiderte nichts, dachte sich aber, dass sie auf dieser Straße verenden könnten, dass sie etwas Böses überfallen und sie ebenso plötzlich verschwinden konnten wie Richter Kingsbury vor nicht einmal zwei Wochen auf eben dieser Strecke. Er konnte sich nicht vor der Tatsache verschließen, dass wilde Indianer und ebenso wilde Tiere in diesen Wäldern ihr Unwesen trieben. Trotz all der Läuse und Todesfälle durch die Beulenpest war Charles Town im Vergleich zu dieser triefenden grünen Hölle ein wahres Paradies. Er gelangte zu dem Schluss, dass die Siedler von Fount Royal von Sinnen sein mussten, ihr Leben und ihre Zukunft in dieser Gegend aufs Spiel zu setzen.
Doch Charles Town war vor zwanzig Jahren nicht weniger Wildnis gewesen. Jetzt war es eine Stadt mit einem florierenden Hafen – wer konnte schon sagen, was aus Fount Royal werden würde? Er wusste jedoch, dass es für jedes Charles Town Dutzende anderer Siedlungen gab, die Unglücken zum Opfer fielen. Fount Royal mochte es eines Tages ähnlich ergehen. Noch war es aber der Wirklichkeit gewordene Traum von Menschen, und das Problem dort musste auf gleiche Art wie die Probleme in zivilisierter Gesellschaft angegangen werden. Die Frage blieb allerdings: Warum hatte Richter Kingsbury auf der Reise von Charles Town nach Fount Royal auf eben dieser Strecke nie sein Ziel erreicht? Der ältere Mann hatte auf Fragen hin verschiedene Antworten gegeben. Kingsbury mochte an Indianer geraten, die Kutsche verunglückt sein oder ein Angriff durch wilde Tiere stattgefunden haben. Doch obwohl der ältere Mann eine Nase hatte, die der eines Bluthundes glich, war es der Jüngere, der den Bluthundinstinkt besaß. Selbst die leiseste Andeutung eines Rätsels ließ ihn noch lange, nachdem der Ältere sich zurückgezogen hatte und in der Kammer schnarchte, grübelnd neben der niederbrennenden Kerze sitzenbleiben.
»Was ist das?«
Ein graubehandschuhter Finger zeigte nach vorn in den Nebel. Dann sah auch der jüngere Mann, was sein Begleiter erspäht hatte: Rechts neben der Straße war ein Dach zu sehen. Es war ebenso dunkelgrün und nassschwarz wie die Wälder; vielleicht handelte es sich um eine Ruine wie bei dem Handelsposten, an welchem sie am frühen Nachmittag ihre Pferde rasten und eine Mahlzeit hatten einnehmen wollen – nur um dann verkohltes, eingefallenes Gebälk vorzufinden. Doch auf dem Dach vor ihnen gab es etwas Herrliches zu sehen. Einen gemauerten Schornstein, aus dem eine weiße Fahne Rauch wehte. Der Nebel waberte, und die grob behauenen Stämme eines Blockhauses nahmen Gestalt an.
»Ein Unterschlupf!«, stieß der ältere Mann frohlockend aus. »Matthew, Gottes Gnade ist mit uns!«
Es war ein noch recht neuer Bau, was erklärte, wieso das Gebäude auf der Karte nicht eingetragen war. Der Geruch von frisch mit der Axt bearbeiteten Kiefernstämmen wurde stärker, als sie sich näherten. Matthew bemerkte, vielleicht etwas ungnädig, dass der Erbauer der Blockhütte weder zu den geschicktesten noch zu den ordentlichsten Handwerkern gehörte. Großzügige Mengen von rotem Schlamm waren dazu benutzt worden, die Spalten zwischen den Stämmen der schiefen Wände abzudichten. Der Schornstein bestand mehr aus Lehm denn aus Stein und spie aus zahlreichen Ritzen Rauch. Das Dach saß ähnlich der verrutschten Kappe eines Betrunkenen in einem unguten Winkel auf dem Haus. Weder Farbe noch sonstiger Zierrat schmückten die Hütte, deren kleine schmale Fensteröffnungen allesamt mit Brettern verrammelt waren. Hinter dem Haus befand sich ein Gebäude, das noch schludriger aussah und wohl eine Scheune sein musste: Drei Pferde mit Senkrücken standen in einem eingezäunten Korral daneben. In einem schlammigen Pferch nahebei schnauften und grunzten ein halbes Dutzend Schweine. Ein roter Hahn stolzierte herum, gefolgt von einigen nassen Hennen und ihren schlammbespritzten Küken.
Neben einer Anbindestange für Pferde stand ein in den Boden getriebener Pfosten. Daran festgenagelt war ein grünes Holzschild, auf welches mit dicker weißer Farbe die Worte ›Tavern Ye Trade‹ gekrakelt worden waren.
»Sogar ein Wirtshaus!«, rief der ältere Mann und übernahm die Zügel von Matthew, als könnten seine Hände den Wagen schneller zu der Anbindestange lenken. »Es wird uns heute Abend also doch noch ein heißes Mahl zuteil!«
Eins der Pferde neben der Scheune begann zu wiehern, und plötzlich öffnete sich ein Fensterladen. Ein kaum zu erkennendes Gesicht spähte hinaus.
»Seid gegrüßt!«, rief der Ältere. »Wir brauchen eine Unter–«
Der Fensterladen wurde zugeknallt.
»–kunft«, beendete er seinen Satz. Und dann, als die Pferde sich die letzten Meter zu der Anbindestange vorkämpften: »Brr! Langsam!« Er betrachtete den Fensterladen. »Für einen Wirt recht ungastlich. Aber hier sind wir nun mal und hier bleiben wir auch. Nicht wahr, Matthew?«
»Ja, Sir.« Das wurde mit nicht allzu fester Überzeugung vorgebracht.
Der ältere Mann stieg vom Kutschbock. Seine Stiefel versanken bis über die Knöchel im Matsch. Er schlang die Zügel um die Anbindestange, während Matthew langsam vom Wagen stieg. Auch als er einige Zentimeter tief im Schlamm versank, war Matthew immer noch größer als sein Begleiter. Mit seinen eins-achtundsiebzig war er ein außerordentlich groß geratener junger Mann, im Gegensatz zu seinem mit einem Meter siebzig durchschnittlich großen Begleiter.
Ein Riegel wurde zurückgeschoben. Die Tür der Hütte öffnete sich schwungvoll. »Guten Tag, guten Tag!«, sagte der Mann, der auf der Türschwelle stand. Er war in eine fleckige Wildlederjacke und ein braunes Hemd, graugestreifte Kniebundhosen und grellgelbe Strümpfe gekleidet, die über den wadenhohen Stiefeln zu sehen waren. Das breite Lächeln in seinem kastanienrunden Gesicht stellte Zähne zur Schau, die wie eine Reihe von Stiften in seinem Mund prangten. »Kommt herein und wärmt Euch!«
»Ob sich dies als ein guter Tag bezeichnen lässt, weiß ich nicht, aber ein Feuer wird uns sehr gefallen.«
Matthew und der ältere Mann stiegen zwei Stufen auf die Veranda hinauf. Der Wirt trat zurück und hielt ihnen die Tür auf. Noch bevor sie mit ihm auf gleicher Höhe waren, wünschten sie sich, dass der Kiefernholzgeruch stärker wäre, um den abstoßenden Gestank des ungewaschenen Körpers und der schmutzigen Kleider ihres Gastgebers zu überdecken. Gerade als Matthews linkes Ohr den Pfad der schallenden Stimme kreuzte, brüllte der Mann jemandem im Wirtshaus zu: »Mädel! Leg noch einen Scheit ins Feuer – beweg dich!«
Die Tür schloss sich hinter ihren Rücken, und damit wurde es dunkel. Drinnen war es so finster, dass keiner der beiden Reisenden mehr als das rote Glimmen der zuckenden Flammen im Kamin sehen konnte. Nicht aller Rauch entschwand durch den Schornstein; ein großer Teil davon fühlte sich in der Hütte anscheinend wohl und hing in schmierigen grauen Schleiern im Raum. Matthew kam es vor, als bewegten sich Gestalten um sie herum, aber seine Augen brannten zu sehr vom Rauch, um etwas zu erkennen. Eine knorrige Hand presste sich in seinen Rücken. »Kommt nur, kommt!«, drängte der Wirt. »Wärmt Euch auf!«
Sie schlurften näher an die Feuerstelle heran. Matthew stolperte gegen einen Tisch. Eine gedämpfte Stimme erklang, jemand lachte, und das Lachen ging in einen trockenen Husten über. »Verdammtes Pack, benehmt euch!«, schnappte der Wirt. »Wir haben feine Herren zu Besuch!«
Auch der ältere Mann musste mehrmals husten, um seine Lunge von dem beißenden Rauch zu befreien. Er stellte sich an den Rand des flackernden Feuers und zog seine nassen Handschuhe von den Fingern. »Wir sind den ganzen Tag unterwegs gewesen«, sagte er. »In Charles Town sind wir losgefahren. Wir haben gedacht, dass wir eher rote als weiße Gesichter sehen würden.«
»Es stimmt, Sir, die roten Teufel gibt’s hier in rauen Mengen. Aber sehen tut man sie nie, nur dann, wenn sie gesehen werden wollen. Ich bin Will Shawcombe. Dies ist mein Wirtshaus und Handelsposten.«
Der ältere Mann bemerkte, dass ihm durch den Qualm eine Hand entgegengestreckt wurde. Er schüttelte sie. Die Handfläche war so hart wie der Pferdesattel eines Quäkers. »Ich heiße Isaac Woodward«, gab er zurück. »Und dies ist Matthew Corbett.« Er nickte in Richtung seines Begleiters, der damit beschäftigt war, sich die Finger warm zu reiben.
»Aus Charles Town, sagt Ihr?« Shawcombe hielt noch immer die Hand des andern Mannes umklammert. »Und wie ist es dort?«
»Es lässt sich leben.« Woodward entzog sich des Handschlags und fragte sich unwillkürlich, wie oft er wohl seine Finger schrubben müsste, bis sie vom Gestank befreit waren. »Die Witterung ist in den letzten Wochen jedoch sehr unausgeglichen gewesen. Solch heiße und kalte feuchte Dämpfe sind eine wahre Prüfung für das Gemüt.«
»Bei uns will der Regen nicht aufhören«, entgegnete Shawcombe. »Einen Morgen schwitzt man, am nächsten heißt es bibbern.«
»Ist das Ende der Welt, so wie’s aussieht«, erhob sich die gedämpfte Stimme. »Geht doch nicht mit rechten Dingen zu, jetzt noch warme Decken zu brauchen. Der Teufel verdrischt seine Frau, daran liegt’s.«
»Schweig!« Shawcombes kleine dunkle Augen blickten in Richtung der Stimme. »Du verstehst davon nichts!«
»Ich les die Bibel, ich kenne Gottes Wort! Das Ende der Welt ist’s, und auch das aller unsauberen Dinge.«
»Ich schmier dir eine, wenn du so weiterredest!« Shawcombes Gesicht sah im roten flackernden Licht des Feuers wie eine Maske kaum beherrschten Zorns aus. Woodward hatte gesehen, dass der Wirt ein gedrungener, stämmiger Mann von vielleicht einem Meter zweiundsiebzig Größe war, mit breiten kräftigen Schultern und einer Brust wie einem Bierfass. Shawcombe hatte einen wilden braunen Haarschopf, der von Grau durchzogen war, und einen kurzen graugesprenkelten Bart. Er sah wie ein Mann aus, mit dem nicht zu spaßen war. Sein Akzent, ein ungehobeltes Englisch der Unterklasse, klärte Woodward darüber auf, dass der Mann die Docks an der Themse noch nicht allzu lange hinter sich gelassen hatte.
Wie Matthew warf auch Woodward einen Blick in Richtung des Bibellesers und konnte in den Rauchschwaden eine knorrige, weißbärtige Gestalt ausmachen, die an einem der roh zusammengezimmerten Tische saß. Der rote Feuerschein spiegelte sich in den Augen des alten Mannes. Sie glommen wie frisch angefachte Kohlestücke. »Wenn du wieder an meinem Rum warst, zieh ich dir das Fell ab!«, versprach Shawcombe. Der alte Mann begann, den Mund aufzumachen, besaß jedoch genügend Altersweisheit, kein Wort herauszulassen. Als Woodward wieder den Wirt ansah, grinste Shawcombe verlegen und die kurze Zurschaustellung von Wut war verschwunden. »Mein Onkel Abner«, erklärte er in verschwörerischem Flüsterton. »Der ist weich in der Birne geworden.«
Eine weitere Gestalt schritt durch den Qualm an Woodward und Matthew vorbei in den Feuerschein am Rand des offenen Kamins, der mit verrußten Steinen eingefasst war. Diese dünne, kleine Gestalt, kaum mehr als einen Meter fünfzig groß, trug eine geflickte moosgrüne Wolltunika und hatte lange dunkelbraune Haare. Ein Kiefernscheit und eine Armladung Tannenzapfen und Nadeln wurden in die Flammen geworfen. Matthew ertappte sich dabei, das bleiche Profil eines jungen Mädchens mit einem langen Kinn zu betrachten. Ihre ungekämmten Haare hingen ihr ins Gesicht. Sie beachtete ihn nicht weiter und verschwand schnell wieder im Dunkel des Raumes.
»Maude! Was hockst du da rum? Bring diesen Herren einen Rum!« Dieser Befehl wurde einer anderen Frau in der Hütte zugeworfen, die neben dem alten Mann saß. Ein Stuhl schabte über die ungehobelten Fußbodenbretter, ein Hustenanfall folgte dem nächsten, bis er in ein trockenes Keuchen überging, und dann schlurfte Maude – eine dürre weißhaarige Erscheinung in Kleidung, die aus zusammengenähten Futtersäcken zu bestehen schien – murrend und zungenschnalzend durch eine Tür hinter dem Kamin. »Möge der Herrgott Gnade mit unseren Ärschen haben!«, brüllte Shawcombe ihrer unglücklichen Gestalt hinterher. »Man kommt sich vor, als hätten wir noch nie ‘nen atmenden Menschen gesehen, der was zu trinken und essen braucht! Das hier ist ein Wirtshaus, hast du das immer noch nicht begriffen?« Seine Laune schlug schnell wieder um, als er Woodward hoffnungsvoll ansah. »Ihr bleibt doch über Nacht hier, nicht wahr, Sir? Hinten hab ich ein sehr gemütliches Zimmer, das Euch nicht mehr als ein paar Pence kostet. Ein Bett mit einer guten, weichen Matratze steht drin. Da kann sich Euer Rücken von der langen Reise erholen.«
»Darf ich etwas fragen?«, entschied Matthew sich zu äußern, bevor sein Begleiter dem Wirt antworten konnte. »Wie weit ist es bis Fount Royal?«
»Fount Royal? Oh, junger Herr, das sind noch zwei, drei Stunden zu Pferde, wenn die Straße gut ist. So, wie’s da draußen wettert, schätz ich mal, dass es wohl doppelt so lange braucht. Und gleich ist’s dunkel. Da würde ich Jack One Eye oder einem roten Wilden nicht ohne Fackel und Muskete begegnen wollen.« Shawcombe sah wieder den älteren Reisenden an. »Also werdet Ihr wohl hier übernachten?«
»Natürlich.« Woodward begann, seinen schweren Mantel aufzuknöpfen. »Wir wären dumm, in der Dunkelheit weiterzufahren.«
»Ich schätze mal, Ihr habt Gepäck, das hereingebracht werden muss?« Shawcombes Lächeln verschwand, als er den Kopf drehte. »Abner! Beweg deinen Arsch und hol ihnen die Sachen! Mädel, du hilfst!«
Das Mädchen hatte bewegungslos mit dem Rücken an die Wand gelehnt dagestanden, den Blick auf den Boden gerichtet und die bloßen Arme über der Brust gekreuzt. Sie gab keinen Ton von sich, ging aber auf Shawcombes Aufforderung hin zur Tür. Ihre Füße und Beine waren in kniehohe Hirschlederstiefel gekleidet. »Bei dem Wetter scheucht man nicht mal ein Schwein vor die Tür!«, beschwerte sich Abner und blieb sitzen.
»Stimmt, aber für einen alten Eber wie dich ist es genau richtig!«, gab Shawcombe zurück. Sein Blick war wieder stechend wie ein Dolch. »Steh auf und hol die Sachen!« Abner brummelte etwas in seinen Bart, hievte sich auf die Füße und hinkte dem Mädchen hinterher, als litten seine Beine unter einer schweren Verkrüppelung.
Matthew hatte Shawcombe fragen wollen, wer ›Jack One Eye‹ war, aber ihm war der Gedanke zuwider, dass sich das Mädchen und der alte Mann – vor allem das Mädchen – mit den schweren Koffern abschleppen mussten. »Ich sollte mit anfassen.« Er bewegte sich auf die Tür zu, doch Shawcombe packte ihn am Arm.
»Das ist unnötig. Die beiden Weichlinge werden faul, wenn sie immer nur rumsitzen. Die sollen für ihr Essen was tun.«
Matthew hielt inne und sah dem anderen in die Augen. Er entdeckte etwas darin – Dummheit, Engstirnigkeit, vielleicht reine Grausamkeit –, das ihn anwiderte. Er hatte Männer wie diesen schon oftmals gesehen, und er wusste, dass es sich um einen Tyrannen handelte, der seine Macht über Menschen genoss, die körperlich oder geistig unterlegen waren. Außerdem entdeckte er ein Funkeln von etwas, dass das Begreifen seiner Wahrnehmung sein mochte – was bedeutete, dass Shawcombe vielleicht intelligenter war, als Matthew angenommen hatte. Shawcombe grinste leicht mit verzogenem Mund. Langsam aber bestimmt begann Matthew, seinen Arm dem Griff des Wirts zu entziehen. Shawcombe grinste immer noch, wollte aber nicht loslassen. »Ich habe gesagt«, wiederholte Matthew, »dass ich mit anfassen sollte.«
Shawcombe ließ nicht los. Immerhin bemerkte Woodward endlich, der sich den Mantel ausgezogen hatte, dass sich vor ihm ein kleines Drama abspielte. »Ja«, meinte er. »Ich glaube, dass sie Hilfe mit den Koffern benötigen werden.«
»Wie Ihr meint, Sir.« Sofort ließ Shawcombes Hand den Arm des jungen Mannes los. »Ich würd ja selber gehen, aber mein Rücken ist hin. Früher hab ich die schweren Strohballen im Hafen an der Thames geschleppt, aber das kann ich ni–«
Matthew grummelte und wandte sich um. Er ging zur Tür hinaus in das letzte blaue Licht der Abenddämmerung und die gesegnete frische Luft. Der alte Mann hatte sich Woodwards Perückenschachtel gegriffen, während das Mädchen hinter dem Wagen versuchte, sich einen der Schrankkoffer auf den Rücken zu laden. »Warte«, rief Matthew und eilte durch den Matsch auf sie zu. »Lass mich helfen.« Er packte einen der Ledergriffe, und im gleichen Moment huschte das Mädchen von ihm weg, als habe er Lepra. Ihr Ende des Schrankkoffers krachte in den Matsch. Sie stand mit hochgezogenen Schultern im Regen, ihr strähniges Haar hing ihr ins Gesicht. 
»Ha!«, gluckste Abner. Im klaren Dämmerlicht sah seine Haut so stumpfgrau aus wie nasses Pergament. »Nutzlos ist das, mit der zu reden – sie sagt nichts. Zu niemand. Die ist reif fürs Tollhaus. Ist, was sie ist.«
»Wie heißt sie?«
Abners schorfige Stirn runzelte sich. »Mädel«, antwortete er. Er lachte, als sei die Frage die dümmste gewesen, die ein Mensch je gestellt hatte, und trug die Perückenschachtel ins Haus.
Matthew betrachtete das Mädchen eine Weile. Sie fing an, in der Kälte zu zittern, gab jedoch keinen Ton von sich und hob auch nicht den Blick, der starr auf den Matsch zwischen ihnen gerichtet war. Wenn er Abner nicht zum Anpacken bewegen konnte, würde Matthew den Schrankkoffer – und auch den zweiten – alleine tragen müssen. Er sah zu den Baumkronen empor. Der Regen, der nun stärker fiel, prasselte ihm ins Gesicht. Es war müßig, hier zu stehen, mit den Füßen im Schlamm, und sich über seine Stellung in der Welt zu beklagen; es war ihm bereits schlechter ergangen und konnte es auch eines Tages wieder. Und was das Mädchen anbelangte, wer kannte schon ihre Geschichte? Wen kümmerte es überhaupt? Niemanden. Warum also sollte er sich dann Gedanken machen? Er begann, den Schrankkoffer durch den Schlamm zu zerren, hielt jedoch inne, bevor er die Veranda erreichte.
»Geh hinein«, sagte er zu dem Mädchen. »Ich bringe den Rest.«
Sie bewegte sich nicht. Er vermutete, dass sie dort verharren würde, bis Shawcombes Stimme auf sie einpeitschte.
Es ging ihn nichts an. Matthew hievte den Koffer auf die Veranda, doch bevor er ihn zur Türschwelle zerrte, warf er wieder einen Blick auf das Mädchen und sah, dass sie ihren Kopf in den Nacken gelegt, die Arme ausgestreckt, die Augen geschlossen und den Mund geöffnet hatte, um den Regen zu fangen. Ihm kam der Gedanke, dass sie sich vielleicht auf diese verrückte Art Shawcombes Geruch von der Haut wusch.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Text- und Bildquellen:

Eine Antwort auf Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal