Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Fantomas – Kapitel 14


Mademoiselle Jeanne

Nachdem sie sich unsanft des allzu kühnen Henri Verbier entledigt hatte, dessen ungehörige Avancen sie außerordentlich schockiert hatten, nahm Mademoiselle Jeanne, kaum dass sie außer Sicht des Royal Palace Hotels war, die Beine in die Hand und rannte wie eine Besessene. Für einen Augenblick blieb sie an der grell erleuchteten und vom Verkehr verstopften Avenue Wagram stehen, zitternd vor Aufregung und mit klopfendem Herzen, um dann mit hölzernen Bewegungen ein Taxi heranzuwinken und den Fahrer anzuweisen, sie in Richtung Bois de Boulogne zu bringen. Dort angekommen gab sie eine weitere unbedachte Anweisung, sie zum Boulevard Saint-Denis zu fahren. Aber als das Taxi auf dem Place L’Etoile zufuhr, erkannte sie, dass sie sich einmal mehr dem Royal Palace Hotel näherte, und ließ den Fahrer bei der Straßenbahn halten, wo sie ihn fortschickte und die Bahn in Richtung Auteuil bestieg. Es war gerade halb zwölf, als sie dort die Station erreichte.

»Wann geht der nächste Zug nach Saint-Lazaire«, fragte sie.

Sie erfuhr, dass dieser beinahe augenblicklich abfahren würde, erstand eilig ein Zweite-Klasse-Billet, sprang in eines der Damenabteile und fuhr bis Courcelles. Dort stieg sie aus, verließ den Bahnhof und sah sich für ein oder zwei Minuten um, um ihre Orientierung wiederzufinden und ging dann langsam in Richtung der Rue Eugene-Flachat. Sie zögerte für eine Sekunde, ging dann mit festen Schritten zu einem bestimmten Haus und läutete die Türglocke.

»Eine Dame wünscht Sie zu sprechen«, sagte der Bedienstete zu Monsieur Rambert.

»Führen Sie sie sofort herein«, sagte Monsieur Rambert in der Annahme, der Mann habe die Baronne de Vibray im Vorraum warten lassen.

Die Tür des Gesellschaftszimmers war ein wenig geöffnet, und jemand kam herein, um eilig in den Schatten bei der Tür zu treten. Therese, die sich erhoben hatte, um dem Besucher entgegenzueilen, zögerte aber, als sie bemerkte, dass es eine Fremde und nicht ihr Vormund war. Monsieur Etienne Rambert, der ihr Verhalten bemerkte, wandte sich um und betrachtete die Person, die gerade eingetreten war.

Es war eine Dame.

»Was verschafft mir die Ehre …«, begann er mit einer Verbeugung. Aber dann, als er sich der Besucherin näherte, brach er ab. »Um Himmels willen …«

Die Glocke erklang ein zweites Mal und bei dieser Gelegenheit stürmte die Baronne in den Raum, eine strahlende Reinkarnation der Fröhlichkeit.

»Ich bin so schrecklich spät«, rief sie aus und eilte mit ausgestreckten Händen auf Monsieur Etienne Rambert zu, erfüllt von amüsanten Geschichten, die sie ihm zu erzählen gedachte, als auch sie die seltsame Dame bemerkte, die steif und mit gesenktem Blick in einer Ecke des Raumes stand.

Etienne Rambert unterdrückte seine erste Gefühlsaufwallung, lächelte die Baronne an und ging zu der geheimnisvollen Dame.

»Madame«, sagte er und nicht ein einziger Muskel in seinem Gesicht bewegte sich. »Darf ich Sie in mein Arbeitszimmer bemühen?«

»Wer ist die Dame, Monsieur Rambert«, fragte Therese, sobald Monsieur Rambert ins Gesellschaftszimmer zurückkehrte. »Und wie bleich Sie sind!«

Monsieur Rambert zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin nur ein wenig müde, meine Liebe. Ich hatte in den letzten Tagen so viel zu tun.«

Die Baronne de Vibray war vollkommen zerknirscht. »Es ist alles meine Schuld«, rief sie aus. »Es tut mir schrecklich leid, sie so lange aufgehalten zu haben.«

Und nur wenige Minuten später eilte der Wagen der Baronne der Rue Boissy-d’Anglais entgegen.

Monsieur Rambert lief in sein Studierzimmer zurück, verschloss die Tür hinter sich und stürzte sich beinahe auf die unbekannte Dame, die Fäuste geballt, während ihn die Augen aus dem Kopf quollen.

»Charles«, rief er.

»Papa«, antwortete das Mädchen und ließ sich auf ein Sofa sinken.

Dann war Schweigen. Etienne Rambert schien zutiefst erschüttert.

»Ich will nicht, ich kann mich nicht länger als Frau verkleiden. Ich habe es satt. Ich kann es nicht ertragen«, murmelte die seltsame Kreatur.

»Du musst«, sagte Rambert in grobem Befehlston. »Ich bestehe darauf!«

Die fiktive Mademoiselle Jeanne nahm langsam die schwere Perücke ab, die ihre wahren Züge verbarg, und riss die Korsage herunter, die ihre Brust einschnürte, was die starke, muskulöse Statur eines jungen Mannes offenbarte.

»Nein, ich weigere mich«, antwortete das seltsame Individuum, bei dem sich Monsieur Rambert nicht gescheut hatte, es mit dem Namen Charles anzusprechen. »Ich wünschte, etwas würde geschehen.«

»Du musst für deine Sünden büßen«, sagte Etienne Rambert mit derselben Härte wie zuvor.

»Diese Sühne ist zu hart«, antwortete der junge Mann. »Die Qual ist unerträglich.«

»Charles«, sagte Monsieur Rambert mit ernster Stimme, »hast du vergessen, dass du offiziell für tot erklärt wurdest?«

»Es wäre mir tausend Mal lieber, ich wäre tot«, rief der unglückliche Bursche aus.

»Ach«, murmelte sein Vater und sprach dann sehr schnell. »Ich ging davon aus, dein Verstand wäre verwirrter, als er tatsächlich ist. Ich habe dein Leben gerettet, trotz aller Risiken, weil ich dich für wahnsinnig hielt. Aber jetzt weiß ich, dass du ein Verbrecher bist! Oh ja, ich weiß Dinge. Ich kenne deinen Lebenswandel!«

»Vater«, sagte Charles Rambert mit einem so ernsten und entschlossenen Gesichtsausdruck, dass Etienne Rambert einen Moment lang Angst verspürte. »Ich möchte zunächst einmal wissen, wie es dir gelang, mein Leben zu retten und so zu tun, als wäre ich tot. War es nur Zufall oder war es vorsätzlich geplant?«

Mit der neu gewonnenen Willensstärke seines Sohnes konfrontiert, ließ Etienne Rambert sein gebieterisches Gehabe fallen, und seine Schultern hingen traurig herunter.

»Wie kann jemand solche Dinge vorahnen«, sagte er. »Als wir uns trennten, blutete mein Herz bei dem Gedanken, dass du, mein einziger Sohn, in die Hände der Justiz fallen würdest und auf dem Weg zum Schafott oder zumindest auf die Galeeren wärst. Ich fragte mich, wie ich dich retten könnte. Da legte mir das Schicksal, das Schicksal wohlgemerkt, diese arme ertrunkene Seele auf den Weg. Ich sah den günstigen Umstand einer flüchtigen Ähnlichkeit und beschloss, ihn als dich auszugeben. Ich besorgte Frauenkleidung, die du statt deiner Sachen anzogst. Dann vergrub ich die Kleidung des toten Mannes und zog der Leiche deine Sachen an. Verstehst du nicht Charles, dass auch ich gelitten habe? Weißt du nicht, welche Agonie und Qual ich, als ein Mann von Ehre, habe ertragen müssen? Hast du nicht die Geschichte meines Erscheinens vor den Schwurgerichten gehört und von meiner Erniedrigung vor der Justiz?«

»All das hast du getan«, murmelte Charles Rambert. »Fürwahr ein seltsamer Zufall!« Dann änderte sich sein Tonfall und er schluchzte. »Mein armer Vater, was ist das alles nur für ein schreckliches Verhängnis!«

Plötzlich sprang er auf seine Füße. »Ich habe kein Verbrechen begangen Papa! Ich habe die Marquise de Langrune nicht getötet. So glaub mir doch! Hast du nicht selbst vor einer Minute gesagt, dass ich nicht verrückt bin!«

Etienne Rambert sah seinen Sohn mit einem Ausdruck der Verzweiflung an.

»Nicht verrückt, mein armer Junge? Doch warst du vielleicht verrückt – als es geschah?« Dann hielt er sofort inne. »Lass uns nicht mehr darüber sprechen! Ich verbiete es aufs Strengste.«

Er lehnte sich an seinem Schreibtisch zurück, verschränkte die Arme und fragte mit fester Stimme: »Bist du nur gekommen, um mir das zu sagen?«

Die simple Frage schien den Jungen seltsam zu berühren. All seine bisherige Kühnheit fiel von ihm ab. Nervös stammelte er:

»Ich kann nicht länger eine Frau bleiben!«

»Warum nicht«, bellte Etienne Rambert.

»Ich kann nicht.«

Die beiden Männer sahen einander schweigend an, als ob sie die Gedanken des anderen erraten wollten. Dann schien Etienne Rambert den tieferen Sinn der Worte zu verstehen, die sein Sohn gerade geäußert hatte.

»So ist das also«, antwortete er langsam. »Ich verstehe … Das Royal Palace Hotel, wo Mademoiselle Jeanne eine vertrauenswürdige Stellung hatte, ist gerade Schauplatz eines dreisten Raubes geworden. Offensichtlich, wenn jemand herausfinden würde, dass Charles Rambert und die neue Kassiererin ein und dieselbe Person wäre …«

Aber der junge Mann verstand die Andeutung und platzte heraus: »Ich habe diesen Raub nicht begangen!«

»Oh doch«, beharrte Etienne Rambert, »das hast du. Ich habe den Zeitungsartikel über den Raub gelesen, las ihn mit all der Agonie, die nur ein Vater wie ich mit einem Sohn wie dir verspüren kann. Die Kriminalbeamten und der Magistrat mochten nicht in der Lage sein, das Geheimnis zu lösen, aber ich sah sofort und in aller Klarheit des Rätsels Lösung. Ich wusste und verstand, weil ich erkannte, dass nur einer es gewesen sein konnte – Du!«

»Ich habe den Raub nicht begangen«, schrie Charles Rambert. »Willst du wieder mit all den schrecklichen Anschuldigungen anfangen, so wie in Beaulieu«, fragte er in einem beinahe drohenden Tonfall. »Was für ein böser Geist hat Besitz von dir ergriffen? Warum beharrst du darauf, dass dein unglückseliger Sohn ein Verbrecher ist? Ich hatte nicht mit den Diebstählen im Hotel zu tun. Ich schwöre es dir, Papa!«

Monsieur Rambert zuckte mit den Schultern und rang die Hände.

»Was habe ich nur getan«, stammelte er, »um ein so schweres Kreuz zu tragen?« Er wandte sich wieder zu seinem Sohn. »Deine Verteidigung ist kindisch. Was nützen diese banalen Unschuldsbezeugungen? Die Worte sind wertlos ohne Beweise, um sie zu stützen.«

Der Junge war still, er schien zu denken, dass es sinnlos war, einen Vater zu überreden, der von seiner Schuld derart überzeugt war und zugleich erschüttert von dem Gedanken, was im Hotel geschehen war. Sein Vater überwand seine Unsicherheit, als ihm ein neuer Gedanke kam. »Ich hatte dich gebeten, mich nicht aufzusuchen, außer als letzte Zuflucht, wenn dich die Reue übermannt oder wenn du deine Unschuld bewiesen hast. Warum also bist du hier? Ist etwas geschehen, von dem ich noch nichts weiß? Was ist geschehen? Was hast du noch angestellt? Sprich!«

Charles Rambert antwortete mit lebloser Stimme, so als wäre er hypnotisiert: »Da war ein Polizeibeamter im Hotel in den letzten Tagen. Er nannte sich selbst Henri Verbier und hatte sich verkleidet. Aber ich erkannte ihn, weil ich ihn letztens schon einmal getroffen hatte und das unter Umständen, die sich so tief in mein Hirn brannten, dass es mir unmöglich war, ihn zu vergessen, obwohl ich ihn nur für wenige Minuten gesehen hatte.«

»Was willst du damit sagen«, fragte der ältere Mann unsicher.

»Ich will damit sagen, dass Juve im Royal Palace Hotel war.«

»Juve«, rief Etienne Rambert aus. »Und dann … was geschah weiter. So erzähl doch!«

»Juve, als Henri Verbier verkleidet, unterzog mich einer Art Befragung. Ich weiß nicht, zu welchen Schlussfolgerungen er kam. Dann, heute Abend, vor kaum zwei Stunden, kam er in mein Zimmer, wo wir ein langes Gespräch hatten. Er versuchte mir Informationen über etwas zu entlocken, von dem ich nicht die geringste Ahnung hatte, denn ich schwöre dir Papa, dass ich nichts mit dem Raub zu schaffen habe. Dann trat er an mich heran und packte mich, wie ein Mann es tut, wenn er einer Frau den Hof macht. Und ich verlor meinen Kopf! Ich wusste, dass er mich in der nächsten Minute entlarven, dass er meine Identität erkennen würde, von der er vielleicht schon vermutete. Ich dachte an alles, was du für mich getan hast, um meine Leben zu retten, indem du meinen Tod vortäuschtest und …«

Charles verstummte, um Atem zu schöpfen.

Die Hände seines Vaters waren geballt und sein Gesicht verzerrt. »Rede weiter«, sagte er, »rede, aber sprich leiser!«

»Als Juve nahe herankam«, fuhr Charles fort, »versetzte ich ihm einen furchtbaren Schlag auf die Stirn und er fiel wie ein Stein. Dann lief ich weg!«

»Ist er tot«, flüsterte Etienne Rambert.

»Ich weiß es nicht.«

Für zehn Minuten war Charles Rambert allein im Arbeitszimmer, wo sein Vater ihn zurückgelassen hatte, tief in Gedanken versunken. Dann öffnete sich die Tür und Etienne Rambert kehrte zurück, ein Bündel Kleidung tragend.

»Bitte sehr«, sagte er zu seinem Sohn. »Hier ist die gewünschte Männerkleidung. Zieh sie an und geh!«

Der junge Mann zog hastig die Frauenkleider aus und kleidete sich schweigend an, während sein Vater im Raum auf und ab lief, in düsteren Gedanken versunken.

Zweimal fragte er: »Bist du wirklich sicher, dass es Juve war?«

Und zweimal antwortete sein Sohn: »Ziemlich sicher.«

Einmal mehr fragte Etienne Rambert in einem Ton, der seine Angst kaschierte: »Hast du ihn getötet?«

Charles Rambert zuckte mit den Achseln und antwortete: » ich habe es dir schon einmal gesagt. Ich weiß es nicht.«

Schließlich stand Charles Rambert auf der Türschwelle, bereit seinen Vater ohne Umarmung oder ein Wort des Abschieds zu verlassen. Monsieur Etienne Rambert hielt ihn zurück, streckte ihm eine Brieftasche hin, voll mit Banknoten.

»Hier, nimm das«, sagte er, »und geh!«