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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Welt-Detektiv Nr. 6 – 1. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 6
Der Bettler-Millionär
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

1. Kapitel

Der Mann ohne Seele

»Mr. Holmes! Sehen Sie nur! Was mag das bedeuten?« Jonny Buston war es, der diese Worte erregt hervorstieß und nun mit der ausgestreckten Hand auf eine Frau wies, die in wilder Hast quer über die Wie­se stürmte – dorthin, wo das schmutzig-gelbe Wasser in die Themse schäumte. Sherlock Holmes hob den Kopf.

»Zum Teufel!«, murmelte er. »Das hat kaum Gutes zu bedeuten!«

»Sie trägt ein Kind auf dem Arm!«, rief Jonny. »Und immer schneller läuft sie! Wahrhaftig, sie will sich in den Fluss werfen!«

Für die beiden Männer gab es kein Zögern mehr. In mächtigen Sprüngen jagten sie der Frau nach, die, weder nach rechts noch nach links schauend, mit jedem ihrer schnellen Schritte dem Wasser näherkam.

Obwohl Jonny Buston ein ausgezeichneter Läufer war, blieb er doch bald hinter Sherlock Holmes zu­rück, dessen Füße kaum den Erdboden zu berühren schienen. Dennoch kam er zu spät, das Unglück zu verhüten.

Die Frau hatte die Themse bereits erreicht und sich blindlings, wie von einer unsichtbaren Macht getrie­ben, in das an dieser Stelle besonders tiefe Wasser geworfen. Als der Weltdetektiv das Ufer erreichte, konnte er just noch sehen, wie die Unglückliche in die Strömung geriet und mit einem herzzerreißenden Aufschrei versank.

Keinen Augenblick zögerte Sherlock Holmes, der Unbekannten nachzufolgen. Rock und Weste flogen zu Boden, dann verschwand er auch schon kopfüber in der Flut, um, wiederauftauchend, mit weitausho­lenden, kräftigen Stößen jener Seite zuzustreben, an der er soeben für Sekunden den Kopf der Unglückli­chen über der Wasserfläche erblickt hatte.

Er hatte Glück, noch einmal tauchte der Körper der Selbstmörderin aus den Fluten auf. Blitzschnell packte er zu und bewahrte so Mutter und Kind – denn um solche schien es sich zu handeln – vor dem endgültigen Versinken.

»Verhalten Sie sich ganz ruhig!«, schrie er der Frau zu, deren glasiger Blick sich wie der einer Irren an ihm festsaugte. »Bewegen Sie sich nicht. Ich bringe Sie ans Ufer zurück!«

Da ging eine schreckliche Veränderung mit der Unbekannten vor sich. Sie, die sich bisher willenlos von den Wellen hatte tragen lassen, ohne gegen den Tod anzukämpfen, bäumte sich nun wild empor.

Ein schrecklicher Schrei brach von ihren schnee­weißen Lippen, und gleichzeitig setzte sie sich wie toll zur Wehr, während sie mit dem anderen nach wie vor das Kind an sich presste. Anscheinend über­wältigte sie das Entsetzen, weiterzuleben. Sherlock Holmes war ein gute Schwimmer, der in seinem ta­tenreichen Leben mehr als eine Person vom Tode des Ertrinkens gerettet hatte, aber diesmal musste er doch alle Kräfte aufbieten, nicht auch noch selbst ein Opfer des nassen Elements zu werden.

Die Unglückliche schlug anfangs nach ihm, wohin sie traf. Dann ging sie dazu über, sich an ihm festzu­klammern, ihn so seiner Bewegungsfreiheit berau­bend.

Wie gewaltig, wie furchtbar musste in dieser Frau die Sehnsucht nach dem Tod leben, dass sie sich mit einer solchen Verzweiflung ihrer Rettung zur Wehr setzte! Obwohl der Weltdetektiv schließlich

doch mit ihr fertig geworden wäre, so begrüßte er es doch, als plötzlich Jonny Buston schnaubend und prustend neben ihm auftauchte.

Ihren gemeinsamen Anstrengungen gelang es dann, Mutter und Kind sicher ans Ufer zurückzu­bringen. Kaum hier angelangt, machte Sherlock Holmes eine furchtbare Entdeckung. Das Kind war tot. Nicht ertrunken, keineswegs! Der Tod musste bereits vor zwei Tagen eingetreten sein! Aber zu näheren Erwägungen über diese unheimliche Entde­ckung war nun keine Zeit, denn wenn es auch ge­lungen war. die unbekannte Frau den gierigen Them­sefluten zu entreißen, so war sie dennoch nicht außer Gefahr. Wie tot lag sie, völlig durchnässt, am Ufer und hielt die Augen geschlossen.

Erst zwei Stunden später, als man die Unglückli­che in das Krankenhaus des kleinen, nahen Städt­chens, in dem Sherlock Holmes oft das Wochenende zu verbringen pflegte, überführt hatte, wandte der Detektiv dem Leichnam des Kindes erneut seine Aufmerksamkeit zu. Seine ursprüngliche Vermu­tung, die Frau könnte das Kind in einem Anfall von Irrsinn oder Verzweiflung erwürgt oder auf andere Weise gewaltsam getötet haben, schien sich nicht zu erfüllen, denn der kleine Körper wies keine äußeren Spuren auf, die einen so furchtbaren Verdacht ge­rechtfertigt hätten.

Nach diesem Befund glaubte Sherlock Holmes eher auf einen natürlichen Tod des Kindes schließen zu können; auch der Leiter des Krankenhauses war dieser Ansicht und fügte hinzu, dass das kleine We­sen anscheinend an Unterernährung zugrunde ge­gangen sei.

»Ein Symptom«, schloss er, »welches ich auch soeben bei der Unbekannten festgestellt habe. Die beiden haben längere Zeit keine Nahrung zu sich ge­nommen. Vielleicht ist das der Grund, der sie ins Wasser trieb!«

»Hunger also!«

Sherlock Holmes nickte vor sich hin. Einige Minu­ten stand er unbeweglich. Dann reichte er dem Arzt die Hand.

»Ich weiß, Herr Professor, dass Sie alles tun wer­den, die Unglückliche durchzubringen, aber da man niemals wissen kann, was geschieht, möchte ich Sie herzlich bitten, mich von einer etwaigen Verschlim­merung in ihrem Befinden sofort zu verständigen. Ich wohne, wie immer, im HOTEL KENT. Und nun will ich gehen. Ich muss unbedingt in Erfahrung bringen, wer die Frau ist.«

»Vielleicht kann Ihnen da die Aussage der Hilfs­schwester einen Fingerzeig geben«, riet der Leiter der Anstalt schnell. »Sie gab vorhin an, die Frau schon mehrmals im Dorf gesehen zu haben, ohne aber ihren Namen zu kennen. Sie glaubt, dass die Kranke in einem der drei neuen Häuschen am Ende der Stadt wohnen müsse. Vielleicht sprechen Sie selbst mir der Schwester?«

Als diese gleich darauf erschien, wusste sie bereits Näheres zu berichten.

»Es ist so, wie ich es vermutete«, erklärte sie. »Die Patientin wohnt im allerletzten Häuschen des Orts. Sie heißt – ich erfuhr es soeben von der Oberschwes­ter – sie heißt Catherine. Ihr Mann soll in London verunglückt und gestorben sein. Seit dieser Zeit hat man sie selten gesehen. Sie wird sich den Tod ihres Gatten sehr zu Herzen genommen haben, und da sie anscheinend außerdem noch in Not geriet, dürfte es heute zu dem Verzweiflungsschritt gekommen sein.«

»Demnach scheint sie nicht Eigentümerin des Häuschens zu sein, das sie bewohnt.«

Die Hilfsschwester schüttelte den Kopf.

»Nein, Mr. Holmes. Die am Ende der Stadt neu errichteten Häuschen sind – das weiß man hier all­gemein – von einem Londoner Unternehmer errichtet worden.«

»So ist es«, warf der Professor ein, »das ist mir ebenfalls bekannt. Erbauer der neuen Häuschen ist der Londoner Millionär Nortley.«

»Nortley«, murmelte Sherlock Holmes.

Diese Mitteilung überraschte ihn sicherlich. Es schien, als wolle er in jäh aufsteigender Erregung eine Frage stellen, aber dann blieben seine Lippen doch stumm. Er dankte für die erhaltenen Auskünfte, bat nochmals, der Unglücklichen alle Pflege zuteilwerden zu lassen, und verließ dann das Kranken­haus, von Jonny Buston, der der Unterredung schweigend beigewohnt hatte, auf den Fersen gefolgt.

»Hast du das gehört?«, stieß Sherlock Holmes zwi­schen den Zähnen hervor, als er sich mit seinem Fa­mulus eilenden Schrittes auf den Weg zum En­de der Gasse zubewegte. »Hast du das gehört?«, wie­derholte er seltsam erregt. »Nortley hat die Häuser gebaut! Nortley!«

Er ließ ein merkwürdiges, hartes Lachen hören, und in seine kalten grauen Augen trat ein gefährliches Leuchten.

»Nortley!«, sagte er noch einmal. »Wahrhaftig, das ist eine wirkliche Überraschung!«

So schnell schritt er aus, dass Jonny kaum zu fol­gen vermochte.

»Es scheint«, keuchte er, sich mühsam an des Meisters Seite haltend, »dass Sie diesen Nortley nicht nur gut kennen, Mr. Holmes, sondern ihn auch nicht leiden mögen!«

»Von nicht leiden mögen, kann keine Rede sein«, gab der Weltdetektiv zurück, und seine Zähne knirschten. »Ich hasse diesen Menschen. Mehr als einmal habe ich mich schon insgeheim mit ihm be­schäftigt, aber der Bursche ist aalglatt und schwer zu fassen. Wo er seine Hand im Spiel hat, heimst das Verbrechen reiche Ernte ein. Nur er und der Teufel mögen wissen, wie viel seiner Opfer bereits auf den Friedhöfen modern.«

Jonny schnappte nach Luft. Einerseits, weil Sher­lock Holmes’ Gangart immer nurmiartiger wurde, andererseits, weil ihm des großem Meisters Eröff­nung in hohem Maße erregte.

»Wie?«, rief er mit rotem Kopf. »Ein Mörder ist dieser Nortley? Ein Mörder?«

»Ja«, knirschte der Weltdetektiv, »ein Mörder, aber wir werden ihn vernichten. Nortley ist ein Wucherer. Seine Geschäfte sind berüchtigt. Er presst die, die sich ihm verschrieben haben, bis auf den letzten Blutstrop­fen aus.«

»Und niemand ist da, der so einem Menschen das Handwerk legt?«

»Du redest, weil du es nicht besser verstehst«, erwiderte Sherlock Holmes finster. »Nortley ist schlau und mit allen Ölen gesalbt. Seine Geschäfte streifen fast immer das Zuchthaus, aber du hörst es ja: Er streift es nur! Der Bursche weiß ganz ge­nau, wie weit er gehen darf. Er kennt wie kein zweiter Verbrecher die Paragrafen des Ge­setzbuches, aber er kennt auch die Maschen des Pa­ragraphennetzes, die ihm ein Entschlüpfen jederzeit gestatten. Nein, mit offenem Visier kann dieser Mensch, der sich auf die dunkelste Art und Weise

Millionen erworben hat, nicht bekämpft werden. Wer ihm das Handwerk legen will, muss eine andere Tak­tik anwenden.«

Jonny Butsons ohnehin leicht erregbares Gemüt geriet immer mehr in Wallung.

»Seien Sie nicht böse. Mr. Holmes«, rief er, »aber ich begreife eigentlich nicht, dass Sie so einem Menschen nicht schon längst …«

»Weil immer Fälle dazwischenkamen, die wich­tiger waren«, erwiderte Sherlock Holmes. »Aber du hast recht, mein Junge, man sollte sich doch die Zeit neh­men, dieser menschlichen Schlange den Giftzahn auszureißen. Ich habe nur auf eine passende Gele­genheit gewartet, dem Mann ohne Seele, wie man ihn in gewissen Londoner Kreisen zu nennen pflegt, das Handwerk zu legen. Nun, aber wer weiß, vielleicht ist dieser Augenblick jetzt gekommen!«

»Jetzt?« Jonny stieß eine Verwünschung aus. »So glauben Sie also, Mr. Holmes, dass Nortley es war, der die unglückliche Mrs. Pooly in den Tod treiben wollte?«

Da wurde des Weltdetektivs Antlitz hart wie Stein. Und in seiner Stimme schwang ein unheilverkün­dender, eisiger Unterton mit, als er erwiderte: »Ich glaube gar nichts, aber ich weiß vorläufig, dass Nortley der Hauswirt Frau Poolys ist. Das ge­nügt, mich Böses ahnen zu lassen!« Dann schwieg er, bis sie das kleine Häuschen am Ende der Stadt er­reichten.

Fortsetzung folgt …