Nick Carter – Band 14 – Ein beraubter Dieb – Kapitel 9
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein beraubter Dieb
Ein Detektivroman
Spike als Geschäftsmann
Spike Thomas und Bally Morris hatten sich von des ersteren Behausung nach einem Saloon in der Bond Street begeben, nicht weit von der Bowery, und schienen nichts Auffälliges darin zu finden, als Patsy ihnen mit keckem Entschluss ins Lokal nachfolgte und sich ihnen zugesellte.
»Hallo, Patsy«, empfing ihn Spike sogleich aufgeräumt. »Wenn man vom Esel schwätzt, so kommt er angehetzt!«
»Natürlich, das dachte ich mir, als ich euch zufällig in den Saloon hier eintreten sah, dass an mir zwei Esel vorbeigaloppieren«, gab Patsy zur Antwort, indem er sich lachend zu ihnen an den Tisch setzte.
»Höre einmal, Patsy«, wisperte Spike vertraulich, »seid ihr nicht auf der Suche nach einem mit Leder überzogenem Kasten, eh?«
»Allerdings«, entgegnete der junge Detektiv, ohne seine Überraschung zu verraten. »Warum fragst du?«
»Weil ich Geld zu verdienen wünsche«, meinte Spike mit listigem Augenzwinkern. »Ich kann etwas Bargeld gut brauchen.«
»Vielleicht verdienst du es«, gab der junge Detektiv zurück. »Wir sind auf der Suche nach einem Lederkasten nebst Inhalt, der in verwichener Nacht aus dem Haus an der 35th Street gestohlen wurde. Der ehrliche Finder erhält eine angemessene Belohnung, soviel steht fest!«
»Wie heißt der Verlierer?«
»Es ist der Makler Herron, und er wohnt in jenem Haus. Interessiert es dich, kannst du auch noch erfahren, dass sein Büro sich in der Broad Street befindet.«
»Höre einmal«, fuhr Spike geschäftsmäßig fort, »ich wünsche ehrliches Spiel. Gestehe einmal, was ist in dem Kasten – Bargeld, Schecks oder dergleichen?«
»Nichts von alledem, sondern nur Zeichnungen und das Modell einer neuen Erfindung, soviel ich weiß.«
»Aha, um diese Erfindung wollte euer Mann Herron den eigentlichen Erfinder berauben, nicht wahr?«, bemerkte der Strolch höhnisch.
»Nein, der Erfinder ist tot«, erklärte Patsy ruhig, innerlich aber höchst verwundert darüber, woher Spike all seine Kenntnisse schöpfte.
»Dann soll also seine Witwe beraubt werden?«, erkundigte sich der Strolch weiter.
»Was soll all das Geschwätz?«, fuhr der junge Detektiv nun auf. »Soviel ich weiß, hat Mr. Herron der Witwe sein gutes Geld für die Erfindung gezahlt und ist nun um diese bestohlen worden. Nun warst du es, Spike, der mich zuerst scharfgemacht und auf den Einbrecher aus Chicago aufmerksam gemacht hat. Du meintest auch, er habe den Kasten geraubt.«
»Gewiss, das stimmt!«, gab der zur Rede Gestellte seelenruhig zu.
»Ferner warst du aufgebracht über Bart Meyers, weil er dir keinen Anteil an der Beute gewähren wollte!«
»Unsinn, da schlägst du über die Stränge!«, wehrte Spike lachend ab.
»Scheint mir nicht so, es kommt mir vielmehr so vor, als wärest du mit Meyers handelseinig geworden und möchtest nun aus mir herausbekommen, wer am meisten für die Wiedererlangung des Kastens zahlt.«
»Hahaha, das ist einfach zum Lachen – oder nicht, Bally?«, wendete sich der Strolch an seinen Gefährten.
Doch Patsy ließ sich durch das Gebaren des Burschen, dessen tückische Verschlagenheit er genau kannte, nicht irreführen. Es schien ihm vielmehr sicher, dass sich irgendetwas Bedeutsames zugetragen haben musste, seitdem er Spike zuletzt gesehen hatte, doch was das eigentlich sein konnte, wusste er nicht zu enträtseln.
»Well, Spike«, nahm er nach kurzem Schweigen wieder das Wort. »Ich weiß einen Mann, der sich die Wiedererlangung des Kastens ein hübsches Stück Geld kosten lassen will und sicherlich an den – ehrlichen Finder keine unangenehmen Fragen stellen wird.«
»Darum handelt es sich, um den ehrlichen Finder nämlich«, meinte Spike mit Betonung. »Ich möchte wissen, was ein solcher zu erwarten hat – es ist ja nicht ausgeschlossen, dass ich mir vielleicht den Kasten mit den Papieren verschaffen kann!«, setzte er augenzwinkernd hinzu.
Blitzschnell überlegte Patsy. Die Erkenntnis dämmerte in ihm, dass Spike wahrscheinlich schon den Kasten mit Inhalt zu ergaunern vermocht hatte und nun darauf aus war, eine möglichst hohe Summe für sich herauszuschlagen. Wie Patsy wusste, war Nick Carters Cousine von diesem beauftragt worden, sich in Verbindung mit der Witwe Pemberton zu setzen. Er war fest davon überzeugt, dass Idas Geschicklichkeit den erwünschten Erfolg schon gezeitigt hatte – und da kam ihm auch schon ein Gedanke, von dessen Ausführung er sich viel versprach.
Schwerlich war Spike, falls er die Dokumente wirklich schon besaß oder wenigstens eine Möglichkeit vor sich sah, in deren Besitz zu gelangen, dazu zu bewegen, nunmehr Farbe zu bekennen. Er würde sich auch kaum dazu verstehen, in direkte Verbindung mit Mr. Herron zu treten; umso wahrscheinlicher war es aber, dass er es nicht ablehnen würde, zu solchem Behufe die Witwe Pemberton aufzusuchen. Gelang es Patsy, dies herbeizuführen, so war es leicht, Ida von dem bevorstehenden Besuch des Strolches in Kenntnis zu setzen und auf solche Weise die Wiedererlangung der Dokumente zu sichern.
»Well, Spike«, nahm der junge Detektiv sogleich wieder das Wort. »Mein Boss arbeitet für Herron, und ich arbeite für meinen Boss, also arbeite auch ich für den Makler. Willst du nun mit Mr. Herron nichts zu tun haben, warum wendest du dich nicht mit deinem Anliegen an meinen Meister?«
»Was?«, ereiferte sich Spike in hellem Schrecken. »Ich soll Nick Carter unter die Augen treten?«
»Passt dir das nicht, so kannst du dich ja direkt mit der Witwe ins Einvernehmen setzen«, schlug Patsy gelassen vor. »Sei sicher, die Frau zahlt gern für die Papiere, und nicht zu knapp.«
»Hallo, das ist der Weg«, rief der Strolch sofort eifrig. »Wo wohnt die Witwe?«
»Ich habe dir schon gesagt, dass sie Pemberton heißt, doch vor zehn Uhr morgen Vormittag kannst du sie schwerlich zu Gesicht bekommen«, erklärte Patsy, dem natürlich viel daran lag, die nötige Zeit zur vorherigen Benachrichtigung Idas zu gewinnen. »Ich will dir etwas sagen. Kannst du mit Bart Meyers fertig werden, so komme morgen früh um neun Uhr zu mir, und ich gebe dir dann Mrs. Pembertons Adresse. Übrigens, Spike«, setzte er vertraulich hinzu, »machst du einen Schnitt bei der Geschichte, so kannst du auch an mich denken, denn mir verdankst du doch den ganzen Salat!«
Seine Kriegslist wirkte Wunder, denn offenbar gewann sein Vorschlag das ungeteilte Vertrauen des Strolches, und dieser verschwor sich hoch und teuer, dass Patsy mit ihm zufrieden sein sollte.
Bald darauf trennte sich der junge Detektiv von den beiden Burschen und schlenderte gemächlich die Bowery entlang, um von dort aus eine Straßencar zur Heimfahrt zu benutzen.
Doch als er die Ecke der Bond Street erreichte, gewahrte er auf der anderen Straßenseite einen Mann, der dem ihm von dem Chicagoer Detektiv als Bart Meyers Bezeichneten verblüffend ähnlich zu sehen schien.
Die Bowery ist die breiteste Straße von New York, und um sich zu vergewissern, begab sich Patsy nach der anderen Straßenseite. Doch kaum hatte er im Rücken des ihm verdächtig Erscheinenden den anderen Bürgersteig erreicht, als er auch schon eine Hand auf seiner Schulter spürte. Als er sich rasch umwendete, sah er Chick vor sich stehen.
»Was ist los, Jüngster?«, flüsterte Chick ihm zu.
»Folgst du jenem Mann dort?«, erkundigte sich derselbe.
»Gewiss, es ist Bart Meyers – doch wo stecken deine beiden Leute?«
»Ganz in der Nähe in einem Saloon«, berichtete Patsy.
»Bart Meyers ist hinter ihren Skalps her!«
»Was, zum Teufel! Aus welchem Grund?«
»Er will sie kaltmachen!«, erklärte Chick lachend.
»So ein Gemütsmensch – warum denn gleich Mord und Totschlag?«
»Er hat sie im Verdacht, den bewussten Lederkasten gestohlen zu haben!«
Statt einer Antwort machte Patsy einen Luftsprung. Dann packte er Chick beim Arm und erkundigte sich atemlos, wo Nick sich befinde.
»Ganz in der Nähe – doch warum, Patsy?«
»Schnell, zeige mir, wo er ist – aber zackig, Chick!«
Dieser entnahm aus dem aufgeregten Gebaren seines Kollegen, dass der es eilig hatte, und so gab er das Signal, welches augenblicklich den Detektiv zur Stelle brachte.
Schleunig gab Nick Carter Chick den Auftrag, Bart Meyers nicht aus den Augen zu lassen, während er selbst Patsy zur Seite nahm.
»Ich weiß kaum, wie und wo zu beginnen«, berichtete Patsy hastig. »Ich habe den ganzen Tag über Spike Thomas und Bally Morris verfolgt. Ich dachte, dass Spike sich mit Bart Meyers vereinbart habe, um aus dem Raub das meiste Geld herauszuschlagen. Doch wie Chick mir eben sagte, meinte Meyers, dass Spike ihm den Kasten geraubt hat – und mir kommt es so vor, als ob dies auch der Fall ist!«
»Nun, Patsy, berichte alles, was du weißt, und dann wollen wir zuschauen, wie es mit unseren eigenen Ermittlungen übereinstimmt«, forderte der Detektiv den jungen Mann auf.
In Kürze berichtete der junge Detektiv nun seine dem geneigten Leser bereits bekannten Erlebnisse, und im Austausch erzählte ihm auch Nick, was er und Chick inzwischen ausgerichtet und ausgekundschaftet hatten. Natürlich brauchten die beiden scharfsinnigen Männer nicht viel Zeit, um sich anhand ihrer beiderseitigen Erlebnisse den ganzen Sachverhalt zusammenzureimen.
»Es ist vollständig klar, Meister«, erklärte Patsy schließlich. »Bart Meyers führte Spike an der Nase herum. Daraufhin beschloss dieser, dem Mann aus Chicago den Lederkasten zu stehlen. Er legte sich auf die Lauer, und als er nun von einem seiner Kumpane unterwegs hörte, dass Meyers weitab von seiner Wohnung weilte, da machte er sich mit Bally Morris zur Avenue A auf. Während ich vor dem Haus, in welchem Spikes Tante wohnt, auf der Lauer lag, müssen die beiden Kerle den Raub begangen haben. Ich verwette meinen Stiefel, dass der Lederkasten nebst Inhalt sich nun in Spikes Zimmer befindet – ganz nahebei in der Rivington Street!«
»Das dürfte wohl zutreffen«, meinte der Detektiv kopfschüttelnd. »Es ist ein vortrefflicher Gedanke von dir gewesen, diesen Spike zu dem Entschluss zu bringen, in direkte Verhandlungen mit der Witwe Pemberton zu treten. Diese ist halbwegs vernünftig geworden und beargwöhnt ihren bisherigen Sachverwalter Elwell. Außerdem ist Ida in der Lage, sich jederzeit mit der Witwe in Verbindung zu setzen. Auf diese Weise werden wir wohl wieder in den Besitz des Kastens kommen.«
»Vielleicht gelangen wir noch schneller ans Ziel, wenn wir Spikes Wohnung durchsuchen«, schlug Patsy vor.
»Das erscheint mir zu gewagt, denn der Bursche könnte kopfscheu werden, und wir setzen auf solche Weise womöglich alles aufs Spiel«, erklärte Nick Carter. »Nein, nein, wir tun besser, Spike vor einem Zusammentreffen mit diesem Bart Meyers zu bewahren, denn der Kerl ist zu allem fähig, und ein toter Spike Thomas wäre für uns von keinem Nutzen.«
»Leuchtet mir ein, Meister. Dann tue ich gut daran, Spike einen Wink zu geben – es kommt mir allerdings ohnehin schon so vor, als versuche er Meyers auszuweichen.«
Er wollte damit den Straßendamm wieder kreuzen, doch da gewahrte er auch schon Spike und Bally Morris, die im Begriff standen, quer über die Bowery gerade zu dem Saloon zu steuern, wo Bart Meyers Aufstellung genommen hatte. Ohne ein weiteres Wort eilte Patsy den beiden Burschen entgegen, während Nick Carter der nächsten Straßenecke zustrebte.
Als er dort anlangte, gewahrte er Bart Meyers, der eben dabei war, über den Bürgersteig in der Richtung, von welcher her Spike und Bally kamen, zu huschen. Hart auf dem Fuße war ihm Chick, und es hatte den Anschein, als ob der Einbrecher aus Chicago im Begriff stand, aus seiner Hintertasche einen Revolver zu ziehen.
Auch der Detektiv beschleunigte nun seine Schritte, und so kam es, dass er und seine beiden Gehilfen fast gleichzeitig zum Schutz der beiden Burschen herbeieilten, die von der ihnen bevorstehenden Gefahr noch keinerlei Ahnung hatten.
Inzwischen hatte sich Bart Meyers bis auf etwa zwanzig Schritt dem edlen Paar genähert, und in seiner Rechten blinkte ein Revolver. Doch in dem Augenblick, als er die Schusswaffe zielend erhob, sprang ihn auch schon Chick von hinten an, und im selben Moment hatte auch der Detektiv den revolverbewehrten Arm mit eisernem Griff gepackt.
Patsy hatte inzwischen gleichfalls die beiden jungen Strolche erreicht und riet ihnen, sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Die Gefahr war indessen schon vorüber, denn Bart Meyers befand sich in der Gewalt der beiden anderen, und ihnen gegenüber war er nur ein schwaches Kind.
Nick Carter drängte den wutschäumenden Verbrecher unauffällig den Häusermauern zu, während Spike und Bally, dicht gefolgt von Patsy, Fersengeld gaben.
Wenn der Detektiv auch genau zu wissen glaubte, dass Bart Meyers und dessen Genosse den Einbruch im Herron’schen Hause verübt hatten, so lag es dennoch keineswegs in seiner Absicht, nun schon eine Verhaftung vorzunehmen – zuvor wollte er erst wieder in den Besitz des Lederkastens mit seinem wertvollen Inhalt gelangt sein. Ebenso wenig sollte auch Bart Meyers beargwöhnen, dass Nick Carter es gewesen war, welcher ihn im entscheidenden Moment an der Begehung einer Bluttat gehindert hatte.
So sagte er kurz und gemessen: »Mensch, Sie müssen verrückt sein, um hier am helllichten Tag auf der Bowery einen Mordanfall zu wagen. Danken Sie jetzt Ihrem guten Glück, dass ich zur Hand war, Sie an einem derartig blödsinnigen Vorgehen zu hindern. Nun verziehen Sie sich schnell, ehe ein Polizist herbeikommt, sonst packt er Sie beim Kragen!«
Bart Meyers maß ihn mit einem tückischen Blick, doch er gab keine Antwort, sondern wendete sich kurz um und schritt die Bowery hinauf.
Rasch verständigte der Detektiv seinen Gefährten durch ein Zeichen, dem Verbrecher unmerklich zu folgen, während er selbst sich aufmachte, Ida aufzusuchen, um dieser weitere Verhaltensmaßregeln für den kommenden Tag an die Hand zu geben.