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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Welt-Detektiv Nr. 7 – 3. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 7
Der rote Fred
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

3. Kapitel

Harry Taxons Praxis

In der 44th Street gab es ein Haus, an dem jeder Vorü­bergehende ein Schild mit der Aufschrift Harry Taxon. Privatdetektiv lesen konnte.

Stieg man die zwei Treppen zum Büro empor, öffnete meist eine hübsche junge Frau die Tür, die den Besucher in ein gemütlich ausgestattetes Wartezimmer führte. Neben diesem befand sich der Raum, in dem Mr. Harry Taxon seine Besucher zu empfangen pflegte. Mit diesem Harry Taxon hatte es seine besondere Bewandtnis.

Es war kein Detektiv, der zu jenen zählte, die zu Tau­senden in New York herumliefen, nein, seine Praxis genoss einen außerordentlich guten Zuspruch. War das ein Wun­der? Nein, denn Harry Taxon war bis vor wenigen Jahren Assistent und rechte Hand Sherlock Holmes’ gewesen, dessen Ruhm von London aus in alle Welt gedrungen war. Und wer bei Sherlock Holmes in die Lehre gegangen war, der musste sein Handwerk verstehen! So wenigstens dachten die New Yorker, wenn sie in besonders kniffligen Fällen Harry Taxon zu Rate zogen – und damit kalkulier­ten sie sehr richtig, denn der junge Detektiv entwickelte in allen Angelegenheiten, die man ihm zur Aufklärung über­trug, so viel Schläue, Klugheit und Draufgängertum, dass er bald zu einem erklärten Liebling der New Yorker wur­de.

Vor einem halben Jahr hatte er geheiratet. Und die Glückwunschschreiben waren zu Hunderten ins Haus ge­flogen. Auch sonst war die Hochzeit unbeschreiblich schön gewesen, sodass Harry Taxon wirklich allen Grund haben konnte, zufrieden und glücklich zu sein. Dass er es doch nicht restlos war, lag daran, dass sein geliebter und über alle Maßen vergötterter Meister nicht aus London, wie er es eigentlich versprochen hatte, herübergekommen war.

In letzter Stunde hatte Sherlock Holmes ein neues Kapi­talverbrechen in Europa zurückgehalten, und so war statt seiner nur eine gekabelte Glückwunschdepesche gekom­men.

Auch Daisy, Harry Taxons junge Gattin, hatte damals über das Ausbleiben Sherlock Holmes’ große Betrübnis gezeigt, war ihr doch der Weltdetektiv durch Harrys be­geisterte Erzählungen so vertraut geworden, dass sie das Gefühl hatte, den berühmten Mann schon seit Jahren zu kennen.

Nun hatte Mrs. Taxon andere Gründe, betrübt zu sein. Mehr als einmal schluchzte sie: »Du hast mich gar nicht mehr lieb, Harry! Den ganzen Tag bist du fort, und manchmal auch noch die Nächte. Und das alles wegen fremder Leute, die in einer Tour zu dir kommen und dich mit Aufträgen überhäufen! Oh!«, rief sie oft unter Tränen, »ich ahne es schon, eines Tages bringt man dich noch tot nach Hause, weil irgendeines Mörders Kugel dich erreichte!«

Meistens gelang es Harry, seine geliebte Daisy bald wieder zu beruhigen und ihr klarzumachen, dass es sein Beruf sei, allerlei lichtscheuem Gesindel nachzuspü­ren.

»Und was die Kugel eines Mörders anbelangt«, schloss er dann lachend, »so kann ich dich beruhigen. Denke nur an Mr. Holmes, der noch tausendmal mutiger ist, als ich es je sein werde – und den doch noch keine Kugel tödlich traf,«

Ja, überhaupt Sherlock Holmes! Kein Tag verging, an dem das junge Ehepaar nicht an den vergötterten Meister auf dem alten Kontinent gedacht, an dem es nicht von ihm gesprochen hätte!

So war es auch heute wieder gewesen, als Harry Taxon mit seiner jungen Frau am Frühstückstisch gesessen hatte, aber nur allzu bald hatte es draußen an der Flurtür geläutet.

Da Daisy den Ehrgeiz hatte, die kleine Wirtschaft allein zu besorgen, besaß man auch kein Dienstmädchen. So schlüpfte Daisy selbst hinaus, aber an der Tür drehte sie sich noch einmal um und rief Harry schmollend zu: »Pass auf, das ist wieder einer, der dich zu einem Verbre­chen fortholen will!«

Dann verschwand sie, um die Vorsaaltür zu öffnen. Har­ry vernahm eine dunkle Männerstimme. Dann klappte die Tür. Aha, Daisy hatte den Besucher ins Wartezimmer ge­führt. Da erschien sie auch schon wieder auf der Schwelle.

»Was habe ich gesagt!«, rief sie. » Ein Mr. Tom Brown aus Cincinnati ist da und will dich in einer Betrugsaffäre sprechen! Ach, das fehlte ja auch noch, dass du jetzt für ein paar Wochen oder noch länger aus New York fortmusst!«

Harry Taxon lächelte, aber die Tatsache, dass drüben ein Kunde, wie er seine Besucher vergnügt zu nennen pfleg­te, seiner harrte, hielt ihn doch nicht länger am Frühstücks­tisch. Er gab Daisy schnell einen Kuss und verschwand im Arbeitszimmer. Hier öffnete er die Tür zum Warteraum.

Er erblickte einen schwarzbärtigen, breitschultrigen Herrn, der sich bei seinem Erscheinen sofort vom Sessel erhob. Sympathisch sah der Mann nicht gerade aus. Harry Taxon verhandelte lieber mit Leuten, die einen etwas freundlicheren Anblick gewährten. Dennoch bat er Mr. Brown aus Cincinnati liebenswürdig, nähertreten zu wol­len.

Der Fremde kam der Aufforderung sofort nach und be­richtete, als man sich im Arbeitszimmer gegenübersaß, angeregt von einem raffiniertem Betrüger, er ihn um eine halbe Million geschädigt habe.

»Fassen Sie den Kerl«, rief er, »und ich will Ihnen außer einem anständigen Honorar noch zehntausend Dollar extra geben. Ich hätte keine ruhige Stunde mehr in meinem Le­ben, wenn dieser Hochstapler ungestraft entkommen wür­de!«

Harry Taxon griff zum Block, um sich Notizen zu ma­chen. Aber ehe er dazu kam, einige Fragen zu stellen, rief Mr. Brown: »Der Teufel mag wissen, wie es zugegangen ist, dass ich auf den Betrüger hereinfiel. Noch niemals hat mich zuvor ein Mensch betrügen können. Immer hat mir mein zweites Gesicht gute Dienst geleistet!«

Harry Taxon legte jäh den Bleistift nieder.

»Sie besitzen das zweite Gesicht. Mr. Brown?«, fragte er betroffen.

»Ja. Schon von Kindheit an.«

»Schon viel hörte ich von dieser geheimnisvollen Kraft, die manchen Menschen eigen ist«, konstatierte Harry Taxon, »aber noch niemals begegnete ich einem Menschen, der selbst das zweite Gesicht besaß.«

Mr. Brown aus Cincinnati lachte kurz auf.

»Ja«, meinte er dann, »allzu viele Leute scheint es nicht davon zu geben. Und das ist auch gut so. Es ist nämlich furchtbar, alles zu wissen.«

»Alles zu wissen?«, wiederholte der junge Detektiv be­troffen. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie zum Beispiel alles wissen?«

»Alles nicht, aber vieles«, erwiderte Brown geheimnis­voll. Dann blicke er Harry Taxon scharf an.

»Sie scheinen mir nicht recht zu glauben, Mr. Taxon. Wenn Sie wollen, lege ich Ihnen auf der Stelle eine Probe des zweiten Gesichts ab!«

»Das wäre allerdings hochinteressant!«

»All right. Ich werde Ihnen beispielsweise erzählen, was Sie heute bisher getan haben!«

Harry Taxon war im Großen und Ganzen ziemlich kalt­blütig. Das hatte er von Sherlock Holmes gelernt. Die Worte des Fremden brachten ihn aber doch ein wenig aus dem Konzept.

»Was ich bisher getan habe?«, wiederhole er. »Das wol­len Sie mir sagen?«

»Ich werde so frei sein«, erwiderte Brown und lehnte sich in den Sessel zurück. »Fangen wir mit dem Rasieren an. Sie haben sich zwischen dreiviertel acht und acht rasiert. Stimmt das?«

»Allerdings.«

»Dann haben sie gefrühstückt. Das Frühstück bestand aus Schokolade, Brötchen, Butter und Eiern. Stimmt das?«

»Jawohl«, murmelte Harry Taxon, den Besucher etwas beunruhigt anstarrend. »Und weiter?«

»Dann unterhielten Sie sich mit Ihrer Gattin. Ihre Gattin ist dunkelblond, wie ich nur nebenbei bemerken möchte. Hm, ja … also Sie unterhielten sich mit Ihrer Gattin, und dabei kamen Sie auch auf einen Mann namens Sherlock Holmes zu sprechen. Stimmt das?«

»Ich bin fassungslos«, erwiderte Harry Taxon. »Alles was Sie sagen, ist Wort für Wort wahr.«

»Soll ich Ihnen noch mehr erzählen?«

»Ich fiebere darauf, noch mehr zu vernehmen.«

»Also gut. Während des Gesprächs äußerten Sie sich in sehr abfälliger Weise über jenen Sherlock Holmes und nannten ihn einen eingebildeten Burschen.«

Wie ein Blitz sprang Harry Taxon vom Sessel empor. »Wie«, rief er empört. »Das soll ich gesagt haben?«

»Etwa nicht?«, fragte Mr. Brown aus Cincinnati sehr er­staunt zurück.

»Niemals. Alles, was Sie bisher sagten, traf zu. Bis auf diese Behauptung!«

»Hm«, gab der Besucher abwehrend zurück, »es tut mir leid, auf meiner Behauptung bestehen zu müssen. Sie ha­ben gesagt, Sherlock Holmes sei ein …«

»Genug«, schnitt ihm Harry Taxon das Wort ab, »ich erkenne, dass auch das zweite Gesicht sich irren kann. Im Übrigen werde ich Ihnen eine Zeugin bringen, die Ihnen bestätigen wird, dass Ihre Behauptung nicht zutrifft!«

Er trat zur Tür und rief Daisy herbei. Als sie auf der Schwelle erschien, sagte er laut: »Sei so gut, Daisy, und teile diesem Herrn mit, was wir heute Morgen über Mr. Holmes gesprochen haben!«

Etwas verwirrt betrat Mrs. Taxon das Arbeitszimmer, aber sie prallte bereits nach wenigen Schritten zurück, als sie auf dem Sessel einen rothaarigen Mann erblickte. Das war doch nicht jener Mr. Brown, den sie vor wenigen Mi­nuten eingelassen hatte? In diesem Augenblick erkannt auch Harry, was für eine Veränderung im Aussehen seines Besuchers vorgegangen war.

»Ein Irrsinniger«!, fuhr es ihm durch den Kopf. Der Rot­haarige hockte auf dem Stuhl und grinste.

»Ah, guten Tag, Mr. Taxon!«, rief er. »Ach, wie mich das freut, Sie einmal wiederzusehen!«

Kein Zweifel war möglich: Es war ein Wahnsinniger! Nun erhob sich der unheimliche Mensch und traf Anstal­ten, auf ihn und seine Gattin zuzuschreiten. Kurz ent­schlossen zog Harry den Browning aus der Tasche.

»Keinen Schritt näher!«, rief er drohend. »Nehmen Sie augenblicklich wieder auf dem Sessel Platz.«

»Aber Harry!«, sagte der Rothaarige.

»Vorwärts!«

Mit einem leisen Lachen kam der Unheim­liche der Aufforderung nach. »Warum tragen Sie falsche Bärte?«, fragte Harry Taxon energisch.

»Weil es mir Vergnügen macht«, erwiderte der Irre.

»Nehmen Sie sofort Bart und Perücke ab.«

»Warum?«

»Fragen Sie nicht lange. Herunter damit!«

»Nein«, erwiderte der Mann, »ich denke nicht daran!« Und er lehnte sich behaglich im Sessel zurück, schlug die Beine übereinander und knackte mit den Fingern. In diesem Au­genblick ging eine seltsame Veränderung in Harry Taxon vor.

Er ließ die Waffe sinken, starrte dem Fremden einige Minuten lang scharf an und steckte dann plötzlich die Waf­fe ein.

»Liebste Daisy«, wandte er sich dann an seine leise be­bende Frau, »unserem Haus wurde heute eine große Ehre zuteil. Komm und gestatte bitte, dass ich dir … Mr. Sher­lock Holmes aus London vorstelle!«

Daisy stieß einen Schrei der Überraschung aus – und der Mann im Sessel sprang mit beiden Füßen zugleich auf die Beine.

»Teufelsbengel!«, rief er, während er sich mit einem Ruck der Perücke und des Bartes entledigte.

Sherlock Holmes stand im Zimmer. Er breitete die Arme aus, und Harry Taxon flog hinein. Ein Wiedersehen zwischen Vater und Sohn, die sich jahrelang nicht gesehen haben, konnte nicht herzlicher, nicht ergreifender sein. Beider Männer Augen waren feucht, als sie sich voneinan­der lösten.

»Ist es möglich«, rief Daisy wieder und immer wieder. »Mr. Holmes? Oh, wie mich Ihr Kommen glücklich macht! Harry hat mir so unendlich viel von Ihnen erzählt!«

»Und auch wirklich niemals von mir behauptet, ich wäre ein eingebildeter …«

»Aber Mr. Holmes!«, fiel ihm Harry Taxon ins Wort. Sherlock Holmes lachte behaglich.

»Glaub’s schon, mein lieber Junge«, meinte er, um sich dann Daisy zu widmen. »Aber wissen möchte ich doch«, wandte er sich nach einer Weile wieder an Harry’ »woran du mich so plötzlich erkannt hast!«

»Woran?« Harry Taxon lachte heiter. »An Ihrer Ge­wohnheit, mit den Fingern zu knacken. Mr. Holmes! Wie ich das hörte, stand es für mich fest, dass nur Sie es sein konnten, der mir da ein wenig Angst machen wollte! Aber nun möchte ich auch meinerseits wissen, wieso Sie wissen konnten, wann ich mich heute Morgen rasiert und was ich zum Frühstück genossen habe und dass Daisy dunkelblon­des Haar besitzt!«

»Nun«, antwortete der Weltdetektiv gutgelaunt, »was das Haar anbelangt, so gab mir dieses da«, und er nahm Harry ein langes Haar von der Schulter, »die nötige Aufklärung. Und was das Rasieren anbelangt – hm – auch das war nicht schwer zu erraten. Du hast dich nämlich geschnitten, Harry. Und derartige, kleine, kaum sichtbare Schnittstellen benötigen etwa eine halbe Stunde, ehe sie sich wieder schließen. Deine Schnittwunde stand just in diesem Stadi­um, und so konnte ich die Zeit leicht berechnen!«

»Großartig«, gab Harry Taxon von sich. »Aber nun noch das Letzte. Sie wussten, dass es zum Frühstück Schokolade, Brötchen, Butter und Eier gab. Wie kamen Sie darauf?«

»Dieses Rätsel war am leichtesten zu lösen«, antwortete der weltbekannte Detektiv, um dann, nacheinander auf Harry Taxons Krawatte, Weste und Rock deutend, fortzu­fahren, »die Krawatte zeigt einen frischen Schokoladen­fleck.«

»O wirklich, Harry«, rief Daisy erschrocken. »Die schö­ne Krawatte!«

»Die Weste da«, sprach Sherlock Holmes lachend weiter, »zeigt jetzt noch eine Anzahl Brötchenkrumen, und der Rock – dort oben am Ausschnitt – hat etwas vom weichge­kochten Ei abbekommen!«

»Wahrhaftig!«, rief Daisy außer sich. »Aber das kommt davon, weil er immer die Serviette unbenutzt lässt, Mr. Holmes!«

Harry Taxon aber hörte nicht den Vorwurf seiner Frau, er vernahm nur Sherlock Holmes Worte und ersah aus ihnen, dass Holmes noch derselbe scharfblickende, der er früher gewesen war. Und erneut stieg die Bewunderung in ihm für den einstigen Meister auf.

»Ja«, stieß er plötzlich laut hervor, »es gibt nur einen Sherlock Holmes auf der Welt!«

Fortsetzung folgt …