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Der Welt-Detektiv Band 6

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Rübezahl – Rübezahl und Doktor Pullig

Rübezahl
Der Berggeist des Riesengebirges
Sagen und Schwänke neu erzählt nach R. Münchgesang
Rübezahl und Doktor Pullig

In Landshut lebte einstmals ein wunderlicher Mann, den alle Leute nur den Doktor Pullig nannten. Er lebte ganz für sich, kümmerte sich um niemand, grüßte keinen auf der Straße und erwiderte keinen Gruß, trieb spielende Kinder mit dem Stock auseinander, wenn sie ihm im Wege waren, und hielt sich mit ihm auch Arme und Notleidende vom Leibe, obwohl er für einen reichen Mann galt und keine Familie besaß. Im Winter sahen ihn nur wenige, im Sommer jedoch ging er in das Gebirge, zupfte Pflanzen aus, die er durch seine große Hornbrille betrachtete, um sie dann wegzuwerfen, klopfte auch Stücke vom Gestein ab, die er nach einiger Zeit wieder fortschleuderte.

Sein Hauptvergnügen aber war, Raupen, Schmetterlinge oder Käfer zu fangen, sie aufzuspießen und in seinen Sammelkasten zu sperren. Die armen Geschöpfe wanden und krümmten sich dann wohl stundenlang, bis der Tod sie erlöste, aber das bekümmerte den Doktor Pullig nicht im Geringsten. Zu Hause angekommen, verlas er seine Beute, ordnete sie, verleibte einige schöne Exemplare seinen Sammlungen ein und warf die anderen zum Kehricht.

Rübezahl hatte den Sonderling schon länger beobachtet und ärgerte sich über ihn. Eines Tages gesellte er sich zu ihm, wie ein Doktor gekleidet, und redete ihn sehr höflich an.

»Ich unterhalte mich nicht mit unbekannten Leuten«, antwortete ihm Pullig sehr ungnädig.

»Je nun, ich bin der Doktor Riesenberger und auch ein großer Freund der Natur, namentlich der geflügelten Tiere.«

»Was mir sehr gleichgültig ist«, meinte Pullig grimmig.

»Ei, Herr Kollege«, sagte Rübezahl, »in Gemeinschaft denkt und arbeitet es sich allemal besser, nach alter Erfahrung. Wie wäre es, wenn wir folgenden Vertrag schlössen. Ihr fangt die Tiere, und ich … setze sie in Freiheit?«

»Kümmert Euch um Eure eigenen Angelegenheiten.«

»Das ist zu wenig, Herr Kollege. Man muss sich auch um die Beschwerden und Schmerzen der anderen kümmern, auch um diejenigen der kleinen Tiere, die sich an Euren spitzen Nadeln stundenlang zu Tode zappeln müssen.«

»Mir scheint, dass Ihr Euch erkühnt, mir gute Lehren geben zu wollen. Ich bedarf deren nicht, denn ich weiß wohl, was ich zu tun habe.«

»Ei, Herr Kollege, es kann auch dem Gelehrtesten und Weisesten nichts schaden, wenn er einen Rat befolgt, der ihm in aller Freundschaft erteilt wird, und uneigennützig obendrein. Zudem könnt Ihr nicht wissen, was mich veranlasst, den Anwalt gemarterter Tiere zu machen.«

»Nun wird es mir aber zu bunt«, rief Pullig und schwang seinen Krückstock, »geht schleunigst Eurer Wege, so weit Euch die Füße tragen!«

»Wohl«, erwiderte der Berggeist, »aber auch Ihr sollt nun gehen, so weit Euch die Füße tragen, und bei der Gelegenheit erfahren, mit wem Ihr es zu tun hattet.«

Damit wandte sich Rübezahl um und war mit wenigen Schritten dem Sonderling aus den Augen. Dieser knurrte noch eine Zeit lang über die Belästigung, spießte auch noch ein paar Räupchen auf, die er in seine Büchse steckte, als wolle er beweisen, dass ihm niemand Vorhaltungen zu machen habe, und ging dann langsam talwärts.

Aber auf einmal merkte er, dass die Büchse auf seinem Rücken sehr schwer wurde. Anfangs schrieb er es seiner Ermüdung zu und hielt es für selbstverständlich. Allein die Last wurde mit jedem Schritt schwerer und am Ende so unerträglich, dass er sich veranlasst sah, die Botanisiertrommel auf ihren Inhalt zu prüfen.

Kaum hatte er jedoch den Deckel geöffnet, so quoll aus der Büchse das eingesperrte Getier heraus, und zwar nicht so, wie er es gefangen hatte, sondern ganz verändert.

Die Schmetterlinge wuchsen zu ungeheurer Größe wie Riesenvögel, die Käferchen dehnten sich aus wie die gewaltigsten Seeschildkröten, aus den Raupen wurden Riesenschlangen, wie vorweltliche Tierscheusale, aus denen die Nadeln wie Mastbäume herausragten. Und all dies gespenstische Gelichter erhob sich drohend gegen den bestürzten Mann, der mit einem Ausruf des Entsetzens die verzauberte Büchse wegschleuderte und davoneilte, so weit ihn die Beine tragen wollten. Aber die Ungeheuer waren schneller als er, sie bissen und hackten nach ihm, sie rissen ihn hin und her, und das Fauchen und Heulen der Bestien brachte ihn ganz von Sinnen.

Die Jagd ging über Stock und Block, durch Knieholz und Dornen. Öfters fiel er, aber die furchtbaren Prügel, die er von seinen Verfolgern erhielt, trieben ihn zur letzten Kraftanstrengung. Schließlich sah er ein, dass er verloren sei, und wollte sich gerade in sein Geschick ergeben, da kam ihm ein rettender Gedanke.

Mit Aufwand seiner letzten Kräfte rief er: »Herr Berggeist! Herr Berggeist! Der Ihr mir als Doktor Riesenberger begegnet seid, ich bitte um Gnade! Ich will mich ändern, und Ihr sollt von nun an keinen Grund mehr zur Klage über mich haben.«

Da pachte ein Käfer den Elenden am Genick und schleuderte den laut Jammernden hinunter auf die Straße, dass ihm die Rippen krachten. Dort blieb er halb tot liegen. Aber nun hatte er endlich Ruhe.

Ein paar Fuhrleute fanden ihn nach einer Stunde, luden ihn auf ihren Wagen und brachten ihn in seine Herberge. Ohne Hut, Brille, Rock, Stock und Schuhe, furchtbar zerschunden, zerbissen und zerstochen langte er an, und es dauerte eine geschlagene Woche, bis er wieder zu Kräften kam.

Dann aber wurde er ein anderer Mensch, freundlich gegenüber jedermann, hilfsbereit und barmherzig, auch gegenüber der Tierwelt. Ins Gebirge hinauf traute er sich lange Zeit nicht mehr, und als er es später doch einmal wagte, tat er es nur, um sich an der schönen Natur zu erfreuen und zu erfrischen, wie andere gesittete Leute auch.