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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Gespenster – Erster Teil – Dreiundzwanzigste Erzählung

Die-GespensterDie Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Erster Teil
Dreiundzwanzigste Erzählung

Von einem hageren Gespenst, welches, mit der Farbe des Todes und einem Sterbehemd angetan, bittend die Menschheit anklagte

Der rühmlichst bekannte verstorbene Hofprediger Gronau zu Berlin kam auf einer seiner Reisen durch ein sächsisches Dorf, in dessen Wirtshaus er zu Mittag aß. Er blieb, bis das bestellte Essen zubereitet war, mit seinem Reisegefährten in der ihnen angewiesenen Gaststube allein. Ermüdet von dem zurückgelegten Weg schlummerten beide auf den Stühlen ein wenig ein. Aber plötzlich wurden sie durch ein Poltern in der an die Gaststube angrenzenden Kammer aufgeweckt. Da es aber bald wieder aufhörte, so bekümmerten sie sich nicht weiter darum, sondern schlummerten ruhig fort. Bald darauf erneuerte sich das Poltern. Es war, als ob eine hölzerne Lade vom Tisch auf die Erde herabfiel. Auch glaubten sie ein leises Stöhnen zu vernehmen. Sie wollten daher in die Kammer, um zu sehen, was da vorginge, fanden aber die Tür verschlossen. Sie horchten daraufhin aufmerksamer. Das Gestöhne nahm zu und näherte sich der Kammertür.

Die Reisenden wurden nun um so neugieriger, da ihnen diese wimmernden, dumpfen Töne in einer verschlossenen Kammer verdächtig vorkamen. Sie riefen den Wirt, um durch ihn hinter das Geheimnis zu kommen, aber er erschien nicht. Endlich kam des Wirtes Tochter und brachte das bestellte Essen. Sie trug die Schüssel mit der Speise steif und unbefangen vor sich her. Kaum war sie in die Stube getreten, so bestürmten die Reisenden sie mit Fragen und Erkundigungen nach dem vernommenen Poltern und Stöhnen, welches in diesem Augenblick von Neuem und lauter als bisher begann.

Anstatt auf eine dieser Fragen zu antworten, fuhr die Jungfer Wirtin schaudernd zusammen, schrie laut auf, ließ vor Angst und Entsetzen die Schüssel auf die Erde fallen und lief zur Stube hinaus, als sollte ihr wer weiß was widerfahren.

Gleich darauf kamen Wirt und Wirtin, totenblass im Angesicht, in die Stube gestürzt und schlossen die Tür zur spukenden Kammer auf. Welch ein schaudervoller Anblick, da man sie öffnete!

Eine hagere, gespensthafte Gestalt, mit der Farbe des Todes im Angesicht, stand in einem langen weißen Sterbekleid vor ihnen da und hielt sich an die Wand, als ob ihr vor dem Umfallen bange wäre. Ihr Blick war der Blick eines schwankenden, bittenden Greises und ihre Worte schienen das unverständliche Lallen eines Kindes zu sein. Es war – der Großvater vom Hause, der vor drei Tagen den Scheintod gestorben, jetzt aber aus seinem ohnmächtigen Zustand wieder erwacht war, und nun seine Kinder bat, ihn doch wieder unter die Lebenden aufzunehmen. Der Sarg in der Kammer, worin man ihn gelegt hatte, stand auf zwei Schemeln, und der erwachende Greis, der denselben verlassen wollte, hatte zuerst mit Mühe den bloß darauf gelegten Deckel herabwerfen müssen. Diesen Fall des Deckels hörten wahrscheinlich die Reisenden das erste Mal. Hierauf hatte sich der ohnmächtige Greis im Sarg nach und nach aufgerichtet, um hinauszusteigen. Das lange Sterbehemd, worin er eingehüllt war, und seine außerordentliche Mattigkeit waren ihm aber sehr hinderlich daran gewesen, sodass er samt dem Sarg von den Schemeln auf die Erde hinabgefallen war. Daher das abermals gehörte Poltern und Stöhnen.

Gleicherweise hatte sich die gute Natur des Alten während des dreitägigen Todesschlafes noch eben zur rechten Zeit neue Lebenskräfte gesammelt und war so der Einscharrung in die Gruft zuvorgekommen. Einige Stunden später – und es war um dies Menschenleben geschehen, weil man soeben im Begriff war, den Greis zu seiner Gruft zu tragen. Der Auferstandene freute sich, trotz seines hohen Alters, von ganzem Herzen des ihm wiedergeschenkten zweiten Lebens. Er lebte noch mehrere Jahre vergnügt unter den seinen und dankte der Vorsehung täglich, dass sie ihn vor dem schrecklichen Schicksal, lebendig begraben zu werden, bewahrt hatte.

»O, wie viele«, sagte er oft, »mögen das Glück entbehren, welches der Himmel mir zuteilwerden ließ! Wie viele meiner Brüder und Schwestern mögen erst dann von ihrem Scheintod wieder erwachen, wenn es zu spät und keine Rettung mehr möglich ist! Gott schenke doch allen, die man in einen Sarg einnagelt und in die Erde verscharrt, den eisernen Todesschlaf, damit sie nicht unter der Erde erst noch den qualvollsten Tod sterben dürfen.«

Sobald der gute Alte wieder Kräfte gesammelt hatte und gehen konnte, ging er in die nächste Stadt und suchte den dortigen Arzt auf. Diesem erzählte er sein Schicksal und fragte ihn zutraulich, ob er wohl noch einmal einen solchen Scheintod sterben würde, und woran seine Kinder, die ihn überleben möchten, mit vollkommener Gewissheit erkennen könnten, dass er wirklich und nicht wieder bloß scheinbar gestorben sei.

Der einsichtsvolle Arzt sagte ihm zur Beantwortung der ersten Frage gerade heraus, dass die geheimen Lebenskräfte der menschlichen Natur allerdings etwas weiter reichen, als man bisher geglaubt habe, indem der Mensch eigentlich später sterbe, als er denen, die ihn überleben, zu sterben scheine, und dass daher in der Regel ein jeder in Gefahr sei, lebendig beerdigt zu werden und im Grab erst wirklich zu sterben. Es sei nun, dass er das Unglück habe, zuvor sich seiner selbst noch einmal bewusst zu werden oder dass der Überrest von Lebenskraft ohne rückkehrendes Bewusstsein nach und nach wirklich absterbe.

Zum Trost für den aufhorchenden Greis fügte der Arzt zur Beantwortung der zweiten Frage menschenfreundlich hinzu: »Aber es gibt ein Kennzeichen der Wirklichkeit des Todes, welches niemals trügen, niemals beim Scheintod zugegen sein kann. Dies einzig untrügliche Zeichen des wahren Todes ist nämlich – die Fäulnis, und zwar die allgemeine, vollkommene, und nach allen Kennzeichen bemerkbare Fäulnis des Leichnams. Sage er daher den seinen: Dann erst, wenn der Geruch einer Leiche wirklich faulig, die Oberfläche etwas aufgedunsen, mit bräunlichen, bläulichen oder grünlichen Flecken bedeckt ist – dann erst, wenn das Fleisch weich und teigig, der Unterleib aufgetrieben, und hier und da missfarbig wird – dann erst könne man fest versichert sein, dass der Tod vollkommen und das unbegreifliche Band des Lebens ganz aufgelöst sei.«

Mit diesem gründlichen Bescheid eilte nun der Greis zu seinen Kindern und Kindeskindern zurück. Er erzählte nach seiner Art und in seiner Sprache alles treulich wieder, was er bei dem Arzt in Erfahrung gebracht hatte, und bat sie flehentlich, ihn doch ja nicht wieder zu früh für wirklich gestorben zu halten. Die seinen versprachen ihm das heilig und verbanden sich mit allen ihren Verwandten im Dorf, dass es von nun an ein Gesetz in ihrer Familie sein sollte, keinen aus derselben früher zu begraben, als bis die Leiche anfange, in die allgemeine, vollkommene und nach allen Kennzeichen bemerkbare Fäulnis überzugehen.