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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 5 – 4. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 5
Die Menschenfalle im alten Haus
4. Kapitel

In der Opiumkneipe

Der elegant gekleidete Verbrecher hatte sich umgewandt und schritt schnell davon. Holmes sah ihm einen Augenblick nach, aber er machte keine Miene, den gefährlichen Menschen zu verfolgen.

»Schade, schade«, meinte der Detektiv, »ich lege meine Hand ins Feuer, dass dieser Bursche den Mann im Café genau kennt und mit ihm unter einer Decke steckt. Aber das lässt sich ja nicht beweisen. Es ist mir heute nicht zum ersten Mal passiert, dass ein gefährlicher Verbrecher, der gerade seine Strafe verbüßt, mir entgegentrat und mit seiner Rache drohte. Drohungen sind in England nicht strafbar, ich kann ihm also nichts anhaben. Also drei Tage noch haben mir die Herren gegönnt. Nun, wir wollen sehen, ob sie Wort halten. Aber unter diesen Umständen gehe ich jetzt nicht nach Hause.«

Wenige Minuten später saß Holmes in einer Droschke und fuhr durch ein paar Straßen. Hierauf verließ er den Wagen und benutzte einen Omnibus, später eine Straßenbahn, und dann war er wie vom Erdboden verschwunden.

Sherlock Holmes besaß in der Stadt verschiedene Absteigequartiere, die er zuweilen auf der Jagd nach Verbrechern benutzte. Die Zugänge zu diesen Wohnungen waren manchmal höchst originell. Holmes sorgte dafür, dass ihn keiner seiner vielen Verfolger jemals in einen seiner Schlupfwinkel hineingehen sah. Er wusste immer geeignete Momente für sein Verschwinden abzupassen.

Er ging auch nicht zu der Polizeistation, wie er den Beamten gesagt hatte, sondern benutzte einen seiner Helfershelfer, deren er immer eine ganze Anzahl besaß, um eine Botschaft dorthin zu schicken.

Der Bote des berühmten Detektivs war ein halbwüchsiger, ungefähr dreizehn Jahre alter, ungemein schmutzig aussehender Bursche mit ungekämmten Haaren, ein echter Londoner Gassenbengel.

Für Sherlock Holmes aber war dieser Junge im wahrsten Sinne des Wortes unbezahlbar, denn er hatte ihn gewissermaßen für sich herangezogen. Auf die Schlauheit und die Verschwiegenheit dieses Jungen konnte er Häuser bauen.

Holmes schrieb nur auf einen Zettel folgende Worte:

Schicke Ihnen anbei den Stock des Toten, der von dem Betreffenden als Blasrohr benutzt wurde. Er hat damit ein kleines Geschoss auf mich abgesendet, jedoch seinen Zweck nicht erreicht. Er selbst hat sich mit einem anderen dieser höchst gefährlichen Geschosse verletzt und auf der Stelle den Tod gefunden. Dies zur Aufklärung. Sollten bei dem Toten irgendwelche Papiere gefunden werden oder der Mann überhaupt der Behörde bekannt sein, so erbitte durch meinen Boten schnellstens Nachricht.
S. H.

Der Stock wurde in Lumpen gewickelt, bis zu einem unförmlichen Paket, sodass es aussah, als ob der Junge einen Bündel Lumpen verkaufen wollte. Hierauf kletterte der verschmitzte Bengel über die Hofmauer und lief durch ein paar Verbindungsgänge, bis er erst vier Häuser weiter auf die Straße gelangte. Das war sein gewöhnlicher Weg. Von da aus begab sich der Bursche nicht etwa zu der Polizeistation selbst, sondern zur Wohnung eines Polizisten, die ganz in der Nähe der Station lag, und wohin Holmes seine Botschaften gewöhnlich zu schicken pflegte.

Nach zwei Stunden kam der Junge wieder zurück und überbrachte Holmes eine Antwort, die kurz und lakonisch lautete:

»Toter vollständig unbekannt, kein Papier bei ihm zu finden. Monogramm aus Wäsche herausgetrennt. Auch im Verbrecheralbum nicht zu entdecken. Besondere Kennzeichen: Trägt auf der Brust blau tätowiert untenstehendes sonderbare Zeichen.«

Sherlock Holmes besah sich aufmerksam dieses Zeichen, welches man auf das Genaueste abgemalt hatte.

»Ich dachte es mir«, murmelte er, »sie waren auf alles vorbereitet, auf alles. Und das ist für mich der Beweis, dass ich es mit einer höchst gefährlichen Gesellschaft zu tun bekomme. Das Zeichen aber hier befindet sich in den Papieren des Majors. Heute kann ich doch nichts mehr tun, denn der Abend naht, und ich will mal einige Stunden schlafen, da ich die ganze vorige Nacht bei meinem chemischen Experiment gesessen habe. Die Zeit bis zum Abend werde ich benutzen, um die Papiere zu prüfen. Vielleicht gelingt es mir, die Geheimschrift zu enträtseln.«

Drei Stunden saß der Detektiv bei einer kleinen Lampe über die Dokumente gebeugt, welche allen Bemühungen, sie zu entziffern, zu spotten schienen. Unermüdlich versuchte der berühmte Detektiv den Schlüssel zu der seltsamen Schrift zu finden, von der er bestimmt vermutete, dass sie nicht sinnlos niedergeschrieben war.

Er schien aber absolut damit nicht weiterzukommen und hörte endlich seufzend auf, als es elf Uhr schlug. Ermüdet warf sich Sherlock Holmes auf die einfache Lagerstätte und schlief den Schlaf des Gerechten, bis die

Frau, welche ihm das Zimmer vermietet hatte, dem berühmten Detektiv den Kaffee brachte.

Auf die Treue und Verschwiegenheit dieser Frau konnte sich Sherlock Holmes offenbar fest verlassen. Sie wurde sicherlich von der Polizei insgeheim bezahlt und erhielt auch von Sherlock Holmes eine entsprechende Vergütung.

Die Frau war durchaus nicht erstaunt, als sie beim Eintreten in das Zimmer am Tisch sitzend einen von der Sonne tief gebräunten Seemann gewahrte, eine echte Teerjacke tragend, anscheinend schon bei Jahren, mit grauem Backenbart und einen Pfeifenstummel im schiefgezogenen Mund.

Es war Holmes in Verkleidung, die er schon in aller Morgenfrühe angelegt hatte, ehe er sich wieder in die geheimnisvollen Dokumente vertiefte. Nun schien er mit seinem Resultat zufriedener zu sein als am Abend, denn er blinzelte der Frau lächelnd zu, als sie das Kaffeegeschirr vor ihm niedersetzte.

»Da hört aber alles auf«, rief sie mit gedämpfter Stimme. »Wahrhaftig, wenn ich nicht wüsste, dass Sie nicht hinaus und kein anderer hineinkonnte, so hätte ich darauf geschworen, einen anderen vor mir zu sehen. Das ist ausgezeichnet. Wie ein richtiger Bootsmann oder Untersteuermann, der eben erst mit seinem Schiff am Themsekai angelegt hat. Ihr bester Freund wird Sie nicht erkennen. Ausgeschlossen.«

»Freut mich«, erwiderte Sherlock Holmes, indem er der Frau das Bündel Papiere übergab. »Ich meine aber, es gibt doch Augen, die schärfer sehen als meine besten Freunde. Und das dürften meine besten Feinde sein. Mit denen habe ich zu rechnen. Hier, nehmen Sie die Papiere und legen Sie dieselben in das bewusste Versteck. Wann ich wiederkomme, weiß ich noch nicht. Sollte ich bis morgen früh nicht hier sein, so kann Ihr Junge das Paket, sorgfältig in Lumpen gehüllt, zu meiner Wohnung bringen.«

Sherlock Holmes dachte natürlich nicht daran, sich sofort an den Ort zu begeben, den er erst gegen Abend aufsuchen wollte. Es galt vielmehr für ihn, sich erst stundenlang, ja den ganzen Tag über am Themsekai zu bewegen, hier und dort die Matrosenkneipen aufzusuchen und dabei scharf die Augen offen zu halten, ob ihn nicht etwa jemand beobachtete.

Gegen neun Uhr verließ er das Haus, welches nicht weit von der Themse entfernt war. Wie Sherlock Holmes verschwunden war, so tauchte er auch plötzlich wieder auf. Er hatte dabei glücklich den Moment erfasst, in dem kein Passant in der Gasse vorüberkam, und so schlenderte er, von niemand beachtet, mit schwankendem Seemannsgang, seine Tonpfeife rauchend, der Themse zu.

Dort herrschte lebhaftes Treiben wie immer. Da lagen die Schiffe, welche von der See aus die Themse hinauffuhren. Allenthalben wurde ausgeladen, überall hörte man das Geschrei der Schlepper und Arbeiter, vernahm man das Knarren der Winden, und niemand hatte Zeit, sich um die Teerjacke zu kümmern, welche nach langer, mühseliger Reise dem Land einen Besuch abstattete. Das taten so viele, und trotz der frühen Morgenstunde hörte man in den Hafenkneipen lautes Gelächter, Musik und das Kreischen der Schenkdirnen, die dort den Seeleuten das Verlangte kredenzten und manchen derben Witz in den Kauf nehmen mussten.

Sherlock Holmes hatte jedenfalls ganz bestimmte Gründe, sich hier aufzuhalten. Er bummelte umher, ganz wie es die anderen Seeleute taten, welche nach langer Arbeit dem Müßiggang oblagen. Er aß in der einen Schenke, trank Kaffee in der zweiten und hatte dabei stets ein scharfes Ohr für alles, was in seiner Nähe gesprochen wurde.

Bisher hatte Sherlock Holmes noch nicht das geringste Verdächtige bemerkt und doch war es ihm immer, als ob jemand seinen Spuren folgte. Er sah wohl niemand, aber er hatte das Gefühl, dass es so und nicht anders sein konnte. Es fragte sich nur, ob man ihn trotz der ausgezeichneten Maskierung erkannte.

»Nun, das wird sich ja bald zeigen«, meinte er, als er wieder eine Schenke verließ und eine ganze Zeit dem Verladen der Schiffe zusah. »Ob Hopkins wohl recht behalten wird mit seiner Prophezeiung? Nun, wir werden sehen, wer bei der Geschichte gewinnt. Ich oder die Verbrecher. Denn dass ich es mit einer ganzen Anzahl zu tun habe, das steht felsenfest. Ein Glück war es, dass ich heute Morgen den Schlüssel zur Geheimschrift fand. Ich habe es immer gesagt, gerade am Morgen, wenn man gut geschlafen hat, kommen einem die besten Gedanken. Nun kenne ich das Geheimnis des Majors, nun weiß ich auch, weshalb er solche Angst hatte, wenn die Briefe aus Indien kamen. Aber ich weiß auch, weshalb sein Tod so plötzlich erfolgte. Erst wenige Stunden vor seinem Tod hat er die Notizen gemacht, die er in der Geheimschrift niederlegte. Und die betreffenden Personen, welche damit zu tun haben, sind hier in London.

Ich glaube, die Geschwister Donelson werden staunen, wenn ich ihnen mitteile, was jene geheimnisvollen Dokumente mir verraten haben.«

Der Abend nahte, und als es dunkel wurde, sah man eine große Anzahl Matrosen, Steuerleute, Bootsmänner und was sonst auf den angekommenen Schiffen freie Zeit hatte, den verschiedenen Vergnügungsetablissements zueilen.

Diese waren alle für den Besuch von Matrosen berechnet und ganz auf deren Geschmack zugeschnitten.

Sherlock Holmes befand sich bald inmitten der Leute und verfolgte seinen Weg in eine schmale Seitengasse, wo an verschiedenen Stellen bunte Laternen brannten.

Es lagen viele Indienfahrer im Hafen, Schiffe, die aus der englischen Kolonie gekommen waren, und die Matrosen dieser Schiffe strebten alle ein paar großen farbigen Laternen zu, auf denen scheußliche Fratzen gemalt waren.

Es war eine sogenannte Opiumkneipe, die einzige, die zurzeit am Hafen geduldet wurde. Dort fanden die Matrosen, welche diesem eigenartigen, betäubenden Genuss frönten, Gelegenheit, Opiumpfeifen zu rauchen. Nebenbei stand dieses Restaurant, welches halb im Keller lag, auch in dem Ruf, seinen Gästen eine Menge Sehenswürdigkeiten aller Art zu bieten.

Die Räume waren sehr groß und ausgedehnt und von neun Uhr abends an machten allerhand Gaukler dort die Runde; Taschenspieler, Chinesen, Inder, die ihre eigenartigen Künste zeigten. Degenschlucker, Feuerschlucker, kurz, alle diejenigen, welche hofften, von den Matrosen, die solche Schaustellungen über alles liebten, eine kleine, klingende Vergütung zu erhalten.

Von außen sah das Restaurant nicht sehr verlockend aus, aber innen wurde man ziemlich angenehm enttäuscht. Die Räume waren groß und nicht allzu niedrig, und das einzig Unangenehme war nur der dichte Tabakqualm, der diese Räume erfüllte.

Sherlock Holmes nahm an einem der Tische Platz, an welchem schon mehrere alte Teerjacken saßen, die natürlich allerhand Fragen an ihn richteten.

Der Detektiv zeigte sich aber vortrefflich über das Seewesen unterrichtet, und als man ihn nach seinem Schiff fragte, da erwiderte er nur kurz, dass er eine Zeitlang schon außer Dienst sei und krank in einem Londoner Hospital gelegen hätte.

Darauf stellte man keine weiteren Fragen an ihn, vielmehr unterhielten sich die alten Seebären am Tisch von ihren Fahrten und Abenteuern, während Sherlock Holmes bescheiden zuhörte, wie es den Seeleuten am angenehmsten war, da sie sich selbst gern erzählen hörten.

Inzwischen hatten sich die Räume ziemlich gefüllt, und es kamen auch schon allerhand Gaukler, Taschenspieler und ähnliche Künstler, welche ihre Kunststücke zeigten und dann mit dem Hut in der Hand sammelnd umhergingen.

Hier unten war alles gut, aber auch teuer. Der Wirt, ein schlauer Chinese, ließ sich gut bezahlen, er wusste, dass die Matrosen, Boots- und Steuerleute nach den langen Fahrten Geld in der Tasche hatten, und da sorgte er dafür, dass er auf seine Kosten kam. Allerdings fand man bei ihm auch die schmucksten Schenkdirnen und den besten Rum, den es am ganzen Hafen gab, ein Umstand, der allein schon genügend war, die Matrosen hierherzulocken.

Nun stellte Sherlock Holmes auch einige Fragen an die Seebären, nachdem er gehört, dass dieselben schon mehrmals die Opiumkneipe besucht hatten.

»Kommen nicht auch Inder hierher?«, fragte der verkleidete Detektiv. »Ich sprach gestern mit einem alten Bekannten, und der meinte, es zögen einige indische Gaukler des Nachts durch diese Kneipen.«

»Ja, das war früher der Fall«, erwiderte einer der alten Seebären, »ehedem kamen die Inder alle Abende. Gewöhnlich war es ein älterer Mann, der europäische Kleidung, aber den Turban trug. In seiner Gesellschaft befand sich ein junges und außerordentlich hübsches Mädchen. Ich habe aber stets behauptet, dass es keine Inderin von reiner Rasse sei, es war entschieden gemischtes Blut. Sie haben alles Mögliche gezeigt. Der Alte zum Beispiel steckte das Mädchen in einen Korb, den er mit einem Tuch zudeckte, stieß mit dem Schwert hinein, worauf das Mädchen furchtbar stöhnte, und alle glaubten, das schmucke Mädchen sei erstochen. Manchmal sind die Matrosen ordentlich wild auf den Alten zugegangen, bis dieser lachend das Tuch hochhob und den leeren Korb zeigte. Gleich darauf legte er das Tuch wieder über den Korb, und dann stieg das Mädchen gesund und munter daraus hervor. Bei den Indern sieht man in der Tat tolle Dinge. Aber wenn matt so zusieht, wird einem immer so sonderbar zumute, so schläfrig, auch hat der Alte uns dabei immer so sonderbar angesehen. Er konnte auch glühende Kohlen nehmen und damit jonglieren. Er nahm sie auch in den Mund, dass die Funken herausstoben. Und zum Überfluss ließ er dann ein paar gewaltige Brillenschlangen tanzen, Kobras, wie man sie nennt.

Diese sonst so giftigen Tiere sind aber ungefährlich. Sie können nichts tun, denn sie besitzen keine Giftzähne mehr, die sind ihnen ausgebrochen worden. Der Alte hat mir nie gefallen, das war ein widerlicher Mensch, und er besaß einen scheußlichen, unsteten Blick. Aber das Mädchen war ein allerliebstes Ding. Es blickte immer so traurig und trübselig, dass es einem in der Seele weh tat. Aber seit einiger Zeit sieht man die beiden Inder nicht mehr. Vielleicht haben sie London verlassen, obwohl das eine Narrheit wäre, denn hier am Hafen haben sie zehnmal mehr verdient, als es an anderen Orten möglich ist.«

Hätte man nun Sherlock Holmes genau beobachtet, so würde man einige Enttäuschung bei ihm bemerkt haben.

Das ist schade, dachte der Detektiv. Ich habe bestimmt darauf gerechnet, dass die beiden sich noch hier aufhalten, denn in dem Tagebuch des toten Majors sind ja die zwei ausdrücklich erwähnt. Ich vermute sogar, dass sich hier das fehlende Glied in der Kette ergänzen ließe, wenn ich wüsste, wo diese beiden wohnen.

Wenn es mir gelingt, mehr von ihnen zu erfahren, so könnte ich möglicherweise das Rätsel lösen, welches das Verschwinden von Archibald Donelson und dem Diamanten umgibt. Da scheint meine Mühe vergeblich gewesen zu sein, und ich verliere nur unnötig Zeit. Freilich wird mich auch Hopkins mit seinen Genossen hier nicht vermuten, aber das ist kein Vorteil, denn Henry Donelson hat nur sieben Tage Zeit. Zwei sind davon verstrichen, und ich fürchte, alsdann wird der junge Mann das Schicksal seines Vetters teilen. Wahrhaftig, sollte es mir jetzt so gehen, dass ich nicht weiterkönnte? Es hängt viel vom Glück ab. Die Mitteilung, dass sich die Inder hier nicht mehr sehen lassen, ist ein Strich durch meine Rechnung.

Sherlock Holmes war einen Augenblick nahe daran, die Opiumkneipe zu verlassen, aber er besann sich; es schien, als ob ihn irgendetwas zurückhielt. Und er folgte dieser inneren Stimme, die ihn so selten täuschte.

Mit einem Mal stieß einer der alten Seebären, die an seinem Tisch saßen, einen derben Fluch aus, aber das war nicht etwa das Zeichen des Ärgers, sondern der Genugtuung.

»Ah, da sind sie wahrhaftig wieder!«, rief der Alte, auf den Tisch schlagend, dass die Gläser tanzten, »da, der alte Braune und das hübsche Mädchen. Sie wird wohl krank gewesen sein, sie sieht ja ganz elend aus. Also deshalb haben sie sich so lange hier nicht sehen lassen!«

Sherlock Holmes hatte die Eintretenden längst ins Auge gefasst, aber er tat so, als ob er sich nicht sehr um sie bekümmerte. Von verschiedenen Seiten wurden den Ankömmlingen ein Willkommen zugerufen, ein Beweis, dass ihr Wiedererscheinen mit Freuden begrüßt wurde.

Voran ging ein Mann, den Sherlock Holmes auf ungefähr fünfzig Jahre schätzte. Der Mann trug einen Kasten auf dem Rücken, der nicht leicht zu sein schien, da sich der Träger weit nach vorn überneigte. Hinter ihm aber schritt eine jugendliche Gestalt einher, ein Mädchen, welches sich ganz in einen dunklen Mantel eingehüllt hatte, als ob es fröstelte. Man sah nur ein zartes, ungemein liebliches Gesicht mit großen, dunklen Augen, in denen Holmes Angst und Trauer zu lesen glaubte.

Im selben Augenblick, als der Mann, der europäische Kleidung trug und dessen braunes Gesicht ein weißer Turban krönte, eintrat, war es Holmes, als ob ein Schatten hinter diesem Mann vorüber huschte. Gleichzeitig bemerkte er auch, dass der Inder zu ihm hinüberblickte und ihn scharf ins Auge zu fassen schien.

Sherlock Holmes war fest davon überzeugt, dass er diesen Menschen noch nie gesehen hatte. Aber ebenso fest war er davon überzeugt, dass ein anderer, den er nicht sehen konnte, den Fremdling auf ihn aufmerksam machte.

Schade, dass ich jetzt nicht draußen war, dachte Holmes, indem er sich gemächlich eine neue Tonpfeife stopfte. Möglicherweise hätte ich ein bekanntes Gesicht gesehen, vielleicht gar meinen guten Freund Hopkins. Ich muss damit rechnen, dass diese Augen mich selbst in meiner Maske erkennen. Aber ich bin ja auf alles vorbereitet.

Der Mann setzte nun seinen Kasten ab und grüßte nach allen Seiten. Die Matrosen riefen ihm zu und fragten, warum er sich so lange nicht hätte sehen lassen.

»Nauma war krank«, erwiderte der Inder kurz in ziemlich gutem Englisch, indem er auf die verhüllte Mädchengestalt deutete. »Sie kränkelt in dem rauen Klima, und auch ich fühle mich hier nicht wohl. Wir haben einiges Geld verdient und werden so bald als möglich, noch ehe der Winter kommt, in unserer schöne Heimat zurückkehren.«

Dabei hatte der Alte seinen Kasten auf den Boden gestellt und entnahm demselben geschäftig indische Schwerter, Bronzegeräte und andere Dinge, wie sie solche Gaukler bei ihren Vorstellungen mit sich führen.

Der Wirt trat nun auch heran.

»Ihr habt ja Eure Wohnung aufgegeben«, sprach er zu dem Inder, »ich war mehrmals dort, um nach Euch zu fragen, weil Ihr eine ganze Masse Gäste herangezogen habt. Wo wohnt Ihr denn jetzt, Nan Sing? Lasst es mich doch wissen? Ich habe auch bei Tag eine Menge Gäste hier, sogar Kapitäne von den Schiffen, die würden sich sehr gern an Euren Gaukelkünsten erfreuen.«

Der Inder aber schien diese Frage entweder zu überhören oder sie nicht beantworten zu wollen; er murmelte nur etwas Unverständliches vor sich hin und begann alsbald seine Künste, an denen das junge Mädchen fast keinen Anteil nahm.

Sherlock Holmes war sofort überzeugt, dass dies reizende, zarte Geschöpf, welches nun den Mantel lüftete, das Kind eines Weißen und einer Inderin sein musste. Das junge Mädchen schien sich noch immer leidend zu fühlen. Es kauerte auf dem Boden nieder, und nur, wenn ihr Begleiter ihr ein Schwert oder ein Gefäß zuwarf, fing sie es rasch und geschickt auf, wobei sie ungemeine Grazie entfaltete.

Der Inder machte seine Sache vorzüglich, er jonglierte mit glühenden Kohlen und Messern und zeigte sich in jeder Weise als gewandter Gaukler. Sherlock Holmes aber, der ihn auf das Schärfste beobachtete, bemerkte wohl, dass der Inder ihm von Zeit zu Zeit prüfende Blicke zuwarf, sobald er sich von dem vermeintlichen Bootsmann nicht beobachtet glaubte.

»Na, habt Ihr auch Eure Schlangen mitgebracht, Nan Sing?«, fragte der Wirt, der sich ebenfalls an der Schaustellung ergötzte. »Zeigt mal die Biester und lasst sie tanzen, das ist immer ein ganz famoses Schauspiel.«

Es war, als ob der Inder auf diese Aufforderung gewartet hätte. Er zog aus seinem Kasten einen geflochtenen Korb hervor, den er auf den freien Platz, den die Tische umgaben, niederstellte. Er hob den Deckel auf und griff mit der Linken nach einer Art Flöte, die einem Dudelsack ähnlich sah. Zugleich bewegte sich etwas im Korb, vier dreieckige Köpfchen guckten hervor, die sich beim Klang der Flöte zu vergrößern schienen. Es waren vier indische Brillenschlangen, welche nach der Gewohnheit dieser Tiere die Hälse aufblähten und zuweilen die gespaltenen Zungen zeigten.

»Damned«, rief einer der alten Seebären, die neben Sherlock Holmes saßen. »Ihr habt jetzt vier Schlangen? Früher waren es doch drei. Wo habt Ihr denn die vierte herbekommen?«

»Ich besaß sie schon«, erwiderte Nan Sing. »Sie war noch jung, und ich musste sie erst zähmen. Jetzt tanzt sie so gut wie die anderen.«

Er unterbrach sich in seinem Flöten, und während die Schlangen noch immer im Korb ihre aufgeblähten Hälse reckten, ging Nan Sing von Tisch zu Tisch mit einem Teller, um Geld einzusammeln.

Die Geldstücke klirrten lustig auf den Teller, Nan Sing hielt reichliche Ernte. Nun trat er auch an den Tisch heran, an welchem Sherlock Holmes neben den übrigen Seeleuten saß.

Der Detektiv warf ihm, wie es die meisten taten, ein Six-Pence-Stück auf den Teller. Im selben Moment aber schien Nan Sing eine ungeschickte Bewegung zu machen, wenigstens fielen einige Geldstücke zu Boden, die der Mann eilig aufsammelte.

Dabei bückte er sich und streifte einmal flüchtig mit der Hand an Sherlock Holmes Fuß vorüber. Der Detektiv beobachtete ihn auf das Aufmerksamste und überzeugte sich vor allen Dingen, dass Nan Sing nichts in der Hand hielt, wenigstens nichts, was einer Waffe ähnlich war.

Der Inder verneigte sich nun dankend und kehrte zu seinem Kasten zurück. Dort hatten sich die Schlangen wieder niedergekauert, aber als die Flöte lauter erschallte, richteten sie sich empor, diesmal höher als vorhin. Die eine der Schlangen aber begann mit ihrem Kopf seltsame Bewegungen zu machen.

Sie sah ununterbrochen mit den kleinen, wie Karfunkel glühenden Äuglein um sich, und im selben Moment verspürte Sherlock Holmes einen eigenartigen Geruch in seiner nächsten Nähe. Es war ihm, als ob der Geruch von ihm selbst ausginge, und zwar von der Stelle her, wo seine Füße auf dem Boden ruhten. Dieser Geruch war nicht unangenehm, aber süßlich, durchdringend.

Sherlock Holmes hatte die Hand ausgestreckt und nach dem großen steinernen Krug gefasst, der auf dem Tisch stand und das beliebte englische Porterbier enthielt. Es schien, als wollte er sich eben daraus sein Glas füllen. In Wahrheit aber hatte er seine Augen unablässig auf die Schlange gerichtet.

Plötzlich bog die Kobra den Kopf zurück. Es schien, als ob sie nach dem Ort gesucht hätte, wo der seltsame Duft emporstieg. Nun sah sie starr zu der Stelle hinüber, wo Sherlock Holmes saß. Weiter beugte sie sich zurück und im selben Moment schnellte das Tier aus dem Korb blitzschnell vorwärts.

Aber ebenso rasch wie die Schlange war auch Sherlock Holmes aufgesprungen, und zwar mit einem Satz zur Seite, den Krug hoch in der Rechten. Man vernahm ein lautes, schmetterndes Krachen: Sherlock Holmes hatte den schweren, steinernen Porterkrug mit voller Gewalt zu Boden geschmettert. Die Scherben lagen an der Stelle, wo der Detektiv noch eben die Füße gehalten hatte, und mitten unter den Scherben lag mit zerschmetterten Leib die Brillenschlange.