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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.19

Wo die Erde blutet – Teil 19

Heute haben die Beerdigungen stattgefunden, trompetete der Geruch wie ein missklingen­der Fanfarenstoß.

Tony erinnerte sich an den Tag, an dem der Überfall stattgefunden hatte. Und an den Moment, an dem er glaubte, nun sei die Gefahr gebannt, alles sei vorbei und überstanden. Dann war ihm etwas eingefallen.

»Ich muss nach Benevoglio schauen«, hatte er gerufen und Tony machte sich, so weit es ihm die schmerzenden Glieder erlaubten, auf den Weg in die Bibliothek. Unterwegs begegne­ten ihm einige der Bediensteten. Alle konnten auf Tonys Frage nach Benevoglio nur müde mit den Schultern zucken. Mit steigender Besorgnis hatte Tony seinen Weg fortgesetzt. Überall traf er auf Spuren der Zerstörung. Schließlich stand er vor dem Eingang der Bibliothek und schaute auf die Rücken dreier Leute vom Personal. Tony erkannte den langen braunen Zopf eines Hausmädchens. Ihren Namen kannte er nicht, aber sie war ihm schon einige Male auf­gefallen. Sie erinnerte ihn unwillkürlich an einen von einer spiegelnden Oberfläche zurück­geworfenen Sonnenreflex, einen goldenen, unruhigen Lichtkringel an der Decke. Sie melde­te ihr Erscheinen durch ihre helle Stimme, mit der sie die gerade aktuellen Schlagerschnulzen summte, dann gab es ein freundliches Nicken im Vorübergehen, ein Glitzern der braunen Augen und schon war sie vorbeigehuscht und selbst der schnellste Kopfschwenk konnte gera­de noch den Zopf auf dem geraden Rücken hüpfen sehen, während sie eine Treppe hoch­sprang und um die nächste Ecke sauste, wo ihr Summen verklang.

Jetzt hüpfte der Zopf nicht, sondern er bebte. Bebte wie das junge Mädchen, das von Weinkrämpfen erfasst und gerüttelt wurde. Einer der älteren Diener legte den Arm um ihre Schulter, redete beruhigend auf sie ein und führte sie fort. Das alles geschah mit der mühse­ligen Langsamkeit, die sich in Trauerhäusern breitmacht.

 

Die beiden gaben den Blick auf eine reglos liegende Gestalt frei. Tony trat näher und erkannte die junge Frau, die ihn und Lucille durch einen Geheimgang geführt hatte. Ihr Hals war eine klaffende Wunde, als hätte jemand versucht, ihr den Kopf abzuschlagen. Der Anblick war unerträglich, aber für Tony war dieser Schrecken schon wie eine fremde Sprache, die er hörte, aber nicht verstand.

»Er war es«, klang eine Stimme neben ihm.

Tony erinnerte sich, dass er zusammenzuckte, als wäre die dritte Person plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Erst da bemerkte er, dass der Diener eine Pistole in der Hand trug. Tony folgte dem Schwenk der Pistole und sah eine weitere Leiche. Es war der junge Mann, der Tony und die anderen in den Gang geschickt hatte.

»Ein Verräter«, sagte der Mann neben Tony.

Tony hatte genickt und etwas wie Ja, ich weiß gemurmelt. Ihm wurde klar, dass er es tat­sächlich gewusst hatte. Ihm waren auch die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen klar. Er kannte die Aufgabe, er wusste die Lösung, aber es fiel ihm endlos schwer, die Verbindung zwischen beiden herzustellen. Er hatte das sichere Gefühl gehabt, dass er die Wahrheit nur leugnen oder eher ignorieren müsste, um sie ihrer Macht zu berauben. Wirklich war nur, was Tony Tanner als wirklich akzeptierte.

Ihm war aufgefallen, dass der Leichnam des jungen Mannes förmlich in einer Blutlache lag. Sein gesamter Oberkörper war eine rötliche, formlose Masse. Der Mann, der neben Tony stand, musste den kompletten Inhalt seines Pistolenmagazins auf den Verräter entleert haben. Obwohl der Mann ruhig und auf geradezu aufdringliche Weise seriös gewirkt hatte, verstand Tony, welche Wut in ihm getobt haben musste.

»Ich muss nach Benevoglio schauen«, hatte Tony dann gesagt und hatte den Anschein erweckt, er wolle jetzt durch den Eingang zur Bibliothek gehen.

Es war nichts als absurdes Theater. Tony kannte das Stück. Er war daher fast erleichtert, als der Diener ihn an der Schulter fasste und zurückhielt.

»Gehen Sie nicht dort hinein«, waren seine Worte gewesen, ausgesprochen mit einer völ­lig tonlosen Stimme.

»Benevoglio«, hatte Tony noch gesagt und der andere hatte nur den Kopf gesenkt und ihn dann verneinend geschüttelt.

Und heute war also das Begräbnis gewesen. Tony wusste nicht, wie viele Opfer unter den Bewohnern von Collesalvetti zu beklagen waren. Die Mehrzahl wurde in ihren Heimatgemeinden beigesetzt. Meister Kis sterbliche Hülle wurde auf einem Holzstapel ver­brannt, wobei einige weiß verhüllte Gestalten auftauchten, ein weißes Strohseil als Absperrung um den Platz spannten und die Zeremonie vollzogen, um dann wieder zu ver­schwinden.

Die anderen sollten ihre letzte Ruhestätte unter einer Pyramide in einem entlegenen Teil der Gartenanlagen finden. Tony hatte das kleine Bauwerk schon aus der Ferne gesehen. Es ähnelte mit seinen steilen Wänden und der abgeschnittenen Spitze eher nubischen Grabmälern als den klassischen ägyptischen Vorbildern. Tony hatte diese Pyramide bis dahin für eine etwas ausgefallene, aber dennoch nicht ungewöhnliche barocke Gartenzier gehalten.

Der Conte leitete die Vorbereitungen mit der mechanischen Unermüdlichkeit eines Roboters. Im Gesicht des alten Mannes waren die Wunden wie eine ständige Erinnerung zu sehen. Seine Augen wirkten leer und Tony fragte sich, ob der Conte nicht in einer Art von Betäubung handelte, in die er sich zum Selbstschutz zurückgezogen hatte.

 

Alles lief so glatt ab, als ob es um ein seit Langem eingeübtes Theaterstück ginge. Diese Reibungslosigkeit bildete einen seltsamen Gegensatz zu den Geschehnissen, die die Begräbnisse erst notwendig gemacht hatten. Es schien fast, als müsste dem gewalttätigen Chaos ein Gegengewicht zugesellt werden.

Eine Störung hatte es allerdings gegeben und sie war gerade von Tony Tanner gekommen. Es war ihm ungeheuer schwergefallen, aber er hielt es für eine letzte Freundespflicht.

»Benevoglio kann hier nicht beigesetzt werden«, hatte Tony mit rauer Stimme gesagt, als ihn der Conte zu den offenen Gräbern an der Pyramide geführt hatte.

Der Conte zeigte darauf keine Reaktion, er nahm es resigniert hin und schaute nur in die Gruben, die sich wie gierige Mäuler aufsperrten.

Tony nahm den Conte an der Hand – er erinnerte sich in diesem Moment daran, wie Benevoglio ihn selbst in seiner kindlich-vertrauten Art an die Hand genommen hatte – und führte ihn zu dem Wiesenstück, an dem er zusammen mit dem toten Freund gesessen hatte.

»Benevoglio liebte dieses Stückchen Erde«, hatte Tony erklärt. »Hier soll er liegen.«

Tony erschrak ein wenig, weil er so autoritär daherredete, aber der Conte nickte nur zustimmend und antwortete mit einem zeremoniellen So sei es.

So fand Benevoglio seine letzte irdische Ruhestätte auf dem Stückchen Rasen, das für ihn so viel bedeutet hatte.

Tony wechselte die Sitzposition. Der Sessel knarrte ein wenig. Versonnen spielte Tony mit dem Ring an seinem Finger.

Der Conte hatte ihm das Schmuckstück gegeben. »Außer seinen Kleidern war dieser Ring der einzige Gegenstand, den Benevoglio in seinem Besitz hatte. Er hätte gewollt, dass sie ihn bekommen.«

Im schwachen Mondlicht schien der Aquamarin, der den Ring zierte, aus sich selbst heraus blau zu leuchten. Selbst das eingeschnittene Relief wurde erkennbar. Es stellte einen Drachen dar – seltsamerweise glich er der Darstellung, die Tony auf einer Tür zum Saal des Pendels gesehen hatte, aufs Haar. Der Ring schien alt zu sein, er vereinte feinste Handwerkskunst und wertvollste Materialien. Es war Tony ein Rätsel, wie Benevoglio in den Besitz eines solchen Stückes gekommen sein mochte. Der Verkauf des Ringes hätte Benevoglio zu einem wohlhabenden Mann gemacht. Aber was bedeuteten alle diese materiel­len Überlegungen …

 

Ein Geräusch schreckte Tony aus seinen Grübeleien. In diesem Moment schien der Aquamarin stärker zu leuchten, aber Tony hatte sich auch bewegt und so mochte der verän­derte Lichteinfall zu dem Effekt geführt haben.

Tony täuschte sich nicht. Jemand schlich unten herum. Wo waren die verdammten Wachen? Jetzt, wo man sie brauchte, waren sie natürlich irgendwo, aber nicht dort, wo sie sein sollten!

Tony lauschte und war hin- und hergerissen von aufsteigender Panik. Sollte er Alarm schlagen? Und wenn ja, wie? Oder sollte er sich ruhig verhalten, um abzuwarten, wer sich dort herumschlich? Der Name Panpopidis kam ihm in den Sinn. Angeblich war er in der Umgebung gesehen worden, als er verstohlen umherstreifte und aus sicherer Entfernung wilde Beschimpfungen ausstieß. Eine wirkliche Gefahr schien keiner in diesem Finsterling zu sehen.

Ein Lichtstrahl durchschnitt die Nacht. Ein zweiter, dann ein dritter leuchtete auf. Wie hastig suchende Finger strichen die schmerzhaft hellen Strahlen über die Wiese und die Fassade.

Etwas huschte durch den Lichtkegel. Sofort stürzten sich die anderen Strahlen wie wüten­de Hornissen auf die Stelle, suchten mit nervösen Schlenkern und erfassten eine Gestalt.

Die Person wirkte im ersten Moment Furcht erregend. Es war allerdings weniger ihr Aussehen als ihr Verhalten, das Tony einen Schauer über den Rücken jagte.

Der Unbekannte hob die Hände in die Höhe und begann auf der Stelle zu trippeln, als würde er einen beschwörenden, seltsam barbarischen Tanz aufführen. Die Lichtkegel schwankten, als die Wachen näher rannten. Aus dem Dunkeln klangen ihre rauen Stimmen.

Inzwischen hatte Tony registriert, dass es sich bei dem Unbekannten um ein wohlbeleib­tes Menschenmännchen handelte, das seine Blöße mit einem rot und blau karierten Flanellpyjama bedeckte. Bei seinen ekstatischen Tanzbewegungen geriet der Bauch in verti­kale Schwingungen und blitzte als heller Hautstreifen vorwitzig aus der Flanellhülle.

Tony stand auf und rief den anstürmenden Wachen etwas zu. Sie blieben verdutzt stehen, antworteten dann und zogen wieder ab.

»Das klang aber gar nicht nett«, sagte Dorkas.

Tony schaltete, bevor er seine Antwort gab, eine Lampe ein, in deren Schein er nun die rundliche Gestalt sehen konnte.

»Es war auch nicht nett gemeint«, antwortete Tony dann. »Man soll gar nicht glauben, wie viele Schimpfwörter die so klangvolle italienische Sprache doch besitzt.«

»Nicht wahr? Und das ist ein sehr faszinierendes Gebiet, denn in dem, was schimpflich erscheint, kann man sozusagen den Negativabdruck des Idealbildes einer Kultur erkennen.«

Die Begeisterung seines unerwarteten Gesprächspartners konnte Tony nicht anstecken. Er bemühte sich, nicht allzu sehr zu lallen.

»Was treibt Sie zu dieser gänzlich unbürgerlichen Zeit nach draußen auf die Wiese? Wollen Sie heimlich anfangen Sport zu treiben?«

»Wenn es so wäre, dann wäre ich jetzt kuriert. Nein, ich konnte nicht schlafen. Ich mache mir Sorgen wegen der Polizei«, bekannte Dorkas.

»Polizei? Die ist doch gar nicht aufgetaucht!«

»Eben darum«, bestätigte Dorkas eifrig. »Ich meine, Italien ist doch ein Rechtsstaat mit Gewaltenteilung und ähnlichen Errungenschaften. Also müsste doch hier mal die Polizei auf­tauchen, wenn es so was wie eine Schlacht gibt!«

»Vielleicht hat man in der Umgebung herumerzählt, dass Spielberg hier einen Film dreht?«

»Anscheinend vermögen Sie in der Sache eine kuriose Seite zu erkennen, die sich mir bis­her gänzlich verborgen hat, Herr Tanner! Trotzdem bereitet mir das alles Kummer, man will ja nicht an illegalen Aktivitäten teilnehmen.«

»Bisher hatten Sie weder Probleme, an solchen illegalen Aktivitäten selbst teilzunehmen, noch andere dazu anzustacheln. Ich rede aus Erfahrung, Dorkas.«

»Auch das bereitet mir Kummer, Herr Tanner.«

Tony überlegte einen Moment.

»Ich weiß, wo man zu dieser Zeit noch an Teewasser herankommt. Ich schlage vor, wir verlegen unser Gespräch auf die Terrasse und gönnen uns eine Tasse Tee. Ich kann nämlich auch nicht schlafen.«

Der Vorschlag fand sofortige Zustimmung. Als Dorkas sich schon auf den Weg zum Nebeneingang machte, durch den er hinausgeschlüpft war, tönte ein erschreckter Schrei über das Gelände, gefolgt von einem Wortschwall, den Tony nicht verstehen konnte. Dann kam Steele über die Wiese.

»Was war los«, erkundigte sich Dorkas besorgt.

»Nichts«, antwortete Steele grinsend. »Ich habe einer der Wachen nur von hinten auf die Schulter getippt, das hat ihn ein wenig aus dem Konzept gebracht.«

Dorkas murmelte etwas von kindischen Indianerspielen und verzog sich.

Steele schaute zu Tony Tanner hoch.

»Sie scheinen nicht viel von den Wachen zu halten?«, erkundigte sich Tony und registrier­te bei sich aufkeimende Besorgnis.

»Doch, doch«, Steele drehte sich um und schaute über das Gelände. »Die Leute sind gut. Aber es gibt bessere. Und wenn ich eben ein Messer dabei gehabt hätte, dann hätte ich dem Mann die Kehle durchschneiden können und an der Stelle hätten sich Bewaffnete einschlei­chen können, selbst wenn bei denen die Waffen etwas klappern und sie sich nicht völlig laut­los bewegen können. Nein, ein paar Stolperdrähte, Bewegungsmelder und Mikrofone wären nicht schlecht, um dieses Riesengrundstück abzusichern.«

Wie wäre es denn mit einem Minengürtel, dachte Tony.

Laut sagte er: »Ich hatte mich gerade mit Dorkas zu einem Tee auf der Terrasse verabre­det, trinken Sie eine Tasse mit?«

Tony scheuchte ein dösendes Dienstmädchen auf, das in der Ecke der großen Küche auf einem Hocker saß. Im Hintergrund dudelte ein Transistorradio. Auf dem Schoß der jungen Frau lag ein Roman mit kreischbuntem Umschlag, auf dem ein ziemlich nackter langhaariger Jüngling mit Bodybuilder-Figur einer ziemlich angezogenen Blondine zu Füßen lag. Das Buch fiel auf den Boden, als Tony mit einer Schranktür klapperte und sie ihn bemerkte.

»Entschuldigung«, sagte Tony, der sich plötzlich so fühlte, als wäre er in ein fremdes Schlafzimmer eingedrungen. »Ich wollte nur Tee machen.«

In den letzten Tagen hatte Tony gelernt, wo die entsprechenden Zutaten standen – der Service auf Collesalvetti hatte etwas gelitten.

Das Dienstmädchen bestand darauf, den Tee selbst zu servieren. Tony traute sich im Umgang mit dem Tablett weniger Geschicklichkeit zu und war heilfroh, die schwere Verantwortung für den Teetransport nicht übernehmen zu müssen.

 

Auf dem Weg zur Terrasse sah er Werkzeuge, Mörtelsäcke und Farbeimer an den Wänden stehen, sodass er manchmal das Gefühl haben musste, sich auf einer Baustelle zu bewegen.

Dorkas und Steele saßen schon auf der Terrasse. Seit dem Überfall waren sie nicht mehr hier gewesen und sie empfanden ebenso wie Tony Tanner, der hinzutrat, eine seltsame Befangenheit. Instinktiv wählte jeder von ihnen seinen gewohnten Platz, und erst als sie erkannten, dass sie dadurch die bedrückte Stimmung noch verstärkten, rückten sie zusammen.

Der Tee wurde serviert und dann saßen sie vor ihren Tassen und spielten mit den schma­len Löffeln. Sie wirkten wie drei Fremde in einem Wartesaal, wenn sich der Zug wegen Schneesturms verspätet hat.

Schließlich bemühte sich Dorkas um Konversation.

»Wie war das noch einmal mit dem Waffenöl?«, fragte er Steele.

Steele fuhr aus seinen Gedanken auf. »Waffenöl? Ach so, es ging um den Geruch. Wenn man eine einigermaßen feine Nase hat, kann man den Gegner im Dunkeln dadurch ausma­chen. Es funktioniert. Vor allem im Dschungel, wo die Waffen wegen der Feuchtigkeit immer besonders gepflegt werden müssen. Oder Mückenspray, das kann man zehn Meilen gegen den Wind riechen.«

»Bei dem Mief nach Farbe und Duftwasser würde man hier garantiert auf diese Weise kei­nen anschleichenden Gegner erkennen«, warf Tony Tanner ein.

Steele starrte ihn einen Moment an, sodass Tony sich fragte, ob er den anderen jetzt belei­digt hatte. Aber Steele sagte nur knapp: »Das sind Feinheiten für Profis. Im Normalfall bemerkt man den Gegner daran, dass er auf einen schießt.«

»Aber irgendwie müssen Sie doch auf das Thema gekommen sein«, beharrte Tony, der sich durch Steeles Verhalten mal wieder provoziert fühlte und jetzt erst recht nachhaken woll­te.

»Es war die Kernseife, glaube ich«, mischte sich Dorkas ein.

Steele schaute wieder in seine Tasse und schien nachzudenken. Schließlich ließ er sich durch das erwartungsvolle Schweigen der beiden anderen doch aus der Reserve locken.

»Ich habe versucht, ein wenig über die Angreifer herauszufinden«, erklärte er mürrisch. Man merkte, dass Steele mit seinen Gedanken an ganz anderer Stelle war. »Wir haben keinen lebend in die Hände bekommen. Einige waren nur verletzt und zerbissen eine Zyankali-Kapsel, die sie bei sich trugen. So eine Giftkapsel hatte jeder bei sich. Es gab keine Tätowierungen, nichts, was irgendwie einen Hinweis auf die Person zulassen könnte. Allem Anschein nach haben sie sich auch alle mit derselben Sorte Kernseife gewaschen – daher kam ich auf das Thema. Alle Registriernummern auf den Waffen waren herausgelasert – das bedeu­tet, dass es wirklich keine Restspuren davon gibt, die Munition stammte von verschiedenen Herstellern, die Ausrüstung sowieso. Alles perfekt, aber nichts dabei, wo man sagen könnte, das kommt von dem Hersteller oder wird über den und den Lieferanten bezogen. Die Waffen waren britische Armeemodelle, aber es gab auch russische Modelle und bei einigen habe ich den Verdacht, dass sie pakistanische Nachbauten sind. Messer von Glock und Puma und ein paar sowjetische Bajonette. Selbst die Etiketten in der Kleidung fehlten. Nichts, kein Hinweis, gar nichts.«

Steele starrte wieder vor sich hin, wählte aber zu Tonys Beruhigung einen Punkt an der Decke zwecks Blickfixierung. »Ich bin immer neugierig, wer mich umbringen will«, fügte Steele dann hinzu und leerte seine Tasse. Eine zweite Tasse wollte er nicht, er grüßte knapp und ging. Vom Gang her ertönte lautes Scheppern, als Steele gegen einen Farbeimer stieß. Dann trat er offensichtlich wütend gegen das Hindernis und es schepperte ein zweites Mal, diesmal lauter, als der Eimer irgendwo farbschmatzend an eine Wand krachte.

»Es ist alles sehr unerfreulich«, sagte Dorkas, nachdem das Geräusch verklungen war. Er schlürfte seinen Tee, er schien sich dabei hinter seiner Tasse verstecken zu wollen.

»Wie geht es mit der Rekonstruktion des Planes voran?«, erkundigte sich Tony. Er war plötzlich ungeheuer müde und suchte nur noch nach einer eleganten Möglichkeit, um sich in sein Zimmer zu verabschieden.

»Sehr gut.« Dorkas war wieder voller Eifer und wirkte nicht wie jemand, der vor kurzem noch lächerliche Tänze auf fremder Wiese vollführt hatte. »Wir haben den Zustand vor dem … » Dorkas suchte plötzlich nach dem richtigen Ausdruck und wirkte in seiner unschuldigen Verhuschtheit wie ein Erwachsener, der einem Kind etwas über Sex erzählen soll.

»Ich weiß, was Sie meinen«, half ihm Tony.

»Also, den Zustand haben wir wieder. Aber interessanterweise zeigten sich bei der Rekonstruktion einige unbekannte Varianten, die wir vorher nicht in Betracht gezogen hat­ten.«

»Also ist der Plan jetzt besser als vorher?«

»Es klingt seltsam, aber es ist so.«

»Ein hoher Preis,« murmelte Tony.

Schweigend leerten sie die Kanne und trennten sich dann.

 

***

 

Lucille steckte ihr wunderhübsches Näschen in den Wind und erschnüffelte den frischen Geruch nach Wald, den er mit sich brachte. Allerdings überkam Tony der Verdacht, dass sie diese Position – in der ihr Profil wirklich bis an die Grenzen des Möglichen reizend aussah ­vor dem Spiegel eingeübt hatte. Besonders hilfreich war das allerdings nicht. Lucille bemüh­te sich um ihn, soviel war klar. Sie hatte sich selbst bei Tony zum Frühstück eingeladen und es geschafft, ihre Zahnbehaarung derart zu leugnen, dass sich beide entspannt und locker plaudernd dem Genuss eines friedlichen Morgens hingeben konnten.

Unter normalen Umständen hätte Tony Tanner sein Liebesleben nun mit Hilfe von Lucille Chaudieu sehr befriedigend organisiert. Aber die Umstände waren nicht normal, weil ihm der Name Maddalena durch den Kopf schwirrte. Nicht nur der Name, sondern ihr Bild. Ihr Gesicht, ihre Gestalt, ihr Lächeln, das sie selten zeigte und das daher für Tony wie ein wert­voller Edelstein wirkte, den er in das Geschmeide seiner nicht gänzlich keuschen Träume ein­setzte. Natürlich war das Lucille nicht entgangen. Sie brauchte nicht einmal die instinktive Witterung der schönen Frau, der eine Konkurrentin die Bahn kreuzt. Sie konnte es an Tonys Verhalten bemerken. Er war ihr gegenüber so rücksichtsvoll und höflich wie es nur ein Mann sein kann, dessen Gefühle sich gänzlich einer anderen zugewandt haben.

»Warum lächelst Du?«, hörte sie Tony fragen.

Lucille rollte ein wenig verlegen die Augen – auch dies eine perfekte Inszenierung, die sie schon beherrscht hatte, als sie noch ein niedliches kleines Mädchen mit Pippi-Langstrumpf-Zöpfen gewesen war.

»Es geht mir gut – den Umständen entsprechend. Warum soll ich also nicht lächeln?« Und sie lächelte und hätte in diesem Augenblick den Neid der Venus erweckt, hätte sich die schönste der Göttinnen gerade aus geschäftlichen oder sonstigen Gründen in den Gefilden der Irdischen aufgehalten.

Tony blickte misstrauisch.

»Wenn Frauen so lächeln, sind sie meistens schwanger«, behauptete er, ohne die Quelle seiner Erkenntnis preisgeben zu wollen.

Lucille antwortete nicht, nur ihr Lächeln gewann eine zusätzliche Nuance an Liebreiz und lag somit bei geschätzten 120 Prozent.

Hinter Tonys Stirn begann es zu arbeiten. Also doch, blitzte es in ihm auf, sie hat es mit Steele getrieben und jetzt hat der Kerl sie geschwängert und sie findet das auch noch toll …

Tonys Griff zur Teetasse war etwas unsicher, sodass das Porzellan auf der Untertasse klapperte.

Unter ihren dichten Wimpern hervor traf ihn ein Blick Lucilles, den ein neutraler Beobachter nur mit dem Blick eines Jägers vergleichen könnte, der die Wirkung seines Schusses beobachtet.

Tony steckte die Nase tief in die Tasse und verschluckte sich dabei fast. Lucille richtete sich halb auf und klopfte ihm mit schwesterlicher Fürsorglichkeit auf die Schulter. Touché, sie hatte einen Blattschuss erzielt.

»Geht es?«, erkundigte sich Lucille, setzte sich wieder, schob dabei den Sessel ein wenig zurück und schlug die Beine übereinander. Jetzt erst lohnte es sich, denn jetzt waren sie in Tonys Blickfeld. Lucille hatte lange gebraucht, um alle Blutergüsse mit Make-up abzudecken.

Sie triumphierte innerlich. Sie hatte ihn. Tony Tanner zappelte am Haken. Männer waren ja so simpel.

Was interessiert mich das uninteressante Sexualleben einer hinterhältigen uninteressanten Ziege, die mich nicht die Bohne interessiert, schimpfte sich Tony – ebenso innerlich. Er hatte eine Universalmedizin gegen Lucille-induzierte Seelenkrämpfe. Maddalena. In seinem Gedächtnis speicherte Tony jede Geste, jedes Lächeln, jeden Blick, den Maddalena ihm geschenkt hatte. Er ging diese geheime Liste durch wie ein ängstlicher Urlauber, der den Kofferinhalt kontrolliert, prüfte, wog ab und kam doch immer wieder zu demselben Ergebnis … Maddalena wartete nur auf einen kleinen Wink von ihm, um sich in seine Arme zu werfen. Sie harrte, sie hoffte, sie brannte, ja, sie stand förmlich in lodernden Flammen. Spätestens dann sagte sich Tony, Du übertreibst mal wieder, alter Knabe und suchte Ablenkung, was sich nicht einfach gestaltete, weil überall in seinen Gedanken nur die wunderschöne, überir­dische, engelgleiche Maddalena Strozzi zu finden war.

Dennoch konnte er die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Was in diesem Moment genau unter die Sache zu verstehen war, wusste Tony selber nicht genau. Jedenfalls gab ihm die Erkenntnis, dass Lucille von Steele schwanger war, einen Stich, und das allein schon schrie nach einer Revanche.

Lucille war in bester Stimmung, plauderte und lächelte und schlug manchmal das rechte Bein über das linke und manchmal das linke Bein über das rechte.

»Ich hätte Lust auf einen Spaziergang«, flötete sie nach einer Weile. »Magst Du mitkom­men?«

In Tonys Augen blitzte es boshaft auf. Mademoiselle ließ die Deckung hängen, das war geradezu eine Einladung zur Attacke. Jetzt galt es, geschickt vorzubereiten, um dann ansatz­los die Rechte gerade auf den Punkt zu setzen.

»Oh ja, es wäre mir ein Vergnügen«, antwortete Tony daher und bemühte sich, seine Stimmbänder mit einem gewissen Schmachten einzusalben.

Lucille strahlte. Ein bisschen zu sehr für eine Person, die sich der ersten Anzeichen von Schwangerschaft erfreut.

Das machte Tony regelrecht wütend.

Jetzt war es Zeit für den K.-o.-Schlag.

»Vorher möchte ich allerdings noch einmal Little besuchen«, verkündete er mit perfider Beiläufigkeit.

Lucille setzte die Beine nebeneinander und hatte plötzlich die Haltung einer vergrätzten Gouvernante. Volltreffer. Frauen waren ja so simpel.

»Little braucht vor allem Ruhe«, sagte Lucille.

»Sicherlich«, gab Tony herablassend zu. »Aber manchmal fällt ihm schon die Decke auf den Kopf.«

»Trotzdem ist es nicht gut, wenn ständig so viele Leute in seinem Zimmer sind.«

»Sind doch gar nicht – Little, meine Wenigkeit …«

»Und das Mädel.« So wie Lucille das Wort aussprach, musste Maddalena die hässlichere der beiden Schwestern von Tarantula sein.

»Na ja, als Pflegerin, muss sie doch da sein«, erklärte Tony mit unschuldigem Augenaufschlag.

»Weißt Du was, ich komme einfach mit! Dann können wir hinterher gleich zum Spaziergang starten«, sagte Lucille.

»Du hast doch eben selbst gesagt, dass Little nicht so viele Leute um sich haben soll?«

Das Gespräch hätte unterhaltsam werden können, wurde aber durch Dorkas Stimme unter­brochen.

 

Zusammen mit dem Conte ging er unter dem Balkon vorbei. Der Wissenschaftler wirkte geradezu aufgedreht und winkte mit einigen Blättern.

»Peak-Maude hat sich gemeldet«, rief Dorkas. »Wir wissen jetzt wieder ein wenig genau­er über die Forza Nobile Bescheid. Und der Oba von Wankungongona hat schlechte Träume!«

Tony bemühte sich um eine begeisterte Mimik und verstand nichts.

»Wir sollten uns heute Nachmittag treffen, es gibt einiges zu besprechen«, sagte der Conte. Er nickte zum Abschied und ging dann neben Dorkas weiter über die Wiese.

»Wäre es Ihnen unangenehm, wenn ich mich bei Ihnen unterhake? Mir ist etwas schwind­lig?«, fragte der Conte.

Sie gingen weiter und der Conte lauschte den Ausführungen, die Dorkas über afrikanische Kulturen von sich gab.

Seine ausschweifenden Gedankenflüge wurden jäh unterbrochen, als der Conte zusam­menbrach und Dorkas um ein Haar mitriss.

Dorkas kniete neben dem reglosen Conte di Saloviva und begann, recht flehentlich um Hilfe zu rufen.

Doktor Antonescu war erstaunlich schnell zur Stelle. So schnell, dachte Tony Tanner, als habe er sozusagen hinter einer Tür auf den Notfall gelauert. Der Mediziner eilte über die Wiese, in einem Watschelschritt, der wirkte, als habe man ihn beim Wassertreten gefilmt, um dann den Film mit überhöhter Geschwindigkeit ablaufen zu lassen. Dabei schlackerten die Hosenbeine, als würden sie gerade einmal stelzendünne Extremitäten verdecken.

Vom Äußeren her wirkte Doktor Antonescu wie der dickere Bruder von Dorkas. Er war etwas größer, etwas breitschultriger und etwas unförmiger. Anscheinend war er sich seiner figurmäßigen Defizite soweit bewusst, dass er sie durch Unmengen von wehendem Stoff zu kaschieren trachtete. Tony hatte ihn bisher nur drei Mal gesehen und jedes Mal trug der Mediziner einen altertümlich wirkenden schwarzen Gehrock-Anzug, was einerseits die Birnenform seiner irdischen Hülle höchst unvorteilhaft hervorhob und ihn andererseits eher wie einen Leichenbestatter, denn als Angehöriger der Heilzunft auswies, deren eidmäßige Verpflichtung es ja war, dem Bestatter die Kundschaft abspenstig zu machen.

So war es also durchaus kein erhebender Anblick, besagten Doktor Antonescu mit wehen­den Rockschößen über die Wiese watscheln-wieseln zu sehen. Hinter ihm trug ein Hausmädchen die Medizinertasche und wirkte in ihrem blau-weiß gestreiften langen Rock, der bei jedem Schritt aufflog, deutlich erfreulicher.

Inzwischen hatten sich Tony, Lucille und Steele um den Conte versammelt. Alle wirkten hilflos, und selbst als Steele den Conte mit erstaunlicher Sanftheit drehte und stabile Seitenlage knurrte, verdeckte er damit für alle offensichtlich nur seine Verlegenheit.

»Er ist tot«, sagte Dorkas tonlos.

Keiner antwortete. Es gab nichts zu leugnen. Die Haut des reglos liegenden Conte war weiß, Tony hatte versucht den Puls zu fühlen und dann sogar, mit innerem Widerstreben, weil er es für eine schwer durchführbare Respektlosigkeit hielt, das Ohr an die Brust des Conte gehalten. Aber es war kein Herzschlag zu bemerken, ebenso wenig wie eine Atemtätigkeit.

 

Tony stand wie betäubt da, er hatte sich Grasflecken an den Knien geholt, die nie wieder herauszuwaschen sein würden und es war ihm völlig egal. Lucille war mit ihm gekommen ­sie hatten die Szene ja von dem Balkon aus beobachten müssen – nun stand sie auf der ande­ren Seite des liegenden Conte, Schulter an Schulter mit Steele. Auch das war Tony egal. Jedenfalls ziemlich …

Aber während er auf den heranwatschelnden Doktor schaute und dahinter das Aufblitzen der weißen Strümpfe des Hausmädchens bemerkte, wenn bei ihren weiten Schritten der Rocksaum flog, fragte er sich, was nun werden sollte. Jetzt erst erkannte er die Bedeutung, die der Conte gehabt hatte. Er war die Seele gewesen, die alle Aktionen durchdrang, er war die treibende Kraft im Hintergrund, selbst als weder Dorkas noch Tony von ihm wussten. Jetzt standen sie nur herum. Mit hängenden Armen und wenn sie diese Arme zur Seite gestreckt hätten, hätte keiner den anderen berühren können, so sehr schien der Abstand zwischen ihnen schon gewachsen zu sein.

Doktor Antonescu trat schnaufend zu ihnen, grüßte mit undeutlichem Brabbeln, von dem nicht klar war, ob er Lateinisch oder in seiner rumänischen Muttersprache, auf Italienisch oder einem Gemisch aus allem sprach und wartete auf seine Tasche. Schon im Normalzustand wirkte er so, als hätte er sich gerade lange in einer sehr heißen Küche, in der sehr fettig gekocht wird, aufgehalten. Sein Anblick erweckte in Tony die Assoziation an den Mief einer vernach­lässigten Pommesbude. Das war ziemlich ungerecht, denn Antonescu hüllte sich in eine weit reichende Duftwolke, die Tonys Kennernase als Sandringham identifiziert hatte. Aber kein Duftwasser dieser Welt kam gegen den ständigen Schweißschimmer auf Stirn und Nase des Doktors an und dazu taten die am Schädel klebenden Locken ein Übriges. Die Natur hatte ihr Kind Nicola Antonescu mit reichlich vielen, sehr schwarzen, sehr lockigen, sehr fettig glän­zenden Haaren gesegnet – er hatte sie auf dem Kopf, wo sie ihm bis auf die buschigen Brauen herabfielen und auch an Backen und Kinn, wo sie sich trotz eifrigen Rasierens als ständiger dunkler und daher schmuddelig wirkender Schimmer in ihrem Wachstum nicht bändigen lie­ßen. Zwischen diesen beiden Erscheinungen männlicher Haarpracht fristete ein hellbraunes Augenpaar sein Dasein. Augen, die Tony als hübsch und freundlich eingestuft hätte, die aber unter der Diktatur wild wuchernder Brauenbögen standen und daher so wenig freundlich wir­ken konnten wie eine gütige Großmutter im Justizpalast eines strengen Regimes. Eine runde Brille balancierte auf der Nase und sollte den Augen zu schärferer Sicht verhelfen. Das gelang ihr selten, denn meistens rutschte sie herunter, weil sie auf der breiten, aber stupsigen Nase keinen Halt finden konnte und nur wie ein unentschlossener Selbstmordkandidat am Rande der Klippe kurz vor der Spitze kleben blieb, bis sie von dem Doktor mit ungeduldigem Schnaufen und meistens ebenso schief wie vergeblich zurückgeschoben wurde. Weil das in Sekundenabständen geschah, hatte sich der Doktor angewöhnt, den dazu benötigten rechten Zeigefinger ständig, wie in permanenter Ermahnung, ausgestreckt zu lassen. Das Schnaufen kam aus einem dicklippigen Mund, der von seinen Ausmaßen in das Antlitz eines aufgespritz­ten und Silikon verfeinerten Starlets gepasst hätte. Man konnte den Eindruck haben, dass eine verborgene Kraft die Lippen nach außen gezwungen hatte. Tony war sicher, dass es sich um die Sprache handelte, die über die Zunge des Doktors kam und immer etwas gewitterhaft Grollendes an sich hatte und dabei mit rollenden R nicht wie bei di Petri an handfeste Fischer, sondern an brutale Balkanschmuggler denken ließ.

 

Wie immer trug der Doktor eine Krawatte. Wie immer war sie unpassend und schlecht gebunden und hing schief wie ein festgefrorener Uhrenpendel. Und wie immer schob sich zwischen den Hemdknöpfen schwarzes Brusthaar ans Licht wie die surreale Inszenierung eines Gefangenenaufstandes.

Der Doktor ging in die Knie und wühlte, ohne hinzuschauen mit einer Hand in seiner Tasche. Seine andere Hand zuckte zum Gesicht und sein Zeigefinger traf wie eine Harpune die Brille, allerdings nicht am Mittelbügel, sondern mitten auf dem linken Glas, wo er einen schmierigen Streifen hinterließ.

Brabbelnd beugte sich Antonescu über die Leiche des Conte, klopfte hier, zupfte da, fand ein Stethoskop und horchte, warf es schnaubend und unwillig zur Seite und legte ein Ohr auf die Brust des Toten. Er wirkte nicht wie ein kundiger Mediziner, sondern wie jemand, der eine Hyäne nachmacht.

Hinter sich vernahm Tony Flüstern. Als er sich umdrehte, sah er in die besorgten Gesichter der Hausangestellten. Alle kamen sie langsam aus dem Gebäude und bildeten einen weiten Kreis um den Conte.

Vom Haus her erklangen dennoch weiter die Hammerschläge und Stimmen der Handwerker. Tony bemerkte es, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen.

Er bemerkte auch, dass sich Lucille, mit tränenfeuchten Augen gegen Steele gelehnt hatte. Und er bemerkte, dass dies Steele völlig egal war. Sogar egaler, als es Tony Tanner selber war – falls das überhaupt möglich gewesen wäre. Aber Steele hatte auch die Geräusche aus dem Haus gehört. Für einen Moment trafen sich die Blicke von Tony und Steele und Tony erkann­te, dass der andere etwas mit diesem Lärm verband. Vielleicht war Steele einfach wütend, weil es so unpassend und pietätlos war.

 

Antonescu brachte inzwischen ein kurioses Gerät zum Vorschein. Es hatte Ähnlichkeit mit einer Spritze, aber auch mit einer Ölpumpe.

Tony konnte nicht beobachten, was der Doktor damit anstellte, als er seine Hyänenpantomime weiter betrieb und förmlich über den toten Conte hinwegkroch.

Aber er hörte den leisen Seufzer, der aus dem Mund des Conte kam.

»No es facile fare viventi questo uomo con multi anni und much stress«, äußerte Doktor Antonescu. Er nutzte jetzt tatsächlich einen kuriosen Mischmasch europäischer Sprachen.

»No estaba veramente morte, es una forma di asylum interiore, capisce?«

»War er tot?«, wagte Lucille zu fragen.

Der Doktor sah sie erbost an, gleichzeitig hieb er sich erneut die Brille gegen die Nasenwurzel, wobei er einen zweiten fettigen Striemen auf dem Glas produzierte.

»Questo nonsens«, schimpfte er. »El conte es un uomo di sanitate perfetto. Il needs sola­mente questo quietate. Ruhää, sleep. Dormir, dormare in asylum interiore!«

Daraufhin hob der Doktor die angewinkelten Arme, als wäre er jetzt von der Hyänen- zur Vogelpantomime übergegangen.

Tony Tanner verstand die Geste zuerst und half dem Doktor beim Aufstehen, was aller­dings erst gelang, als auch Steele seine Kräfte zur Verfügung stellte. Wieder auf den Beinen bzw. den Schuhen (die übrigens an dem Mediziner das einzige waren, was absolut nie glänz­te) harpunierte Doktor Antonescu seine Brille, zupfte an seiner Krawatte, was deren Linksabweichung von der Senkrechten zu einer Rechtsabweichung von der Senkrechten wer­den ließ, und nutzte den ständig bereiten Zeigefinger, um zum Gebäude zu deuten.

Tony wusste jetzt immerhin, dass Antonescu den Finger überhaupt noch beugen konnte.

Eine Bahre war bereit, und so gingen sie hinter den Trägern her zum Haupteingang.

Der Doktor Antonescu wandte sich plötzlich an Tony Tanner. »Conosce il dottore Grant?«, fragte er. Tony war derart verdattert, dass er nur nicken konnte und danach ein halb verschlucktes:

»Einen Doktor Grant kenne ich« hervorbrachte.

»Ah oui, questo molto bene, my boy«, freute sich Antonescu und hämmerte seine behaar­te Pranke auf Tonys Schulter, als hätte der gerade im Alleingang die Universitätsregatta auf der Themse gewonnen.

»Es un uomo molto curioso und ein bisserl loco, come tutti von de inglese. Ma un hom­bre di sapientia, molto sapienti, a woiser mann vastähst, es uno von de alchemista le piu gran­de del mondo.«

Damit hob Doktor Antonescu den Zeigefinger und eilte die Treppe zum Haupteingang hoch.

 

Wie bei einer Prozession folgten die anderen der Trage. Alle schwiegen.

Tony zuckte zusammen, als ihm Dorkas auf die Schulter tippte.

»Verdammt, soll das eine Materialprüfung für meine Haut sein?«

»Verzeihung, Verzeihung«, schnaubte Dorkas, der Probleme hatte, mit dem allgemeinen Tempo mitzuhalten.

»Ich hatte nur gerade den Namen Shanks gehört.«

»Das berechtigt Sie noch lange nicht, mein Schulterblatt zu durchlöchern. Außerdem ging es um einen Doktor, der Grant heißt.«

»Tatsächlich, hatte ich also doch richtig gehört.« Dorkas legte seine Stirn in Falten und rieb die Falten dann wieder mit den Fingern weg. »Doktor Grant also … Grant … Grant«, murmelte er.

»Wie alt?«

Tony sah sich gezwungen, eine genaue Beschreibung des guten Doktor Grants abzugeben, wobei er sich nicht enthalten konnte, auch die Spezialmischung des Mediziners und einige seiner Therapiemaßnahmen zu erwähnen.

»Aber ich habe es doch irgendwie überlebt«, schloss Tony seinen Bericht.

Dorkas zeigte sich beeindruckt.

»Sobald wir wieder zurück sind, müssen Sie mir die Adresse dieses Herrn geben. Ich muss ihn unbedingt besuchen.«

Und dann hörte Tony in der allgemeinen Stille noch, dass Dorkas etwas wie » Alchemist … Spezialmischung … es könnte möglich sein … es könnte tatsächlich möglich sein, dass ich ihn wieder gefunden habe … es könnte sein«.

 

Etwas anderes ging Tony im Kopf herum. Sobald wir wieder zurück sind, hatte Dorkas gesagt. Es klang so, als müsste man nur in einen Linienbus steigen und die Fahrkarte für drei Stationen abstempeln. Dabei war es eine andere Welt. Eine Welt, in der Maddalena nicht exis­tierte …

Als wäre der Name ein Stichwort, wurde sich Tony bewusst, dass Steele und Lucille unmittelbar hinter ihm gingen. Er war sich sicher, als hätte er es schon gesehen, dass die bei­den sich an den Händen hielten. Das Bild ließ sich nicht aus seinem Kopf vertreiben. Während er auf den Haupteingang des Pallazzo zuging, breitete sich dieses Bild wie ein Ölfleck in sei­nem Denken aus und erstickte jede andere Regung. Tony unterdrückte den Impuls noch eini­ge Schritte lang, dann drehte er sich wie zufällig um.

Hinter ihm war nur Steele, Lucille war verschwunden. Und selbst wenn sich Lucille an Steele geklammert hätte, wäre es dem egal gewesen, denn sein Blick folgte zwei jungen Handwerkern, die gerade einen Trog mit Schutt aus dem Haus trugen.

Reicht es dir nicht aus, Lucille zu schwängern, du Drecksack, jetzt musst du auch noch den Jungs auf den Knackarsch glotzen dachte es in Tonys Kopf und er errötete ob dieser Meldung aus den dunklen Hintergassen seiner zurzeit leicht derangierten Seelenstadt.

Steele bemerkte Tonys Blick.

»Ist Ihnen auch aufgefallen, dass hier nur lauter junge, gut durchtrainierte Männer im Handwerk tätig zu sein scheinen?«, fragte er.

Tony zuckte die Achseln. Nein, es war ihm nicht aufgefallen. Aber es stimmte. Das heißt nicht ganz, denn er hatte schon ein oder zwei Mal ältere Herren gesehen, die so etwas wie eine Arbeitskontrolle durchgeführt hatten und mit Plänen und Maßbändern gewirkt hatten. Abgesehen davon gehörten diese Handwerker zu den Seltsamkeiten von Collesalvetti. Zwar hatten di Petris Männer die ärgsten Spuren der Kämpfe beseitigt, aber dennoch erschien es Tony fraglich, ob ein Handwerker der Umgebung sich nicht wenigstens ein wenig über eine derartige Mischung aus Brand und Explosion wunderte, zu deren Bekämpfung nirgendwo eine Feuerwehr oder ein Sanitäter ausgerückt war.

»Ich nehme an, die dicken alten Handwerker sitzen in der Werkstatt und schreiben die Rechnungen«, antwortete Tony auf Steeles Frage.

Der knurrte nur und warf den abziehenden Trogträgern einen letzten Blick hinterher.

 

Tony und die anderen folgten der Trage mit dem bewusstlosen Conte mit der Selbstverständlichkeit mittelalterlicher Paladine, während sich das Hauspersonal wieder in den Gängen und Räumen verteilte.

Doktor Antonescu führte sie in die Tiefen eines Seitenflügels, von dem Tony nur sagen konnte, dass er ihn noch nie betreten hatte. Dort wurde eine Tür aufgestoßen und man befand sich mitten in einem wirklich hochmodern eingerichteten Krankenzimmer voll klarer, kalter Luft. Eine Wand war von einer Doppeltür durchbrochen, durch deren kleine Fenster Tony in einen grün gestrichenen Nebenraum sehen konnte. Über die Funktion dieses Raumes hatte er keine Zweifel. Diese Art von Lampen kannte er, seit Francine eine Vorliebe für TV-Krankenhausserien entwickelt hatte und behauptete, sie habe so viele Operationen gesehen, dass sie ihm problemlos den Blinddarm entfernen könne.

Eines der Hausmädchen in Blau-weiß heftete Elektroden auf die Stirn des Conte und regu­lierte Monitoren. Es war die Schlager summende Brünette, deren langer Zopf auch jetzt über ihren Rücken hüpfte.

»Dass Sie sich mit diesen vielen Knöpfen auskennen«, sagte Tony voller Bewunderung.

»Dafür studiert man zehn Semester Medizin, damit man das kann«, antwortete die Hübsche leicht schnippisch und wedelte die Besucher energisch aus dem Zimmer.

»Können wir den Conte wenigstens mal besuchen?«, wagte Dorkas angesichts ihrer pro­fessionellen Autorität noch zu fragen.

Sie steckte den hübschen Kopf durch den Türspalt. Hinter ihr klapperte Doktor Antonecu mit einem eisernen Medizinschrank.

»Der Conte ist in guten Händen. Er braucht vor allem Ruhe. Also bitte keine Besuche!«

Der letzte Satz kam mit einem lieblichen Lächeln und mindestens zehn Ausrufezeichen, die das Lächeln so überzeugend erscheinen ließen, wie eine ausgestopfte Friedenstaube auf einem Kanonenrohr. Dann sah man nur noch kurz den Zopf – und die Tür war verschlossen.

»Hübsch, wir haben Urlaub«, sagte Tony sarkastisch, als sie den Weg zurück suchten. Das alleine war schon ein Problem, denn sie wählten einen falschen Abzweig und irrten eine Weile durch ein Gewirr von Treppen und Gängen. Durch die Fenster konnten sie auf verborgene, tiefe Höfe schauen. Einige waren von Efeu überwuchert und wirkten unheimlich, wie der Marktplatz eines von der Pest entvölkerten Dorfes. Andere waren mit Statuen vollgestellt wie Museumsmagazine. Und einen Hof gab es, dessen Boden vollständig von einem Mosaik bedeckt war.

Dorkas drückte seine Nase an das Fenster und zupfte Tony am Ärmel.

»Schauen Sie doch«, stotterte Dorkas und pochte gegen die Scheibe. »Da ist wieder das Motiv der Meeresungeheuer und des Netzes und da ist eine Gestalt mit Dreizack … Verflixt, aus dieser Perspektive kann ich das alles nicht richtig erkennen.«

 

An einem Fenster der gegenüberliegenden Seite erschien ein Gesicht. Mit schwarzen, for­schenden Augen sah es zu ihnen hinüber, sodass sich Tony sofort ertappt fühlte. Das Gefühl, in einem verbotenen Teil des Gebäudes zu sein, wurde geradezu übermächtig unter diesem inquisitorischen Blick, der trotz der Entfernung körperlich spürbar war.

»Kommen Sie, wir können uns später nach dem Mosaik erkundigen«, drängte er.

»Ich sehe da unten keine Tür«, nörgelte Dorkas und trottete unwillig hinter Tony her.

»Irgendwie kommt man schon auf den Hof.«

Steele und Lucille waren schon hinter der nächsten Ecke verschwunden. Tony war sicher, dass sie jetzt dort knutschten. In diesem Moment schob sie ihre Zunge in seinen Mund und befummelte ihn untenrum. Tony empfand diese Vorstellung als äußerst ärgerlich.

»Was ist?« Steele schaute hinter der Ecke hervor. Er hatte keinen Lippenstift im Gesicht, aber das hatte nichts zu bedeuten. Lucille benutzte mit Sicherheit eine absolut kussfeste Marke. Französinnen waren so. Ach, alle waren eigentlich so. Frauen …

Mit verbissenem Gesicht ging Tony hinter den beiden her, neben sich einen verbissen schweigenden Dorkas.

»Haben Sie den Kerl auf der anderen Seite gesehen?«, fragte Tony, weil ihn das Schweigen bedrückte.

»Wo? Welchen Kerl?«

»Eben. Auf der anderen Seite des Hofes konnte ich ein Gesicht am Fenster sehen.«

»Sind Sie sicher? Mir ist nichts aufgefallen. Wie sah er aus?«

»Ein Mann – schwarze Augen, stechender Blick, so ein Inquisitorentyp.«

Dorkas schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht gesehen. Aber ich frage mich oft, wie viele Gäste dieses Haus eigentlich beherbergt. Man hat den Eindruck, dass der Conte die halbe Welt zu Gast hat und dafür sorgt, dass sich die Leute nicht begegnen. Seltsam ist das schon.«

 

Tony war mit seinen Gedanken schon wieder gänzlich an anderer Stelle. Er fragte sich, ob Lucille diese aufreizende Art, mit ihrem Göttinnen-Popo zu wackeln schon immer hatte oder ob es sich um eine zusätzliche Auswirkung ihrer Schwangerschaft handelte. Wie dem auch sein mochte – Tonys Systole und Diastole zuckten im Rhythmus von Lucilles Hüftschwung. Und dann plauderte dieses Miststück auch noch so reizend mit dem Vater ihres zukünftigen Kindes …

Tony Tanner, sagte sich Tony Tanner, dir werden immer die Mädels vor der Nase wegge­schwängert. Dann dachte er an Maddalena und begann ganz plötzlich, vor sich hin zu pfeifen.

Lucille schaute sich nach ihm um.

»So fröhlich? Nach all diesem Trubel?«

»Der Conte ist in guten Händen, wir haben es ja gehört und es scheint ihm also gar nicht so schlecht zu gehen. Und im Übrigen freue ich mich auf den Spaziergang.«

»Spaziergang?« Lucille forschte augenscheinlich in den Tiefen ihres Gedächtnisses. »Ach ja«, sagte sie dann, und ihre Stimme verriet wenig Enthusiasmus. »Aber Du wolltest doch vor­her einen Besuch bei Little machen.«

»Du wolltest mitkommen«, erinnerte sie Tony.

»Zuerst muss ich mich ein wenig frisch machen.«

Sie waren nun in einem Gang, den sie wiedererkannten.

Lucille verschwand in Richtung auf ihr Zimmer.

»Sie wollten Little besuchen?«, fragte Dorkas. »Gute Idee. Ich bin so frei, mich anzu­schließen.«

Little starrte gegen die weiß gekalkte Decke seines Krankenzimmers. Er hatte dieses spe­zielle Stück Collesalvetti in den letzten Tagen bis um Überdruss studieren können. Er kannte die Veränderungen der Farbe im Morgenlicht, wenn sie sich erst aus dem Grau der Dämmerung schälte. Er hatte beobachtet, wie die Farbe in der Mittagszeit einen härteren, fes­teren Charakter anzunehmen schien, um dann im Verlaufe des Nachmittags und Abends wie­der milder zu werden und sanft in den rötlichen Schimmer der Dämmerung hinüberzugleiten.

 

Little kannte jede kleinste Unebenheit in der Deckenstruktur, die Schatten werfen konnte. Denn diese Schatten waren es, die sich manchmal zu lebendigen Wesen zu wandeln schienen, und begannen ihr Eigenleben zu führen, dort oben an der Decke, die dann wie eine Filmleinwand war und zugleich in seinem Kopf. Little hasste diese Phasen, er fürchtete sie wie eine Folter, der er ausgeliefert war.

Aber die meiste Zeit lag er nur still da und empfand nichts. Zwischendurch wurde ihm plötzlich die glatte Bettdecke unter seinen Fingerspitzen bewusst und er wunderte sich, dass er sie spüren konnte und fragte sich, warum es ihm erst jetzt gelang. Oder er bemerkte, dass jemand ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben hatte, um ihm das Liegen zu erleichtern. Es waren lediglich Bruchstücke, schnelle Lichtblitze in einem grauen, undurchdringlichen Nebel der Erschöpfung. Little wurde durch eine endlose Ebene der Mattigkeit gesogen, in der selbst der Schmerz zu träge war, um zu beißen und nur als fader Belag auf der Zunge weiterbestand, in der es Little nicht einmal mehr möglich war, sich einen anderen Zustand zu wünschen oder auszumalen.

Jetzt bemerkte Little, dass jemand ihm vorsichtig den Schweiß von der Stirn tupfte. Er konnte die Pupillen zur Seite bewegen und erkannte die großen Augen Maddalena Strozzis. Sie lächelte ihm aufmunternd zu.

»Geht es?«, fragte sie leise.

Little konnte einen Satz formulieren. »Er sagte: »Danke, es geht«, zu seiner Pflegerin und hörte dabei von Ferne eine Stimme, die er als die seine erkannte. Er erkannte sie tatsächlich.

Maddalena zog ihm die Bettdecke glatt und beugte sich dabei für einen Augenblick über ihn. Little spürte den Druck ihres biegsamen jungen Körpers. Er erinnerte sich … er erinner­te sich an die muskulösen, glatten Leiber der Delfine, mit denen er gearbeitet hatte. Wie sie heranglitten, wenn er in das Becken stieg, elegant und mühelos, sodass ihm manchmal die Tränen gekommen waren, dass er selbst ein so tumber, ungelenker Zweibeiner sein musste.

Maddalena war wie einer dieser wundervollen Delfine. Sie durchschnitt mit ihren elegan­ten Bewegungen, mit ihrem freundlichen Wesen die Fluten alltäglicher Probleme. Little wen­dete den Kopf und folgte ihr mit den Blicken. Noch einmal lächelte sie ihm aufmunternd zu und verschwand dann hinter der spanischen Wand. Dort war sie immer, wenn sie sich nicht gerade um Little kümmerte. Ihre schweigende Anwesenheit wurde Little erst jetzt vollkom­men bewusst und gab ihm Kraft. Vielleicht war es aber auch die Art, wie sie ihren Körper bog, um sich in ihr Versteck zu begeben.

Plötzlich hatte er Lust aufzustehen. Er konnte sich aufrichten und die Beine über die Bettkante schwingen. Zum ersten Mal betrachtete er bewusst die spanische Wand, die tat­sächlich eine chinesische Arbeit war, ein Windschutz, der mit seiner zarten Landschaftsmalerei ein Glanzstück jedes Museum gewesen wäre.

 

Von der anderen Seite erklang ein leises Schluchzen. Little stand auf und ging, etwas schwankend und unsicher, hinüber. Er schaffte es bis zu der dreiteiligen Behelfswand und hielt sich daran fest. Die leichte Konstruktion wackelte ein wenig.

Vor ihm kniete Maddalena. Little sah ihren gebeugten Nacken, dessen reine Linie von einer Haarsträhne unterbrochen wurde. Das Mädchen hielt einen Rosenkranz in den Händen, ihr Daumen spielte – nervös oder in inbrünstiger Hingabe – mit einer Holzperle, von ihren Lippen kamen leise und hastig die Worte, unterbrochen von Schluchzern, die ihre schmalen Schultern schüttelten.

Befangen streckte Little die Hand aus. Die Hand schwebte eine Weile in der Luft, im Ungewissen, war deutliches Zeichen für die Unsicherheit Littles. Dann berührte sie sanft die Schulter des Mädchens.

»Bitte«, murmelte Little. »Sie sind so gut, Maddalena. Sie dürfen sich nicht so quälen …«

Während noch diese Worte zögernd aus seinem Mund kamen, zuckte die Hand schon wie­der zurück wie ein verschrecktes Tier. Little hatte gefühlt, wie rau und unbequem der Stoff ihrer Kleidung war – ein Stoff für Büßerhemden. Und er hatte bemerkt, dass Maddalena unter diesem groben Stoff über Kreuz zwei schartige Ketten trug, die ihre zarte Haut wundscheuer­ten. Kleine blutige Flecken zeichneten die Lage dieser Ketten auf ihren Schulterblättern nach.

Ein Schwindel ließ Little schwanken und wieder musste er sich festklammern. Die Gedanken formten sich in seinem Kopf und sie waren fertig wie Wandschriften, ehe sein ver­wirrter Geist sie registrieren und aufnehmen konnte. Vielleicht ist sie doch kein Delfin, sag­ten Littles Gedanken. Little schaute auf die Blutflecken und bemerkte, dass sich einer in die­sem Moment vergrößerte, dass das stumpfe Rot sich ausbreitete und gierig durch die Stoff-Fasern fraß. Vielleicht ist sie doch kein Delfin. Vielleicht ist sie ein Hai, ein Raubtier, das sich durch Blutschwaden hindurchbewegt, sogar durch die Wolken ihres eigenen Blutes in den Tiefen eines Meeres, das nicht einmal ihre Seele selbst ausloten konnte.

Maddalena bemerkte ihn und lächelte ihn an. Da war ihr Gesicht, dieses Mädchenantlitz, an dessen Beschreibung die Feder jedes Dichters scheitern müsste und sollte ein Gott ihm die Hand führen bei seinem Versuch. Und da war das Blut, ihr eigenes Blut, die Hand, die den Rosenkranz umkrallte, waren die Gebetsworte, die wie wütende Beschwörungen von ihren herrlichen Lippen fielen.

Obwohl sich Little nur langsam bewegte, war er auf der Flucht.

Wie eine Erlösung war es für ihn, als er von der Tür her die Stimme Tony Tanners hörte: »Schau an«, klang es mit dem typischen ironischen Unterton, »Herr Little ist wieder so fit, dass er sich mit Signorina Strozzi ins Separee begeben hat.«

Dorkas brabbelte irgendwas aus dem Hintergrund, sicherlich blies er in dasselbe Horn.

Little bemerkte, welche Veränderung mit Maddalena vorging, als sie Tonys Stimme hörte. Mit einem Mal fiel die graue Aura der Büßerin von ihr ab, sie straffte sich und ihr Gesicht begann von innen heraus zu strahlen, als hätte man in einem düsteren Haus eine Festbeleuchtung angezündet. Maddalena sprang auf und führte Little zu seinem Bett zurück.

Little wollte sich aus einem spontanen Impuls heraus dagegen wehren, aber Maddalenas Griff war energisch und duldete keinen Widerstand und nach einigen Schritten war auch Little wie­der ihrem Zauber verfallen und überließ sich der überraschenden Kraft ihres so jungen und so lebendigen Leibes.

»Wie geht es dem Patienten?«, fragte Tony und reichte Little die Hand. Dabei schaute er allerdings Maddalena an. Und Maddalena senkte den Blick und lief ein wenig rot an und dann vollführte sie, wie ein kleines Mädchen, den Ansatz eines altmodischen Knicks, wobei ihre kleine Hand das Gewand an der Hüfte ein kleines wenig anhob, und sagte dann leise: »Guten Morgen. Ich glaube, es geht ihm besser. Er ist heute zum ersten Mal aufgestanden.«

»Na prachtvoll!« Jetzt hatte es Tony geschafft, sich vom Anblick Maddalenas loszureißen und Little anzuschauen. »Allerdings würde ich mir überlegen, ob ich nicht noch ein wenig in der Obhut einer solchen Pflegerin bleiben würde«, fügte er dann hinzu. Bei sich sagte er Mein Gott, habe ich das wirklich gesagt? Wie ungeheuer peinlich! Mit diesen plumpen Altmännerscherzen kannst Du bei ihr keinen Blumentopf gewinnen!

Zumindest in dieser Hinsicht befand er sich in völliger Übereinstimmung mit Lucille Chaudieu, die in diesem Moment das Zimmer betrat.

Sie warf Tony einen verachtungstriefenden Blick zu, ignorierte Maddalena derart, dass es wirkte als würde sie dem Mädchen mit einem Megafon zubrüllen Ich sehe dich nicht, du Miststück und wandte sich lächelnd an Little.

 

Tony machte ihr Platz und trat einen Schritt von Littles Bett zurück. Sein Herz hämmer­te. Jetzt, wo er keine Möglichkeit mehr hatte, sich hinter dummen Sprüchen und sozialem Wischiwaschi zu verstecken, wurde ihm die Anwesenheit Maddalenas voll bewusst. Es war, als würde er durch eine Tür gehen und sich fünf Meter vor den Niagarafällen befinden. Er hatte sie nicht wirklich angesehen, aber er wusste, sie war da und dieses Wissen verdrängte alles andere. Tony biss sich auf die Lippen.

Maddalena hatte sich ebenfalls einige Schritte zurückgezogen, als wollte sie mit einer Imitation von Tonys Handlung eine geheime Gemeinschaft bestätigen – zumindest waren der­art die Gedanken, die sich hinter Tonys angeschwitzter Stirn überschlugen. Maddalena lehn­te mit dem Rücken gegen die Wand, ihre Hände hatte sie vor dem Schoß gefaltet. Ihr Gesicht war ruhig wie ein See in der Abendstille, nur manchmal schien ein Wellengekräusel über seine glatte Oberfläche zu laufen, wenn Maddalena sich gegen die Wand drückte und sich für Sekunden in einer ganz eigenen Welt zu befinden schien.

»Er könnte schon wieder in sein eigenes Zimmer ziehen«, hörte Tony plötzlich Lucilles Stimme. Er war genervt. Was belästigte sie ihn mit diesem banalen Schrott? Er war ganz nahe bei Maddalena, er brauchte nur den Kopf zu wenden, um sie anzusehen, er spürte, dass sie ganz nahe war, er wusste, dass es in seinem Leben nur noch eine Aufgaben geben konnte ­dieses Mädchen glücklich zu machen, zu welchem Preis auch immer.

Und die Chaudieu hatte nichts Besseres zu tun, als über Little zu reden!

»Er ist hier in guten Händen, er braucht vor allem Ruhe«, sagte Tony. Er hätte Little not­falls an die Matratze genagelt, um einen weiteren Vorwand für einen Besuch bei Maddalena zu finden. Unwillkürlich schaute er auf Maddalena. Und Maddalena schaute auf ihn. Ihrer beider Blicke fanden sich und statt sich wie ertappt wieder rasch voneinander zu trennen, ver­sanken sie in den Augen des anderen, bis Tony ein heftiges Räuspern von Lucilles Seite her hörte. Er rückte noch ein Stück zur Seite. Maddalena senkte den Kopf und ein liebliches Rosenblütenrosa färbte ihre Alabasterwangen.

Dorkas unterhielt sich noch eine Weile mit Little, dann erklang Maddalenas Stimme. »Ich muss Sie bitten zu gehen. Der Patient braucht jetzt Ruhe!«

Dorkas ging, dann Lucille, dann Tony. Er schüttelte Little die Hand und schritt zum Ausgang. Dort wartete Maddalena, um hinter ihm die Tür zu schließen. Keines von ihnen wagte, den anderen anzusehen. Aber als Tony an ihr vorbeiging, spürte er plötzlich ihre Hand in der seinen. Ein Papier wurde in seine Hand gedrückt. Er umklammerte den Zettel wie eine unwiederbringliche Kostbarkeit, murmelte einen Gruß, der leise von ihr beantwortet wurde, und ging.

 

Draußen warteten Dorkas und Lucille.

»Little sieht doch schon gut aus«, meldete Tony. Ihn interessierte nur der Zettel, den er in seiner Hand spürte. Ihn überkam Furcht, er könnte mit seiner verschwitzten Hand eine Schrift verwischen. Was für eine Vorstellung: Tony Tanner kriegt eine Einladung zum Plaisir d’ Amour und kapiert es nicht, weil er die Einladung mit seinem Schweiß vermatscht hat!

»Diese Frau ist nicht gut für Little«, fauchte Lucille ziemlich unerwartet und heftig. Es war wie das plötzliche Öffnen eines Sicherheitsventils.

»Wieso, sie pflegt ihn doch aufopferungsvoll?,« antwortete Dorkas verblüfft.

»Sie pflegt ihn wie ein Spinnenweibchen ihre Beute.«

»In dieser Hinsicht muss ich dir einen geschlechtsspezifisch größeren Einblick zugeste­hen«, mischte sich Tony ein.

Lucille starrte ihn nur an. Unter ihrem Blick begann Tony einzulaufen wie ein Wollpullover in der Kochwäsche.

»Idot! Du blöder Idiot!«

Damit drehte sich Lucille um und rauschte von dannen. Der gemeinsame Spaziergang war allem Anschein nach gestrichen. Aber sie hatte nicht aggressiv geklungen, musste sich Tony eingestehen. Unter ihrer oberflächlichen Empörung konnte er ihre Verzweiflung deutlich spü­ren. Er dachte es, dachte dann an den Zettel und vergaß Lucille im selben Moment.

»Wir müssen uns heute Nachmittag noch mal sprechen«, sagte Dorkas, während sie zusammen auf den Haupteingang zugingen. »Wegen dem Oba und auch sowieso.«

Tony zuckte die Achseln. Er nahm seine Umwelt erst wieder wahr, als er über die Terrasse vor dem Haupteingang gegangen war, die Treppen herunter und über die Wiese lief.

 

Zitternd öffnete er den Zettel. Er bestand aus kitschigem rosa Papier. Darauf stand in einer wunderschönen sorgfältigen Kleinmädchenschrift: Oh du mein süßer Geliebter. Triff mich heute Abend unter dem Rosenstrauch neben dem Gartentor, denn ich will lieber sterben als weiterleben ohne deine Umarmung und lieber will ich aufhören zu atmen, als zu leben ohne deine Küsse. Maddalena, die die Deine ist mit Leib und Seele, du mein Gebieter.

Warum konnte man einen Tag nicht zusammenfalten wie ein Stück Papier? Warum muss­te man durch die überflüssigen Stunden waten wie durch zähen Sirup, ohne seinem Ziel näher zu kommen? Tony Tanner schaute alle fünf Minuten auf die Uhr und hatte nicht den Eindruck, dass es inzwischen später geworden wäre. Die Zwischenzeit nutzte er, um sich seinem Spiegelbild gegenüberzustellen und sich mit der existentiellen Frage zu beschäftigen, ob er eine minimale Chance hatte, auf Maddalena attraktiv zu wirken.

Im Grunde war das überflüssige Arbeit und eher ein Zeichen für die angeborene Rücksichtnahme eines Tony Tanner. Ein Mädchen, das sich mit dem Umweg über einen rosa Zettel einem Vertreter des männlichen Geschlechtes derart an die Brust schmeißt, würde ihn auch nehmen, wenn er verschwitzt im Baumwoll-Feinripp-Unterhemd und mit Bierfahne auf­kreuzte.

Es gab in der schier endlosen Wartezeit eine plötzliche und sehr anstrengende Unterbrechung, weil dem liebestrunkenen Tony die Tatsache aufging, dass er nicht wusste, wo der Rosenstrauch neben dem Gartentor überhaupt war, zu dem ihn Maddalena bestellt oder vielmehr gebeten hatte.

Es bedurfte einiger diplomatischer Feinheiten, bis Tony die Stelle von einem Gärtner gezeigt bekam. Dennoch fragte er sich, ob es nicht mindestens fünf Rosensträucher neben Gartentoren geben könnte, die irgendwo auf diesem riesigen Grundstück verstreut lagen. Oder vielleicht war dieser Gärtner ein heimlicher Verehrer Maddalenas – und Tony Tanner war sicher, dass es keinen Mann mit einem Rest an hormoneller Ausstattung gab, der einer Maddalena wegen nicht Frau und Kind lachend hingegeben hätte – und legte ihn rein und lau­erte der der Wundervollen dann selbst unter dem richtigen Rosenstrauch auf, um seine Lust an ihr zu kühlen? Oder vielleicht spielte Maddalena ein Spiel mit ihm? An dieser Stelle knips­te Tony seine Überlegungen ab. Es gab nur einen Rosenstrauch neben einem Gartentor und Maddalena betete ihn an. Basta!

 

Heimlich wie ein Dieb schlich sich Tony zu dem angegebenen Treffpunkt. Maddalena hatte tatsächlich gut gewählt. Man betrat durch eine hölzerne Pforte, deren Pfosten altertüm­liche Schnitzereien trugen, einen kleinen abgetrennten Garten. Hinter einem Rasenstück lagen Rabatten mit Küchenkräutern und Heilpflanzen. Direkt neben der Pforte blühte ein Rosenstrauch und tauchte die Umgebung in seinen betäubenden, etwas wehmütigen Duft. Im Schatten des Strauches stand eine Steinbank. Alles wirkte verschwiegen und ein wenig ver­nachlässigt, als würden nur selten Menschen ihren Fuß hier hineinsetzen.

Tony strich versonnen mit der Hand über den seidenweichen Rasen und schlich sich wie­der hinaus. Er war soeben in seinem Paradies gewesen.

Bevor er sich erneut vor dem Spiegel platzieren konnte, wurde er abgefangen.

Dorkas winkte ihm schon aus der Ferne zu. Es schien, als habe er sich an der Haupttreppe postiert, damit Tony ihm auf keinen Fall entgehen konnte.

Der Anblick von Dorkas erweckte in Tony eine schuldbewusste Erinnerung. Richtig, sie wollten sich ja am Nachmittag zusammensetzen! Also war es schon Nachmittag. Und der Nachmittag war die Tageszeit vor dem Abend. Außerdem war die Gesellschaft von Dorkas angenehmer als die einsame Ich und meine Uhr-Party, die Tony bisher gefeiert hatte.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Tony, noch bevor Dorkas den Mund zu irgendeinem Vorwurf öffnen konnte. »Wir wollten uns treffen. Ich habe es einfach verpennt.«

»Nun ja, die Ereignisse des heutigen Tages sind in der Tat geeignet gewesen, uns ein wenig aus dem Rhythmus zu bringen«, gab sich Dorkas verständnisvoll. Er bemerkte nicht, dass Tony ihn bei der Formulierung die Ereignisse des heutigen Tages misstrauisch anblick­te.

»Ich habe mir erlaubt, für uns Tee zu bestellen. Inzwischen haben die hiesigen Bedienten ja gelernt, ihn ganz passabel zuzubereiten. Leider sind wir beide allein mit uns. Herr Steele hat zu tun und die Dame ist … äh … unpässlich.«

»Wie bedauerlich«, sagte Tony und machte sich einer faustdicken Lüge schuldig. Lucille gegenüberzusitzen, hätte ihm jetzt keineswegs behagt.

Sie machten sich auf den Weg zu der Veranda, zu dem Ort, den der Conte als Limbus bezeichnet hatte, als Vorhölle. Es war ein und derselbe Platz, dieselbe Architektur, und doch kam es Tony vor, als hätte er ihn in den letzten Wochen schon so verschieden erlebt wie eine Stadt im Laufe der Jahrhunderte.

 

Unterwegs begegnete ihnen das Dienstmädchen mit der Vorliebe für sentimentale Schnulzen. Tony hörte sie schon trällern, bevor sie um die Ecke bog und an ihnen vorbei­huschte. Der lange braune Zopf hüpfte auf ihrem Rücken, als sie drei Stufen mit einem Satz nahm. Tony hatte ihr bei sich den Namen Fräulein Sonnenschein gegeben. Inzwischen wuss­te er, dass sie zehn Semester Medizin studiert hatte. Nach zehn Semestern, so sicher war er sich allerdings nicht, sollte man doch ausstudiert haben. Also huschte eben eine Frau Doktor med. an ihnen vorbei?

Tony schüttelte den Kopf. Wenn er geglaubt hatte, etwas über Collesalvetti zu verstehen, dann gab es wieder etwas, das ihm völlig rätselhaft war. Warum zog sich also eine Ärztin eine Dienstmädchenkluft an, schleppte gebrauchte Wäsche durchs Haus und fand das alles noch so perfekt, dass sie ständig dabei singen musste? Und was steckte hinter dem anderen Hauspersonal. Bekam Tony sein Frühstück von einem Atomwissenschaftler serviert? Oder einem Psychologen? Die letzte Möglichkeit behagte Tony weniger.

»Ist Ihnen auch aufgefallen, dass niemand den Conte zu vermissen scheint?,« fragte Tony plötzlich.

Dorkas bekam hinter seinen Brillengläsern erstaunte Rundaugen.

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja, es läuft alles so weiter wie gehabt. Es gibt überhaupt keine Stockung.«

»Hätten Sie erwartet, dass hier Chaos ausbricht, wenn der Hausherr mal drei Tage unter­wegs ist?« stellte Dorkas die Gegenfrage und machte Tony deutlich, wie kurios seine Bedenken gewesen waren. Natürlich musste ein solcher Betrieb wie geschmiert laufen, es gab sicherlich Leute in leitenden Positionen, die für die alltäglichen Entscheidungen zuständig waren.

Trotzdem – Tony dachte an das Gesicht, das er am Fenster gesehen hatte. Unter tausend Männern wäre ihm der eine mit diesem Gesicht sofort aufgefallen, weil er wie jemand wirkte, der herrschen konnte – und herrschen wollte. Wie jemand, der die Seelen und Gedanken sei­ner Mitmenschen beeinflussen … begeistern … manipulieren kann.

Es gab so viele unentdeckte Räume auf Collesalvetti, und in manchem dieser Räume mochten Menschen hausen, denen Tony noch nie begegnet war und die vielleicht wesentlich mehr Einfluss auf den Conte hatten, als es auf den ersten Blick schien. Möglicherweise war ja Conte Hercule di Saloviva selbst nichts als ein Strohmann? Aber wer hatte ihn vorge­schickt? Oder war der Conte ein Gefangener in seinem eigenen Palast, Einflüsterungen unter­worfen, unter fremder Macht stehend? Wie konnte es anders sein, selbst Brantleys langer Arm reichte doch bis hierher – und es hatte in jüngster Zeit so viele Tote gegeben …

Diese Überlegungen führten dazu, dass sich Tony den Kragen lockerte.

»Ist Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich Dorkas fürsorglich.

»Doch, doch. Ich hatte nur gerade … ach, was soll’s. Sie haben Post von Peak-Maude?«

Zuerst kam der Tee an die Reihe. Erst nachdem sich Dorkas mit Kennermiene einige Tassen zugeführt hatte und sich sehr hoffnungsfroh über die Entwicklung der Tee-Kultur auf Collesalvetti geäußert hatte, griff er zu einem großen Briefumschlag.

»Peak-Maude war tatsächlich durchaus eifrig. Ich hatte es nicht geglaubt, aber dieser Mensch hat bewundernswerte Fähigkeiten.«

Dorkas öffnete den Umschlag und holte einige Blätter heraus.

»Er wildert im Revier der Forza Nobile«, fuhr Dorkas fort. »Was diese Gemeinschaft ist, wissen wir zwar immer noch nicht so genau, noch weniger, was sie eigentlich wollen. Aber immerhin kann sie Peak-Maude als Informationsquelle anzapfen.«

Dorkas breitete die Blätter auf dem Tisch aus. Auf einigen waren Fotos. Tony erkannte an den getreppten Kanten, dass es sich um Bilder aus dem Internet handeln musste, die eine ziemlich grobe Auflösung gehabt hatten.

Dorkas bemerkte den skeptischen Blick.

»Peak-Maude hat diese Bilder sozusagen aus dem Tresor der Forza Nobile geklaut. Er ent­schuldigte sich für die mindere Qualität. Der Experte hier auf Collesalvetti hat sein Bestes getan, um die Bilder zu verbessern.«

»Gibt es einen solchen Experten hier?«

»Ja, das ist der junge Mann, der immer den Teppich auf dem Flur vor meinem Gemach gesaugt hat. Ein ganz außerordentlich fähiger Mann, so weit ich als blutiger Laie mir diese Beurteilung erlauben darf.«

Dorkas musste seine Ausführungen unterbrechen, weil er seit zwei Minuten keinen Tee mehr getrunken hatte und Entzugs- wenn nicht gar Austrocknungserscheinungen bei sich befürchtete.

 

Unterdessen zog Tony die Papiere zu sich hinüber. Sie waren allem Anschein nach irgendwo in Afrika aufgenommen worden. Eines zeigte einen riesigen Baum in einem Dorf oder eher einer Kleinstadt, denn um die Wurzeln des Baumes, die sich wie Strebepfeiler einer gotischen Kathedrale aus dem Boden erhoben, herum führte eine Asphaltstraße. An den Rändern des Fotos konnte man niedrige Hütten mit Wellblechdächern erkennen. Vor einem standen einige Schrottautos und ein handgemaltes Schild am Wegrand behauptete, hier befän­de sich Uncle Tutus Car-Hospital. Am besten gefielen Tony einige jüngere Frauen, die im Vordergrund zu sehen waren und vermutlich der eigentliche Anlass waren, weshalb der Fotograf zur Kamera gegriffen hatte.

Dorkas setzte die Tasse klappernd ab und fischte wieder, etwas hastig, als handele es sich um einen persönlichen Schatz, nach den Papieren.

»Es sieht so aus, als ob die Forza Nobile hier ihrerseits gewildert hätte. Peak-Maude meint, dass die Fotos von einem französischen Schriftsteller stammen oder zumindest von jemandem aus seiner Umgebung. Das Problem ist, dass dieser Franzose, von dem ich im Übrigen noch nie was gehört habe, aber französische Romane sind eh nicht meine literarische Kragenweite, selbst zur Umgebung von irgendwem gehört, der seinerseits zu einer Vereinigung gehört, die sich so was wie Kardinäle von Avignon nennen, als würden sie da so eine Art von Papstspiel aufführen …«

»Ich fürchte, wir kommen jetzt zu weit vom Thema ab«, wagte Tony einen Einwand.

»Das Problem ist, dass wir gar nicht weit genug gehen könnten, um vom Thema abzu­schweifen, weil das Thema nämlich ziemlich allumfassend ist«, antworte Dorkas pikiert. Er tippte auf das Foto und fragte dann. »Aber Avignon sagt Ihnen doch wenigstens etwas?«

Jetzt war es an Tony, pikiert zu sein.

»Ein wenig. Papstpalast, Saint Agricolé, Saint Didier, Saint Pierre … Ich kenne sogar das Hotel de la bonne Madame in einer Nebenstraße der Rue Carnot.«

Und während Tony das noch sagte, kam ihm das Bild des Hotelzimmers in den Sinn – die Hitze eines provenzalischen Sommers, die Stadt von Touristen überschwemmt, das grelle Licht ausgesperrt durch Fensterläden, die ein wenig schief hingen und die Sonnenstrahlen wie durchsichtige Honigscheiben in das Halbdunkel stellten und Francine, die über die Hitze stöhnte und Kannst Du mir bitte mal helfen und ihr gebeugter Nacken und sie führte eine Hand über den Kopf und strich ihr Haar nach vorne und es fiel in Wellen herab und durch­schnitt einen Sonnenfächer und sie drehte den gesenkten Kopf ein wenig und sie lächelte ihm zu und er versuchte, mit vor Begierde zitternden Fingern den Reißverschluss zu öffnen, bis es endlich gelang und das rote Kleid sich wie eine Fruchtschale öffnete und Francines weißen Rücken freigab, nach ihrem Parfum duftend und feucht von ihrem Schweiß und sie zog die Schultern zusammen und ließ das Kleid an sich herabgleiten, bis es sich wie eine Blüte um ihre Füße ringelte und ihre ganze Haltung war eine einzige Aufforderung und Bitte und er strich mit den Fingerspitzen an ihren Armen entlang und hörte ihr Seufzen und spürte den Schauer der Lust, der über ihre Haut lief und … Verflixt noch mal, Francine, komm du dei­nem Ex-Lebensgefährten nicht auch noch in die Quere’. Tony verscheuchte das Bild samt allen anderen Assoziationen. Manchmal kam er sich vor, als wäre er in einen erotischen Roman geraten. In einen französischen solchen.

Aber dann schaute er auf Dorkas und war beruhigt. Kein Autor würde diesen Herrn in einem erotischen Roman auftreten lassen. Nicht mal ein französischer.

»Haben Sie mir überhaupt zugehört?«, fragte Dorkas und war immer noch oder schon wie­der etwas pikiert.

»Selbstverständlich. Ich war nur etwas … wenn Sie bitte die Hauptpunkte noch einmal ansprechen könnten … nur um jedes Missverständnis zu vermeiden.«

»Stichwort Missverständnis, ich sagte es ja eben, die Puppe in der Puppe in der Puppe, das Babuschka-Prinzip. Ob die Forza Nobile den Überblick behält, weiß ich nicht zu sagen. Aber sie beobachten, zu welchem Zweck auch immer. Wird die Forza Nobile selbst beobach­tet? Peak-Maude meint, dass er nicht der einzige heimliche Lauscher ist. Aber vielleicht wol­len sie das ja.«

Bei dem Gedanken unterbrach Dorkas seine Ausführungen und starrte vor sich hin, als hätte er sich selbst bei einem völlig unerwarteten Gedanken ertappt.

»Vielleicht …«, fuhr er dann zögernd fort, »vielleicht ist die Forza Nobile ja nichts als ein Schaufenster und irgendwer stellt da Sachen hinein, damit die Leute sie anschauen und kau­fen. Aber welche Leute sind das? Meine Güte noch mal, ich wünschte, ich könnte mal wieder was richtig Einfaches machen, eine altassyrische Fluchtafel analysieren oder so.«

»Dann allerdings wäre es wohl keine solche Großtat von unserem neuen Freund Peak-Maude, in dieses Schaufenster zu gucken.«

»Wer weiß, ich könnte mir vorstellen, dass man nur mit der Platinkreditkarte in die Einkaufspassage kommt …«

Dorkas unterbrach, weil er das gänzlich verständnislose Gesicht von Tony Tanner sah. Er lief rot an.

»Pegasus scheint mit mir durchgegangen zu sein, Herr Tanner … ich scheine tatsächlich eine bisher unentdeckte poetische Ader zu beherbergen. Was ich sagen wollte – möglicherwei­se will die Forza Nobile ja nicht, dass Hinz und Kunz in ihre Auslagen schaut. Also haben sie eine Schwelle gelegt, die es nur Experten gestattet, in ihren internen Informationen zu wüh­len. Von diesen Experten gibt es heutzutage wohl eine ganze Menge. Ja, und dann wartet die Forza Nobile einfach ab, um zu sehen, was die einzelnen Informationsdiebe mit ihrer Beute machen. Sie sind sowieso Leute, die sich sozusagen auf den Beobachtungsturm stellen und dann auf die Stadt schauen, bildlich gesprochen. Eine Lockfalle der Forza Nobile, das gäbe einen Sinn.«

»Haben Sie außer der Tatsache, dass es einen Sinn ergäbe, noch irgendeinen Beleg für die Wahrscheinlichkeit Ihrer Vermutung?«

»Nein!«

»Dann lassen wir das einfach mal außen vor. Es wird mir nämlich zu kompliziert. Spätestens seit dem Kumpel von dem Kumpel von dem französischen Schreiberling, der gerne Papst spielt, habe ich mich ausgeklinkt.«

 

Bevor er antwortete, musste sich Dorkas um eine weitere Lieferung von Tee bemühen. Erst dann konnte er seine Antwort geben.

»Wussten Sie, dass es in der Geschichte des Papsttums einige Päpste und Gegenpäpste gab, deren Legitimation immer noch umstritten ist? Ich meine Gegenpäpste, die vielleicht gar keine wirklichen Gegen waren, sondern die eigentlichen, legitimen Nachfolger Petri?«

»Ich darf in diesem Zusammenhang meinen Vater, Doktor Tanner zitieren: Den Papisten ist alles zuzutrauen.«

»Ein kluger Mann, Ihr Vater, wenn auch unter Umständen ein wenig voreingenommen. Was ich sagen will. Es wäre möglich, dass es einen Papst gibt, der eine weitaus höhere Legitimation als Johannes Paul II. für sich in Anspruch nehmen darf.«

»Möglich ist alles. Aber wo ist er?«

»Wer? Ach so – Sie meinen, wo ist der andere Papst.«

»Der legitimere Papst, obwohl ich glaube, dass eine Steigerung von legitim sowohl logisch als auch sprachlich Unfug ist.«

»Woher soll ich dass denn wissen? Sie können vielleicht Fragen stellen.«

Dorkas stemmte sich mit beiden Armen vom Tisch ab, als wolle er einen Abstand zwi­schen sich und den Steller solcher unverschämter Fragen schaffen. Aber als der Tee kam, hell­te sich seine Miene wieder auf und Tony fand seine Vermutung bestätigt, dass Dorkas einfach Teedurst gehabt hatte.

Summend und mit geradezu ritueller Konzentration goss Dorkas sich und Tony den Tee ein, schwankte zwischen den Alternativen Milch oder Zitrone, schnüffelte an der Tasse und begann zu strahlen.

»Ah, ein kräftiger Assam, ein wirklicher Herrentee, wir sollten ihn mit Milch genießen.«

Damit war fürs nächste wieder Ruhe, weil Dorkas zwei Tassen brauchte, bevor er wieder in Fahrt kam.

»Also, warum kennen wir diesen potentiellen Papst nicht? Es gibt ihn nicht, schlicht und ergreifend. Das ist eine Möglichkeit. Andere Möglichkeit – man soll denken, dass es ihn nicht gibt. Spinnen wir einfach mal diesen Faden – das babylonische Exil der Kirche in Avignon, die Spaltung der Kirche in Papst und Gegenpapst. Wem nutzt das? Klar, den politischen Mächten, den Osmanen, den muslimischen Feinden des Christentums. Warum also sollte es nicht so sein, dass ein Teil der Kirche auf Macht verzichtet, ohne ihre legitimen Ansprüche völlig zu leugnen, einen Papst wählt, eine Reihe von Päpsten im Verlauf der Jahrhunderte, die möglicherweise sogar bemüht ist, die eigentlichen Werte der Kirche hochzuhalten. Denken wir an die Renaissancepäpste. Dieser moralische Niedergang bei gleichzeitiger höchster Prachtentfaltung. Warum nicht als Gegengewicht den anderen, den wahren Papst, im Verborgenen, als Hüter der wahren Kirche? Weil die Verantwortlichen erkannt haben, dass nur durch diese Gralshüter des wahren Christentums die Kirche überleben kann.«

»So wie ich die Sache sehe, hat Johannes Paul II. auch noch eine Kirche mit Einfluss.«

»Unterbrechen Sie meine Überlegungen nicht ständig, Herr Tanner. Also, wo war ich? Richtig, es gab im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Personen, die sich zum Gegenpapst aufschwangen. Ich glaube, in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts ist einer gestor­ben. Ich kriege es nicht mehr so richtig beisammen … sehr ärgerlich … jedenfalls erinnere ich mich an ein Illustriertenfoto des Leichnams im Ornat im offenen Sarg, an dem betende Nonnen standen. Also, auf mich hat das damals sehr katholisch gewirkt. Egal – es gibt also diese Strömungen. Und wo solche kleine Wasserläufe sind, ist auch der unterirdische Fluss.«

»Also behaupten Sie, dass es einen Gegenpapst gibt, der der eigentliche Papst ist? Schön, aber warum meldet er sich jetzt gerade und nicht erst in hundert Jahren?«

»Erstens meldet er sich nicht. Es ist alles eine Hypothese, die aber einiges für sich hat. Und in hundert Jahren? Dann ist die Geschichte schon den Bach runter gegangen. Dann ist das Christentum eine wirre Sekte und vom Katholizismus ist nur noch eine Reihe sentimen­taler Lieder und ein großes Museum mitten in Rom übrig. Nein, heute steht es auf Spitz und Knopf. Der Islam bildet eine Variante aus, die man islamistisch nennt, obwohl ich sie islamfaschistisch nennen würde. Zugleich nimmt die Zahl der christlichen Sekten zu, die hinduis­tischen Fundamentalisten dürfen in einem Subkontinent mit einer Milliardenbevölkerung zündeln, und die jüdischen Extremisten spielen ihre spezielle Variante von dein Land ist mein Land, weil es so in der Thora steht. Die Deppen der Moderne denken, dass die Religion keine Bedeutung mehr hätte. Wissen Sie, was ich denke? Die Religion hat heute mehr Einfluss als im Mittelalter. Aber unterirdisch sozusagen. Also, wenn das nicht die Zeit ist, in der ein Gegenpapst den Finger hebt und Guguck sagt, dann weiß ich es nicht.«

»Oder er hält erst recht still, um es dem Kollegen im Vatikan nicht allzu schwer zu machen.«

»Hm, der Einwand hat was für sich. Johannes Paul II. hat es geschafft, sich in den Medien Gehör zu verschaffen. Aber … auch ein Gegenpapst hat seinen Hof. Auch hier können sich die Meinungen gegenüberstehen.«

 

Dorkas beugte sich über den Tisch und zählte an den Fingern auf.

»Hat jemand Gelegenheit gehabt, die volle Korrespondenz von Albino Luciani, seines Zeichens Papst Johannes Paul der Erste zu lesen? Nein! Wir wissen, dass er einen Jesuiten namens Georges Marchais, er hieß wirklich so wie der KPF-Führer, die Geschichte hat einen Sinn für Ironie, zu sich rief und ihn in seiner Nähe hatte und Marchais ist, so ein Zufall aber auch, in Avignon geboren und ausgewiesener Experte für die Zeit des babylonischen Exils. Er hat übrigens auch ein Buch über den Gral geschrieben. Hab ich aber nie gelesen, muss ich zu meiner Schande gestehen. Egal – weiter – wir haben die Verbindung zu Avignon. Marchais schien in der kurzen Regierungszeit des Papstes ständig zwischen Avignon und Rom gepen­delt zu sein. Und dann dieser völlig überraschende Tod dieses wundervollen Menschen, den man den lächelnden Papst nannte. Paff, Klock, einfach so. Alles natürliche Ursachen. Selbstverständlich, der Stress, Herzinsuffizienz, blabla. Man kann uns viel erzählen. Die Öffentlichkeit wird immer manipuliert. Weiter – wie war das mit der Banco di Santo Spirito? Erzbischof Marcinkus, die Mafia, die Loge Propaganda Due, die faschistischen Attentate in Italien und der Terror der roten Brigaden, wissen Sie eigentlich, dass Italien in den Siebziger sooo kurz vor einem faschistischen Staatsstreich gestanden hatte? Alles stand Gewehr bei Fuß, in der Nacht, in der passieren sollte, wurde der Putsch abgeblasen. Warum? Und Faschismus hat in der Geschichte auch immer eine Affinität zur Religion gehabt. Denken Sie an Spanien unter Franco. Erinnern Sie sich an die Bilder verschleierter Mädchen auf dem Weg zur Kirche? Wenn wir über die Taliban reden, dann sollten wir auch ein wenig über diese Variante des großen abendländischen Glaubenssystems reden.«

»Das wird mir jetzt alles ein wenig zu viel.«

»Ich bin gleich fertig. Also die Bank, die Loge – wie hieß noch gleich dieser Mann, der erhängt an einem Londoner Brückenpfeiler gefunden wurde? Ich weiß es nicht mehr, leider. Natürlich war es die Mafia. Immer war es die Mafia. Die Mafia hat dafür gesorgt, dass im Vatikan der Hauptmann der Schweizer Garde samt Ehefrau von einem Gardisten erschossen wird, der sich gleich praktischerweise selbst umbringt. Eines ist klar – im Vatikan rumort es. Es gibt zwei Fraktionen, das ist ein offenes Geheimnis und hat schon Einzug in die Welt der Kolportageromane gehalten, die sich selbst als Tatsachenberichte verkaufen. Es gibt eine Opus Dei-Fraktion, der der derzeitige Papst offensichtlich zuneigt und eine so genannte Freimaurerfraktion. Ist ein solcher Zustand nicht geradezu geschaffen für einen Dritten, um einzugreifen und die Dinge in seinem Sinne zu beeinflussen?«

»Sie meinen Ihren Johannes Legitimissimus den Soundsovielten?«

»Exakt!!«

 

Tony schwirrte der Kopf. Er hasste es, wenn ihn Dorkas mit dieser Mischung aus Fakten und Fiktionen zuschüttete. Wenn er sich aber selbst genau prüfte, dann hatte seine Aversion noch einen weiteren Grund. Ihm ging das Gesicht am Fenster nicht aus dem Sinn. Sofort, als Dorkas begann, seinen klerikalen Fantasyroman zu entwerfen, hatte er an den Unbekannten, den er inzwischen den Inquisitor nannte, gedacht. Und je weiter Dorkas seine Ideen spann, desto näher schien ihm der unheimliche Fremde zu rücken, mit einer Selbstverständlichkeit, als würde Dorkas nichts tun, als mit einer Machete einen schon gebahnten Weg freizulegen.

Tony wollte das Thema wechseln.

»Auf dem Foto sehe ich jedenfalls keinen Papst, sondern nur Damen mit teilweise blan­ken Busen.«

»Ihnen ist doch klar, dass man einem Farbigen bei der nächsten Papstwahl große Chancen gibt? Afrika und Lateinamerika haben mehr katholische Christen als …«

»Schluss! Eben waren wir noch bei der Mafia und den Vatikanfraktionen und jetzt kom­men auch noch die klerikalen Gangsta-Rapper, oder wie?«

Aus Rache trank Tony in Rekordzeit die Kanne leer und zwang Dorkas, sich um Ersatz zu bemühen. Als er allein war, wischte sich Tony den Schweiß von der Stirn. Schlimm genug, dass er gezwungen war, an etwas anderes als an Maddalena zu denken. Und dann noch so etwas!

Konsequenterweise blockte Tony jeden Versuch ab, zu diesem Thema zurückzukehren.

»Sie wollten mir was von einem Obi mit Schlafproblemen berichten.«

»Oba! Oba, nicht Obi! Aber es stimmt. Also …« Dorkas durchsuchte seine Unterlagen.

»Hier, das ist das Foto des Oba von Wankungongona. Es stammt von unserem Franzosen. Er muss irgendwie Beziehungen gehabt haben, denn im Normalfall lässt sich der Oba von Wankungongo … gonag … also, wir wissen, worüber wir reden. Er lässt sich nicht fotografie­ren. Er lässt sich nicht mal gerne anschauen. Er ist ein ganz Heimlicher. Er fürchtet um seine Kraft.«

Tony betrachtete das Foto. Es war unter miserablen Lichtverhältnissen entstanden, in einer dunklen Hütte, ohne den Einsatz des Blitzlichtes. Einzelheiten waren nur schwer auszu­machen, alles schien in einem ungewissen Nebel zu verschwinden. Es war unangenehm, auf dieses Foto zu schauen, denn es schien wie ein Auslöser für wirre Assoziationen, die vorbei­wischten und ihre Spuren hinterließen, bevor Tony sie wirklich erkannt hatte. Die Gestalt in der Mitte des Fotos wirkte plötzlich so, als trüge sie kirchliches Ornat und ihre dunklen Augen waren diejenigen, die Tony vom Fenster aus angestarrt hatten.

Er konzentrierte sich, erkannte ein verhutzeltes Altmännergesicht und warf dann das Blatt wie eine wertlose Spielkarte zurück auf den Tisch.

»Außer dass dieser Typ in einer Rundhütte vor einem Pfahl sitzt und noch niemals im Leben eine Anti-Faltencreme benutzt hat, kann ich nichts erkennen.«

Seufzend nahm Dorkas das Foto und erklärte es, indem er mit dem Zeigefinger auf die Details tippte. Allerdings hielt er das Blatt so, dass Tony vom Foto überhaupt nichts sehen konnte.

»Rundhütte ist ganz richtig. Meiner Schätzung nach handelt es sich um eine Rundhütte mit dicker Lehmmauer, von ungefähr zwanzig Metern Durchmesser. Ziemlich groß also. Vermutlich eine Reminiszenz an diverse schwarzafrikanische Palastanlagen. Selbsttragende Dachkonstruktion, geniale Handwerkerarbeit, mit Stroh gedeckt. In der Mitte eine Säule, die nicht nur architektonische Bedeutung hat, sondern den Weg markiert, den die Seelen der Tänzer, wenn sie in Ekstase fallen, zu den Göttern nehmen. Im Gegenzug rutschen die Götter sozusagen von oben da herunter. Man behauptet, im Sand zwischen Säule und Eingang manchmal Fußabdrücke zu sehen, die von keinem Menschen stammen können, weil kein Mensch da war. Manchmal wird nach solchen Vorkommnissen eine Jungfer gar wundersam schwanger und man weiß, dass der Nachwuchs von einem Gott gezeugt worden ist und mit besonderen Kräften begabt.«

Dorkas konnte ein albernes Kichern nicht unterdrücken und hielt sich schuldbewusst die Hand vor den Mund. Dann setzte er das Gesicht eines Notars beim Vertragsabschluss auf.

»Weiß man’s? Jedenfalls ist das Phänomen solcher Fußspuren in Kreisen von Psi-Forschern bekannt, ohne befriedigend erklärt worden zu sein. Wie fast alles in diesem Bereich. Aber zur Sache – hier hinten erkennt man noch eine Ecke des Altars. Er besteht aus einem Lehmkegel, der mit verschiedenen Symboltieren verziert ist. Hier werden Hühner und ähnliche Opfer dargebracht. Jedenfalls keine Menschen – vielleicht Primaten, das könnte zu der Geschichte von den Menschenopfern beitragen haben. Auf jeden Fall muss es in dem Raum fürchterlich stinken, denn sowohl das vergossene Blut als auch die Reste der Opfer bleiben auf dem Altar. So, hier ist der Oba, also der König, wenn Sie so wollen. Eigentlich ist er eine Mischung aus König, Priester, Präsident und Richter. Er ist mit einer Reihe von Tabus umgeben. Er sitzt nämlich auf dem Kalulu. Genauer, er brütet über dem Kalulu. Der oder das Kalulu ist ein eiförmiger Stein. Angeblich von schwarzer Farbe und mit hoch glänzender Oberfläche. Ein Meteor vielleicht, so ähnlich wie der Stein in der Kaaba. Der Oba lebt im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Stein. Er darf ihn nur kurz verlassen, um seine Notdurft zu verrichten, allerdings bedarf es dann auch einiger langwieriger Rituale und einer Abdeckung mit einer heiligen Decke, die im Raum aufbewahrt wird. Nur mal eben für klei­ne Jungs geht nicht. Zumal das Ergebnis seiner Arbeitspause auch rituell entsorgt werden muss. Es gibt dafür zwei hohe Würdenträger, deren Titel ich Ihnen jetzt nicht nennen werde. Weiter – an manchen Tagen werden ausgewählte Stammesangehörige zum Oba vorgelassen. Er selbst darf sich ja nicht aus der Hütte heraus bewegen. Sie stellen ihm ihre Fragen, bitten um Urteile und so weiter. An besonderen Festtagen berichtete der Oba von seinen Träumen und eine spezielle Priesterin spielt den Inhalt der Träume im Tanz nach und legt sie aus. Es ist ein äußerst ausgefeiltes System.«

»Was ist mit dem diesem Kaludings? Wenn man etwas bebrütet, wie Sie sagen, dann schlüpft ja mal irgendwas da raus.«

»Sicherlich. Irgendwann, so sagt es der Mythos, schlüpft der große Kaluluvogel aus und vernichtet alle Weißen und macht die Schwarzen zu Herren der Welt. Kein unsympathischer Gedanke eigentlich.«

»Ich bin gegen jede Form von Rassismus, auch gegen diese neumodische Form von Selbstbezichtigung und Ach was sind wir doch schlecht-Rassismus«, erklärte Tony spitz.

»Bravo, so spricht ein Mann. Ich vergaß zu sagen, dass der Kaluluvogel auch ein paar unbeliebte Nachbarstämme vernichten soll. Und was die Eingeborenen dieser Gegend unter Welt verstehen, ist etwas bescheidener als das, was ein US-Manager darunter versteht. Aber zurück zu dem Oba. Er hatte in den letzten Monaten schlechte Träume. Und das sorgte für derartiges Aufsehen, dass die Geschichte sogar im Internet ihren Niederschlag fand. Denn schlechte Träume sind ein ganz schlechtes Omen.«

»Vielleicht tut Ihrem Oba einfach der Hintern weh? Das Ei ist wohl nicht gepolstert?«

»Ich denke schon. Aber das Hinterteil ist es nicht, obwohl der Gedanke seinen Reiz hat. Nein, der Conte und ich haben den Standort von Wankungongona mit unseren Plänen vergli­chen. Und es ergab sich eine derartige Übereinstimmung, dass es kein Zufall sein kann. Der Oba sitzt sozusagen auf einer Kraftlinie. Und die hat sich verändert. Irgendwas passiert, ver­stehen Sie? Es macht mich wahnsinnig, aber wir können noch nicht feststellen, was es ist.«

»Fahren Sie einfach mal hin und schauen vorbei.«

Als Tony den Satz herausgebracht hatte, war ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Denn Dorkas antwortete mit einem zustimmenden Nicken.

»Der Vorschlag ist gut. Allerdings sind Sie hier der Experte für Reisen.«

Zu Tonys größter Beruhigung fügte er noch hinzu: »Allerdings muss der Conte natürlich vorher konsultiert werden.«

»Dann kann es ja dauern. Gibt es etwas Neues, wie es ihm geht?«

Tony sagte es und fuhr in die Höhe. Jetzt erst bemerkte er, wie tief die Sonne schon stand.

»Würden Sie die jetzige Stunde schon als abendlich bezeichnen?«

Offensichtlich brauchte Dorkas einige Sekunden, bis er die Formulierung auseinanderge­dröselt hatte. Dann nickte er zustimmend.

»Ja, ich bin sicher, dass es schon abends ist. Mein Magen ist auch der Meinung. Ich werde mir ein Mahl in mein Gemach bringen lassen.«

 

Die Aussicht auf eine Mahlzeit machte Dorkas noch gesprächiger, als er sowie schon war. Gemeinsam gingen sie über den Gang. Tony hielt es für angebracht, den Haupteingang zu nut­zen und dann einen Haken zu schlagen, anstatt direkt durch einen Nebeneingang auf den Rosenstrauch zuzusteuern.

Die sinkende Sonne warf ihre letzten Strahlen durch die Fensterscheiben. Es wurde warm. Für einige Minuten setzte sich der Herbst die Maske des Hochsommers auf. Sogar die Fliegen summten, wie an einem heißen Sommertag.

Tony wurde stutzig.

»Warten Sie mal«, befahl er Dorkas und ging in einen schmalen Korridor, der zu einigen Wirtschaftsräumen führte. Das Summen der Fliegen klang hinter einem zweiteiligen Windschutz hervor. Tony trat näher und bemerkte, dass in den Fliesenfugen dunkle Farbe saß. Einige große metallisch schimmernde Fliegen krabbelten über die Fugen. Zögernd berührte Tony den Windschutz. Er stand unsicher und kippte zur Seite.

Tony Tanner erstarrte zur Salzsäule. Bewegungslos schaute er vor sich und konnte doch nicht fassen, was er sehen musste.

Vor ihm lag, gekleidet in ein weißes, duftiges Kleid, Maddalena.

Der Anblick schien Tony Tanner zugleich das Schönste und das Schrecklichste, das er je in seinem Leben gesehen hatte.

Er hatte einen rauen Schreckensruf ausgestoßen und nun hörte er hinter sich den leicht schlurfenden Schritt von Dorkas.

»Ist Ihnen nicht gut, Herr Tanner?«

Dann erst bemerkte Dorkas die Leiche. Er quiekte, es klang so fürchterlich unpassend ­wie das Geräusch mancher Plüschteddys, wenn man ihnen auf den Bauch drückt – und schob sich dann an der Wand entlang zum Hauptgang. Was er eben gesehen hatte, überzeugte Dorkas, dass die Welt einstürzen würde und daher musste er sich an die schützende Wand drü­cken, als gäbe es in der nächsten Sekunde ein Erdbeben. Tony hörte das Kratzen, mit dem Dorkas’ Rücken an der Wand entlang schrubbte. Dann hatte der Wissenschaftler den Gang erreicht und schrie aus vollem Halse nach Hilfe.

Für einen Moment war Tony mit Maddalena allein. Er spürte, wie eine Träne über seine Wange floss. Maddalena war auch im Tode unbeschreiblich schön. Sie war überirdisch, ein Geschenk Gottes für ihn, Tony Tanner. Ein Geschenk, das er nie erhalten würde.

Diese wenigen Sekunden waren das Einzige, was ihm noch an Vertrautheit blieb. Alles war möglich gewesen, er war an einer Kreuzung seines Lebens angelangt. Und nun war dieses mögliche Leben verloren, verbrannt und nur noch geeignet, als schwärendes Gift seine Tage zu verbittern.

Maddalenas Leiche lag auf dem Rücken, als hätte sie sich eben zur Ruhe gelegt. Ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt, das Gesicht hatte einen heiteren Ausdruck – als würde sie sich freuen, Tony zu sehen. Aber ihre Augen, diese wundervollen, großen, dunklen Augen, blick­ten starr, eingetrocknet und leblos. Um ihre schönen Lippen spielte ein Lächeln. Jetzt bemerk­te Tony zum ersten Mal, dass an Maddalenas Stirn eine kleine Narbe war, die sich durch irgendeine Reaktion des einsetzenden Verfalls fast schwarz gefärbt hatte. Wie ein Kainsmal, dachte er und schüttelte den Gedanken wieder ab wie ein lästiges Insekt. Maddalena war das beklagenswerte Opfer. Sie war rein.

Ihre Arme lagen neben dem Körper, die Finger waren entspannt. Ja, sie wirkte wie eine Schlafende. So, als könnte sie im nächsten Moment aufstehen und ihm mit ihrer hellen Stimme sagen Lass uns zu dem Rosenstrauch gehen.

Tony Tanner biss die Zähne zusammen. Ein Schluchzen stieg in ihm auf und rüttelte ihn. Nein, er verstand noch immer nicht, was geschehen war, er weigerte sich, die Tatsachen zu akzeptieren. Und zugleich spürte er, wie dieses Bollwerk der Verleugnung abgefräst wurde und er sich der Wahrheit stellen musste, obgleich diese Wahrheit schmutzig, scheußlich und zerstörerisch war.

Maddalena trug ein langes weißes Kleid aus zartem Stoff, das ihren Körper umfloss und seine vollkommene Schönheit zugleich verdeckte und betonte. An den Füßen hatte sie flache Sandalen, wie sie schon die Schönen der Antike getragen haben mochten. Ein Riemen lief um ihre schlanke Fessel und hob auf geradezu rührende Weise die Zerbrechlichkeit der jungen Frau hervor.

Hinter ihm brüllte Dorkas immer noch wie ein brünstiger Eselsbulle. Irgendwo klappten Türen und Schritten kamen hastig näher.

»Holen Sie Doktor Antonescu«, unterbrach Dorkas sein Geschrei mit einem verständli­chen Satz.

Der Stoff von Maddalenas Kleid war so fein, dass das Licht durch ihn hindurchfiel. Wie in einer Vision sah Tony die herrliche Maddalena auf sich zukommen, der Schein der letzten Sonnenstrahlen enthüllte ihre fast unerträgliche Schönheit und ließ das Kleid um sie wehen wie eine durchsichtige Wolke.

 

Maddalenas Kehle war durchschnitten. Ihr zarter Hals war von der einen Seite zur ande­ren eine klaffende Wunde. Zuerst musste das Blut nur so herausgespritzt sein. Es hatte den oberen Teil ihres Kleides völlig durchtränkt, sodass ihre Brüste in dem schon erstarrten Stoff wie aus einem roten Stein gemeißelt schienen. Dann hatte sich der Blutfluss vermindert. Das Blut hatte sich um ihren Kopf und ihre Schultern verteilt und war in die Fugen der Korridorfliesen geronnen. Maddalena hatte ihren Tod mit gelassener Ruhe erwartet, als wäre er ein erquickender Schlummer und nicht die Folge einer widerwärtigen Untat. In ihren letz­ten Sekunden hatte sie noch einmal ihre Tugend bewiesen, wie es einer Märtyrerin würdig gewesen wäre. Tony fiel auf die Knie und streichelte über Maddalenas Arm. Er war warm, als würde sie noch leben.

»Incredibile«, hörte Tony die Stimme Doktor Antonescus neben sich dröhnen.

»Kommen Sie«, sagte eine sanfte Frauenstimme. Tony spürte eine Hand auf seiner Schulter und versuchte, sich zu erheben. Es gelang nur mithilfe der Frau.

»Es incredibile«, jammerte Doktor Antonescu und sackte neben der Leiche zusammen. Seine Gelenke knackten laut.

So etwas wie Eifersucht überkam Tony wie eine heiße Welle, als jetzt der Doktor mit sei­ner Untersuchung begann. Zugleich blitzte eine neue Hoffnung auf. Auch der Conte schien tot gewesen zu sein und Antonescu hatte ihn wieder zum Leben erweckt. Warum nicht auch Maddalena? War sie nicht viel jünger, kräftiger? Irgendwo mochte der Doktor bei seinen hyä­nenartigen Untersuchungen noch den letzten Funken Leben auffinden, den man zu einem fla­ckernden Feuer anblasen konnte! Tony hätte alles dafür gegeben.

Doktor Antonescu schüttelte langsam den Kopf.

»Que peccato, questa bella incredibile, que peccato.«

Tony begann zu zittern.

»Soll ich Ihnen ein Beruhigungsmittel geben? Eine Spritze vielleicht? Wollen Sie sich hin­legen?«

Jetzt erst registrierte Tony die Helferin des Doktors. Sie schaute ihn besorgt an. Ihr Zopf hing ihr jetzt über die Schulter, und weil sie einen durchaus wohlgeformten Busen hatte, bau­melte das Ende des Zopfes in der Luft.

»Klappen Sie mir bloß nicht zusammen. Ihr Kreislauf steht auf der Kippe.«

»Danke, es geht.«

Tony stützte sich gegen die Wand und holte tief Luft.

»Wirklich es geht«, bestätigte er noch einmal.

»Nun gut!«

 

Die Frau ruckte energisch mit dem Kopf und ihr Zopf flog über die Schulter und auf den Rücken. Dann griff sie in die Arzttasche, denn Doktor Antonescu hatte eine Hand nach hin­ten ausgestreckt und wedelte mit den fetten Fingern. Anscheinend tat er das auf eine derart spezielle Art, dass seine Assistentin sofort erkannte, welches Werkzeug gewünscht war. Sie drückte ihm eine Pinzette in die Hand. Antonescus Finger fuhren zusammen wie die Blätter einer Fleisch fressenden Pflanzen bei der Landung einer Fliege.

Der Doktor stocherte mit der Pinzette in der Blutlache und hob dann einen Blutklumpen in die Höhe.

»Netto, fare questo netto, ma pronto«, befahl der Doktor. »Es uno instrumento di crimina­le, es instrumento delle figlie di Kain.«

Tony verstand von dem Gebrabbel nichts, aber er hätte auch nichts verstanden, wenn man ihm in Oxford-Englisch das ABC vorgesagt hätte.

Die Zehn-Semester-Medizinerin hatte keine Probleme mit Antonescus Aussage. Sie fisch­te ein Röhrchen aus der Tasche, füllte es mit einer Flüssigkeit, ließ den Blutklumpen hinein­fallen, verschloss das Röhren, schüttelte es, schaute erstaunt, weil im Röhrchen ein Riss erschien, holte den Gegenstand aus dem Röhrchen und trocknete ihn sorgfältig ab.

Antonescu hatte sich an der Wand abgestützt und sich derart wieder mühsam aufgerich­tet. Seine fetten Backen waren nass von Tränen. Er zog ein riesiges Taschentuch hervor, trom­pete hinein und stopfte es nachlässig in eine Jackentasche. Immer noch rollten die Tränen aus seinen sanften braunen Augen.

»Un angelo, una bellissama come le engelchen von de paradiso. Es incredibile, esto world es una haufen de mierda! Tochtel. Wie mein Tochtel. Incroyable …« Ein Schluchzer stieg in ihm auf, den er tapfer bekämpfte.

Die Frau hob die Pinzette in die Höhe. Zwischen den beiden Enden der Pinzette war ein Gegenstand.

»Wissen Sie, was das ist?«

Tony öffnete den Mund, um zu verneinen. Dann drehte die Frau die Pinzette und Tonys Mund blieb offen, diesmal vor Entsetzen.

»Kennen Sie ihn?«, wiederholte die Frau und schaute Tony forschend ins Gesicht.

»Er gehört mir!«

 

Wie kam Lucille Chaudieu hierhin? Tony drehte sich um. Der Korridor war voller Menschen, die alle in seine Richtung schauten. Lucilles Blick verlor sich in irgendeiner unbe­kannten Ferne. Neben ihr erkannte Tony den alten di Petri, der wie immer seinen Stock in der Hand hielt. Er stand hoch aufgerichtet, wirkte aber selbst in dieser männlichen Pose nicht wie ein starker Felsen.

Antonescus Assistentin wandte sich Lucille zu.

»Es gehört Ihnen? Was ist es?«

Lucille erklärte knapp die Funktion ihrer ganz speziellen Fingernägelaufsätze. Antonescus Assistentin hob leicht die Brauen und ihre Lippen kräuselten sich für einen Augenblick. Tonys konnte nicht erkennen, ob es ein Zeichen einer gewissen weiblichen Hochachtung war, oder im Gegenteil tiefe Missbilligung. Auf jeden Fall zeigte sich hinter der stets freundlichen Maske des Dienstboten zum ersten Mal ein Mensch mit eigenen Zügen. Auch das schien auf Collesalvetti etwas Neues zu sein.

Auf Nachfrage erklärte Lucille, dass sie ihre Fingernägel in einem Etui in ihrem Zimmer aufbewahrte. Genauer, in ihrem Kleiderschrank.

Unterdessen wurde ein Laken gebracht und die Leiche damit bedeckt. Tony stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Schulter eines Dieners einen letzten Blick auf Maddalena zu werfen. Als er sich wieder richtig hinstellte, wurde ihm bewusst, dass Antonescus Assistentin ihn beobachtet hatte. Tony lief unwillkürlich rot an.

»Sie haben Sie gefunden, ja?«, fragte sie.

»Das wissen Sie doch.« Tony registrierte selbst, wie aggressiv seine Stimme klang.

Die Frau ließ sich nicht beeindrucken.

»Wodurch ist Ihnen die Leiche aufgefallen?«

»Ist sie nicht. Ich hörte die Fliegen. Das kam mir seltsam vor. Maddalena, ich meine die Tote, lag hinter diesem Windschutz.«

»Sie kamen den Gang entlang?« »Ja, zusammen mit Dorkas.« »Es scheint, dass die Ermordete etwas vorhatte. Sie wollte ausgehen sozusagen.« Die Art, wie Antonescus Assistentin die Ermordete sagte, ließ deutlich werden, dass auch sie eine ganz spezielle Beziehung zu Maddalena gehabt haben musste.

»Wissen Sie etwas darüber?«

Tony, Du musst jetzt lügen, sag’ einfach, dass Du keine Ahnung hast, blitzte es Tony durch den Kopf.

»Sie wollte sich mit mir treffen.«

»Ach … wissen Sie warum?«

»… nein. Sie hatte mich schriftlich um ein Treffen gebeten.«

Nein, das war keine Lüge, das war die volle Wahrheit.

»Aha.« Die Frau schaute zur Seite, wo sich unter dem Laken immer noch deutlich die weiblichen Formen des Opfers abzeichneten.

»Es scheint, als hätte Signorina Strozzi weitaus genauere Vorstellungen über Zweck und Inhalt des Treffens gehabt als Sie, Herr Tanner.«

Tony nickte. Wenn Sie ihn nur nicht immer mit ihren braunen Augen so fixiert hätte! Sie schien in jeder Sekunde einen Abdruck seines Gesichtes zu nehmen, um dann später seine kleinste Regung zu durchleuchten. Mit einer Art von Erschrecken erkannte Tony, dass im hüb­schen Kopf dieser Frau wesentlich mehr seinen Platz hatte, als eine Auswahl sentimentaler Liedchen und der Fähigkeit zu frohgemutem Diensteifer.

 

Zwei Männer kamen und legten die Tote auf eine Bahre. Unter dem Laken hing ihr Arm heraus und pendelte ein wenig, als die Männer die Bahre forttrugen. Diese Hand sah so hilflos aus.

In Tonys Augen wirkte es wie ein letzter Gruß. Oder wie eine Bitte um Hilfe.

»Spazieren … ich war seit heute Vormittag spazieren – allein«, hörte Tony Lucilles Stimme.

Antonescus Assistentin schob ihn mit sanfter Gewalt aus dem Korridor in den Gang.

»Wenn Sie ein Beruhigungsmittel brauchen oder sonst etwas, kommen Sie zu mir«, sagte sie.

Hinter ihnen scheuchte Antonescu die letzten Herumstehenden davon.

Im Weggehen hörte Tony, wie die Assistentin sagte: »Wir müssen hier mal richtig sauber­machen!«

Mechanisch trottete Tony weiter. Er gelangte durch den Haupteingang und über den kie­selknirschenden Vorplatz und stellte sich an die Balustrade an der Haupttreppe. Wie lange er dort stand, wusste er nicht. Er starrte nur vor sich hin und lauschte seinen Gedanken, die sich überstürzten, bekämpften, sich verjagten und wiederkamen wie ein Rudel toller Hunde. Manchmal stieg aus diesem Chaos ein Name auf und wurde, wie eine Sandburg von einer Welle, fortgeschwemmt. Unter allem lag eine graue Mattigkeit, eine Erschöpfung, die viel­leicht sogar segensreich war, weil sie auch betäubte und linderte.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass neben ihm andere Personen standen und ebenso wie er auf die Wiese starrten, als würden sich dort etwas Entscheidendes abspielen.

Es waren Dorkas, Steele und Little.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Tony.

Little hob die Arme, als wollte er sagen Sieht man nicht, was für ein Prachtkerl hier steht?

»Ganz plötzlich. Es war, als hätte man mich mit Energie vollgepumpt.«

»Sehr schön«, sagte Tony. Unter seiner Trauer wanden sich einige Gedanken wie kleine Schlangen. Maddalena war tot und plötzlich ging es Little prächtig. Konnte das Zufall sein? Aber interessierte ihn diese Frage eigentlich? Tausendmal nein …

»Wieder keine Polizei«, sagte Dorkas. »Keine Spurensicherung oder so was. Ich finde das alles sehr seltsam.«

»Seltsam muss nicht schlecht sein«, erklang die Stimme Steeles.

Dann schwiegen sie wieder und ihre Blicke hafteten an imaginären Orten, die keiner in Worte fassen wollte.

Fortsetzung folgt …