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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Welt-Detektiv Nr. 7 – 1. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 7
Der rote Fred
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

1. Kapitel

Die verschwundene Millionärstochter

Das fünfstöckige Gebäude, das sich auf der rechten Seite des oberen Broadway erhob, wurde ausschließlich von der Stahl-Trust-Company bewohnt, deren Präsident Mr. Texer war. Es gab in New York wohl keinen Men­schen, der Texer nicht gekannt hätte, gehörte er doch zu denjenigen, die eine typisch amerikanische Karriere hinter sich hatten. Ein armseliger Schuhputzer – heute sechsfa­cher Millionär, wahrhaftig, das war ein Aufstieg, der allsei­tige Verwunderung erregte.

Die Tatsache, dass Texer, der heute im fünfzigsten Le­bensjahr stand, nicht durch seinen Reichtum stolz und übermütig geworden war, sondern sich ein einfaches, schlichtes Wesen bewahrt hatte, machte ihn in allen Krei­sen beliebt.

Umso größer war daher die Anteilnahme der New Yor­ker. als vor acht Tagen die Zeitungen in langen Spalten von der geheimnisvollen Entführung Miss Ellen Texers, der Tochter des Millionärs, berichteten. Ellen war des Präsi­denten einziges Kind, sein Stolz, sein Alles. Mit abgötti­scher Liebe hing er an der nun achtzehnjährigen Tochter, die einmal die Erbin seiner Millionen werden sollte. Jahr­ein, jahraus hatte er sie behütet und vor aller Unbill des Lebens bewahrt, um nun einsehen zu müssen, dass alles umsonst gewesen war.

Unbekannte Schurken hatten sein Kind entführt, und trotz aller Bemühungen der Detektivzentrale war es bisher nicht möglich gewesen, auch nur die geringste Spur der Verschwundenen zu entdecken.

Das Personal der großen, prächtigen Villa, die Präsident Texer auf Coney Island bewohnte, sagte übereinstimmend aus, dass sich Miss Ellen an dem fraglichen Tag gegen zehn Uhr Vormittag in den Park begeben habe, um, wie sie es oft tat, auf dem kleinen See ein wenig zu rudern. Als sie nach zwei Stunden nicht zurückkehrte, wurde man unruhig und begann, nach ihr zu suchen. Aber wie man auch den Park, der rings von einer hohen Mauer umschlossen war, durchforschte, von Ellen fand sich keine Spur. Dafür trieb das Boot, das sie immer zum Rudern zu benutzen pflegte, steuerlos und leer in der Mitte des Sees.

Der sofort verständigte und entsetzt herbeieilende Vater ordnete das augenblickliche Abpumpen des Sees an. Er war außer sich vor Schmerz und musste alle seine Kräfte zu­sammennehmen, um nicht umzusinken, glaubte er doch nichts anderes, als dass er sein Kind nur als Leiche wieder­sehen würde. Aber als man alles Wasser aus dem See ab­gelassen hatte, stellte es sich heraus, dass Ellen nicht er­trunken war, denn nirgends fand man ihren Körper.

Das gab der geheimnisvollen Angelegenheit plötzlich ei­ne andere Wendung. Mr. Texer schöpfte mit der Kraft der Verzweiflung neuen Mut und seine Ahnung, man könnte Ellen vielleicht entführt haben, gewann festere Form, als man ihm die Meldung machte, dass die kleine eiserne Pfor­te im rückwärtigen Teil des Parkes Spuren einer gewaltsa­mem Öffnung aufweise. Die sofort verständigte Polizei bestätigte die Entdeckung. Die Mauerpforte war von außen aufgebrochen worden. In der Nähe fand sich sogar das Stemmeisen, mit dem die Tat ausgeführt wurde. Weitere Spuren, die auf die Persönlichkeit des unbekannten Ein­dringlings – oder vielleicht deren mehrere – schließen ließen, konnten jedoch nicht ermittelt werden, sodass man, kaum dass ein kleiner Lichtstrahl die dunkle Angelegenheit erhellt hatte, nach wie vor im Finstern tappte.

Aber Mr. Texer war es nicht allein, den das Verschwin­den Ellens an den Rand der Verzweiflung trieb. Noch ein Mann lebte, den der Schmerz um die Unglückliche zu überwältigen drohte: George Duncan, der Verlobte Ellens. Aber so sehr sich die beiden Männer auch abmühten, durch Aussetzung hoher Belohnungen und persönliche Nachfor­schungen die Arbeit der Polizei zu unterstützen, das junge Mädchen war und blieb verschwunden.

George Duncan saß oft stundenlang im Zimmer des Prä­sidenten und brütete Pläne aus, aber keiner von allen bot irgendeine Aussicht auf Erfolg. Bis Texer – es war am zweiten Tag nach dem Verschwinden Ellens – plötzlich aufsprang und in die Worte ausbrach: »Wenn mir je ein Mann mein Kind zurückbringen kann, so nur ein Einziger auf der ganzen Welt!«

»Und wer ist das?«

»Sherlock Holmes!«

»Der englische Detektiv?« George Duncan wehrte ab. »Was kann uns Sherlock Holmes nutzen?«, sagte er. »Er wohnt in London und die Reise nach New York ist weit. Wer weiß, ob er überdies bereit ist, um Ellens willen die Fahrt über den Ozean zu machen. Und kommt er wirklich, kann er frühestens in sechs Tagen hier eintreffen, und bis dahin …«

Mr. Texer ließ den Kopf hängen. Duncans Einwand war berechtigt. Dann aber erstickte seine Sorge um Ellen alle Bedenken.

»Ich werde es doch versuchen!«, rief er. »Sherlock Hol­mes hat schon Tausenden geholfen. Vielleicht kann er auch uns wieder glücklich machen!«

George Duncan hob die Schulter. Er schien sich nichts von dieser verzweifelten Aktion zu versprechen. Aber Texer ließ sich nicht mehr von seiner Idee abbringen und zehn Minuten später hatte er bereits die Kabeldepesche nach London aufgegeben. Erklärte sich der weltberühmte Detektiv bereit, den Fall zu übernehmen, musste sein Ant­worttelegramm bis fünf Uhr nachmittags einlaufen. Texer konnte die Zeit kaum erwarten. Die Minuten schienen ihm eine Ewigkeit zu sein. Aber schließlich wurde es doch fünf Uhr. Wo blieb des Weltdetektivs Antwort?

Es wurde sechs Uhr. Es wurde acht. Es wurde neun. Um zehn Uhr rief George Duncan an.

»Nun?«, fragte er durch den Draht. »Was kabelte Sher­lock Holmes?«

»Ich bin noch ohne Nachricht«, gab Texter erregt zurück. »Aber ich kann nicht glauben, dass Mr. Holmes so grau­sam sein kann, einen unglücklichen Vater ohne Antwort zu lassen. Wenn er nicht nach New York kommen will oder kann, so wird er wenigstens ein paar Worte zurückkabeln.«

Allerdings«, erwiderte Duncan, »aber ebenso kann es sein, dass er gar nicht in London weilt.«

»Ja, allerdings.«

An dieser Möglichkeit hatte Texer in seinem Kummer bisher nicht gedacht. Aber dennoch wartete er. Wartete mit der Hoffnung, die nur ein Verzweifelter kennt. So wurde es elf Uhr.

Langsam rollten die dumpfen Schläge der alten Standuhr durch den Raum. In den letzten Schlag mischte sich aber plötzlich ein unerwartetes Geräusch: das Klirren einer Fensterscheibe! Mr. Texer fuhr herum. Polternd fielen die Scherben zu Boden. In der Mitte des Zimmers lag ein gro­ßer Stein, an den man mit Bindfaden ein weißes Etwas geknüpft hatte. Texer presste die Hand auf das wildklop­fende Herz. Was bedeutete das?

Mit zitternden Fingern näherte er sich der Stelle, an der der Stein lag, und hob ihn auf. Ein Brief war es, der an ihm hing. Ein Brief, der die Aufschrift trug: An Mr. Texer. Präsident der Stahl-Trust-Company.

Er riss den Umschlag ab, zog den Bogen heraus und las, während ihm die Buchstaben vor den Augen tanzten.

Ich, der Entführer Ihrer Tochter Ellen, fordere Sie hiermit auf, mir ein Lösegeld von einer Million Dollar zu bezahlen. Falls Sie mir diese Summe übermitteln, werde ich das Leben Ihrer Tochter schonen und Sie Ihnen ohne Weiteres zurücksenden, ohne ihr auch nur ein Haar ge­krümmt zu haben. Wenn Sie sich aber weigern, mir das Geld zukommen zu lassen, so wird Ihre Tochter unter we­nig angenehmen Umständen sterben. Wagen Sie nicht, mich zu verfolgen. Das Schicksal Ihrer Tochter wäre damit endgültig besiegelt. In der Nacht vom vierten zum fünften April wird ein Hund auf Ihrem Grundstück erscheinen. Dieser Hund trägt um seinen Hals einen Riemen, an dem sich ein Ledertäschchen befindet. In dieses Täschchen stecken sie das Geld und lassen den Hund laufen. Er wird den Weg zu mir finden. Am nächsten Tag werden Sie Ihr Kind wieder in Ihre Arme schließen können. Versuchen Sie jedoch, den Hund festzuhalten oder zu verfolgen, wis­sen Sie, was geschehen wird.

Der rote Fred

Fortsetzung folgt …