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Der Detektiv – Band 22 – Das Armband der Lady Melville – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 22
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Armband der Lady Melville

Teil 1

Frau Thora Torstensen war überglücklich! Nun hatte sie auch die beiden seit Tagen leerstehenden Zimmer wieder vermietet. Und dazu noch an so solide Herren gesetzten Alters, einen englischen Ingenieur und einen Wiener Geschäftsreisenden, die beide gleich für eine Woche vorausbezahlt hatten.

Frau Torstensen lief hurtig wie ein Wiesel in die Küche und teilte ihrer Köchin Ulla die frohe Botschaft mit. »Ulla, soeben bin ich auch Busleys Zimmer wieder losgeworden. Der Herr zieht sofort ein. Es ist ein Engländer namens Percy Haberton, Ingenieur.«

Ulla, die mit Frau Torstensen noch die besseren Zeiten durchgemacht hatte, als der Major Torstensen noch lebte, brummte etwas wie Alle Engländer können mir gestohlen bleiben! vor sich hin.

»Ulla, Ulla!«, meinte da die Frau Major. »Sie müssen doch den anderen Engländern nicht unterschiedslos nachtragen, was der Busley uns für Unruhe und Laufereien bereitet hat!«

»Na, ein Mensch, der hier in ein anständiges Haus kommt, plötzlich an Schlagfluss stirbt und von dem sich dann herausstellt, dass er fraglos unter falscher Flagge segelte, der sicherlich ganz anders hieß und der begraben wurde, ohne dass sich auch nur ein einziger Verwandter hier in Kopenhagen meldete, so ein Mensch ist ein Spitzbube oder Mörder gewesen, nichts anderes!«

»Unsinn! Reden Sie nur nicht Derartiges vor anderen, Ulla! Er kannte keine Seele hier in Kopenhagen der Macdonald Busley! Jetzt aber an die Arbeit, Ulla! Um halb fünf wollte der Ingenieur Haberton mit seinem Koffer kommen. Geben Sie nur das Tablett mit dem Kaffee für den ulkigen, den Wiener her. Ich stelle es ihm ins Zimmer. Er muss gleich mit dem Bad fertig sein.«

Der ulkige Wiener nannte sich hier Josef Greiner und stand zurzeit auf dem Rand der gefüllten Wanne, in ein Badelaken gehüllt, hoch ausgereckt da und lauschte in die Ventilationsklappe hinein, die vom Badezimmer zur Küche durch die Mauer sich hindurch zog.

Als es für Herrn Greiner nichts mehr zu spionieren gab, beendete er seine Toilette, ließ das Wasser aus der Wanne ablaufen und rieb sich zufrieden lächelnd die Hände. Dann nahm er aus einem mitgebrachten Holzkästchen allerlei seltsame Dinge heraus, stellte sich vor den Spiegel und begann sein bartloses Gesicht mit der Geschicklichkeit eines routinierten Schauspielers zu verändern.

Als er aus der Wanne gestiegen war, hatte er lediglich Ähnlichkeit mit mir selbst gehabt, mit Max Schraut, dem Freund und Privatsekretär des einigermaßen bekannten Liebhaberdetektivs Harald Harst.

Mein Zimmer bei Frau Torstensen – ich war mittags eingezogen – lag neben dem Balkonzimmer, hatte nur ein Fenster und besaß eine Verbindungstür nach rechts hin, die durch den Kleiderschrank verstellt war. Wenn ich mein Fenster öffnete, mich hinauslehnte und nach rechts griff, konnte ich bequem das Balkongitter erfassen. Wir hatten das alles genau berechnet, bevor wir bei Frau Torstensen mieteten, wir, denn Ingenieur Percy Haberton war ja kein anderer als Harald Harst, dem sehr viel daran lag, gerade des geheimnisvollen Busley-Zimmer zu erhalten, in dem dieser zehn Tage gewohnt und dann am elften Tag morgens an Schlagfluss gestorben war. Ein Arzt hatte Schlagfluss festgestellt. Dann suchte man in London Bekannte oder Verwandte des Verstorbenen zu ermitteln. Man fand niemand, der für den Kaufmann Busley Interesse hatte. Nur die Kopenhagener Polizei und wir gedachten uns mit diesem Mann noch näher zu beschäftigen. Aber jeder für sich. Für die hiesige Polizei waren wir bereits nach Deutschland abgereist.

Ich trank nun an meinem Sofatisch Kaffee und studierte dabei ein paar deutsche Zeitungen, die ich mir gekauft hatte. Als Wiener durfte ich, ohne Verdacht zu erregen, deutsche Blätter lesen.

Ich lauschte sehr oft zum Flur hin. Harst-Haberton musste ja nun jeden Augenblick hier seinen Einzug halten. Aber es wurde fünf, es wurde halb sieben, er erschien nicht. Da kam die Unruhe und Angst über mich, ihm könnte etwas zugestoßen sein. Ich trat ans Fenster, öffnete es und schaute auf die stille Olfersgade hinab.

Frau Torstensen bewohnte den ganzen ersten Stock des alten Hauses. Gegenüber im Erdgeschoss befanden sich in einem neuen, modernen Mietspalast ein Blumenladen und eine Fleischerei. Meine Blicke wanderten von dem Blütenschmuck des großen Schaufensters, der in diese triste Herbststimmung so gar nicht hineinpasste, ohne besondere Absicht höher. Meine Augen entzifferten ein an der Balustrade einer Loggia angebrachtes, sehr langes und auffallendes Schild Fremdenheim 1. Ranges Tilda Olafsen, gewahrten an den Fenstern rechts davon die dunkle Gestalt eines Menschen; ob Mann oder Weib, war nicht zu erkennen, denn das Zimmer war nicht beleuchtet.

Gleichgültig wollten meine Blicke wieder auf die Straße hinabspähen.

Da wurde in unserem Haus im zweiten Stock gerade über mir im Zimmer bei unverschlossenen Vorhängen offenbar eine elektrische Krone mit mehreren Flammen eingeschaltet. Das wirkte wie ein Scheinwerfer. Die Lichtflut traf das Schild des Fremdenheims 1. Ranges, traf auch die Fenster neben der Loggia.

Einen Moment nur gewahrte ich so die Gestalt drüben deutlicher. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, der meinen Augen gestattete, das seltsame Geschöpf genauer zu mustern. Dann fielen drüben die Vorhänge übereinander.

Ich sage: ein seltsames Geschöpf! Besser kann ich diesen Gesamteindruck nicht bezeichnen. Aus einem unförmigen, dunklen Leib wuchs ohne Halsansatz ein ungeheurer Kopf hervor, dessen Schädel absolut kahl gewesen sein musste, denn ich hatte ja ein mattes Glänzen bemerkt, wie es schweißigen Kahlköpfen im Lampenlicht eigen ist. Aber es war doch wieder nicht das Glänzen einer menschlichen, haarlosen Billardkugel gewesen. Nein, wenn es ein Mensch überhaupt gewesen war, dann musste es sich um einen Farbigen oder vielleicht einen Vertreter eines ganz dunkelhäutigen Volkes gehandelt haben. Von dem Gesicht selbst war in mir nur die unklare Erinnerung zurückgeblieben, dass dem Geschöpf die Ohren gefehlt hatten und dass auch kaum eine Nase vorhanden gewesen sein konnte. Nur etwas wie einen wahrhaft riesigen, aufgerissenen Mund glaubte ich erkannt zu haben.

Über mir war die Krone längst wieder ausgedreht worden. Ich selbst stand gleichfalls im dunklen Zimmer am Fenster und starrte daher mit Ausdauer hinüber auf jene Vorhänge, hinter denen das merkwürdige Wesen verschwunden war. Ich konnte von dorther in dieser Dunkelheit nur schwer bemerkt werden, wenn ich mich nicht gerade hinauslehnte, und deshalb blieb ich auch auf meinem Beobachtungsposten noch gut eine Viertelstunde, obwohl es drüben nichts mehr zu erspähen gab. Nur noch matt erleuchtet waren die gelben Vorhänge. Sonst nichts!

Ich kam mit meinen Gedanken von dem Rätselgeschöpf nicht mehr los! Selbst als ich dann mein Fenster geschlossen, den Vorhang vorgezogen und auf dem Schreibtisch die Lampe angedreht hatte, dachte ich abwechselnd an den noch immer nicht hier eingetroffenen Harst-Haberton und den Farbigen mit dem Kürbiskopf.

Wo steckte Harst nur? Sollte ihm etwas zugestoßen sein? Oder ob ich sein Kommen etwa überhört hatte? Es war nun viertel acht.

Ich läutete nach der Bedienung. Frau Torstensen erschien selbst. Ich fragte, ob ich etwas zu essen erhalten könnte.

»Sehr gern«, erklärte die freundliche Dame. »Sehr gern, Herr Greiner! Sie können ein Beefsteak mit Bratkartoffeln haben. Ihr Nachbar hat ebenfalls eins bestellt, der Herr Ingenieur Haberton. Oh, ein sehr netter Herr! Jetzt schläft er. Aber um dreiviertel acht wünscht er das Abendbrot bereit. Wie wäre es also mit einem Beefsteak, Herr Greiner?«

»Gewiss, gewiss, mir sehr lieb, Frau Torstensen.« Ich war ganz verdutzt. Harst war also schon da.

»So, ein Herr Haberton ist also mein Nachbar«, meinte ich dann. »Mittags, als ich mietete, war das Zimmer doch noch frei. Wann ist er denn eingezogen?«

»Oh, vor anderthalb Stunden etwa. Die Köchin scheuerte gerade die Treppe. Er sagte, er habe große Kopfschmerzen und wolle sich gleich niederlegen.«

Also Harst schon da! Er hatte an der Flurtür nicht zu läuten brauchen. So klärte sich das Rätsel. Im Haus wurde es gegen zehn sehr still. Ich hatte auch die übrigen vier Möblierten der Majorin heimkehren hören. Von Harsts Zimmer her war wenig zu vernehmen gewesen. Die Verbindungstür war auf seiner Seite offenbar mit Stoff verkleidet.

Wir hatten, bevor wir uns in der verflossenen Nacht trennten, verabredet, dass Harst, falls wir wie beabsichtigt die beiden leeren Zimmer hier erhielten, gegen elf Uhr über den Balkon zu mir kommen solle.

Und er kam auch. Zehn Minuten vor elf öffnete ich das Fenster, nachdem ich das Licht im Zimmer ausgedreht hatte.

Er kam lautlos wie ein Einbrecher, flüsterte mir sofort beim ersten Händedruck zu: »Vorsicht, die Köchin ist die personifizierte Neugier. Sie hat verschiedentlich an meiner Stubentür gehorcht. Wir müssen sofort einen kleinen Spaziergang unternehmen. Etwas ganz Harmloses, mein Alter. Die Sache ist in einer Stunde erledigt. Ich habe schon einen Strick mit eingeknoteten Handgriffen bereit, mit dessen Hilfe wir ganz bequem vom Balkon auf die Straße gelangen werden. Der Nebel draußen ist jetzt so dicht, dass man ihn in Flaschen füllen kann. Sehr günstig für uns. Zieh dir deinen blauen Sweater über, dann brauchst du keinen Mantel. Nimm auch eine weiche Reisemütze und deinen Selbstknaller. Man kann nie wissen, was passiert!«

Im Dunkeln traf ich meine Vorbereitungen für den Ausflug, Ausflug wohin wohl? Ich hatte keine Ahnung und das war gut! Hätte ich es gewusst, wäre ich vielleicht zum ersten Mal daheim geblieben und hätte Harst allein gehen lassen.

Harst saß derweilen in meiner Sofaecke und rauchte seine Zigarette. Ich sah von ihm lediglich das rote Pünktchen der glimmenden Zigarette, das sich hin und wieder bewegte.

Von der Straße drangen nur sehr selten das Rollen eines Wagens und matte Hufschläge herauf. Im Haus selbst regte sich nichts mehr.

Ich schob gerade die Arme durch die Sweaterärmel, als das rote Pünktchen plötzlich dicht vor mir war.

»Still!«, hauchte Harst. »Hörst du …? Da entfernt jemand leise die Sicherheitskette der Flurtür.«

Meine Stubentür lag dieser am nächsten.

»Ah, nun wird der Schlüssel umgedreht«, flüsterte Harst weiter. »Du, da schleicht sich jemand zum Haus hinaus! Schon faul, dieses Bestreben, jedes Geräusch zu vermeiden! Du, ich klettere voraus auf die Straße. Die Leine hängt so, dass du noch zum Schluss ein Meter tief hinabspringen musst. Wir treffen uns vor dem Thorwaldsen-Museum. Du wartest dort, bis ich komme. Des Nebels wegen pfeife ich unser altes Signal. Wiedersehen!«

Im Nu schwang er sich auf den Balkon hinüber. Dann verschluckte der braungelbe Nebel ihn.

Ich beeilte mich, meine Mütze überzuziehen und die Pistole aus dem Koffer zu nehmen. Kaum zwei Minuten nach Harst turnte ich gleichfalls an dem Seil abwärts. Als ich mit den Füßen das Ende des Seiles erreicht hatte, lauschte ich. Da nichts von Passanten zu hören war, glitt ich schnell weiter nach unten und sprang auf den Bürgersteig. Von der Leine war in diesem Nebel nichts zu sehen.

Ich lief auf die andere Straßenseite und pfiff möglichst laut die ersten Takte der Graalsarie aus Lohengrin. Ich lauschte; keine Antwort. Um mich her nur die hässlichen, gelblichen, feuchten Schwaden.

Nochmals pfiff ich, wartete eine Weile, sah dann ein, dass Harst längst vorausgeeilt sein müsse und schlug die Richtung zum Hauptbahnhof ein. Ich fand mich auch bis zum Museum durch. Menschen tauchten vor mir wie Gespenster auf, glitten in diesem Brodem wie Gespenster weiter.

Da — unser Pfiff! Gleich darauf stand Harst vor mir.

»Verwünschtes Pech!«, knurrte er. »Der Mensch muss bereits aus der Haustür geschlüpft sein, bevor ich auf die Straße gelangte. Ich hörte auch noch das Rollen eines sich schnell entfernenden Wagens. Der Kerl ist vielleicht erwartet worden. Na, trösten wir uns. Jedenfalls wissen wir nun, dass einer der vier anderen möblierten Herren der Majorin ein Fragezeichen verdient. Das ist sehr viel wert. Ebenso viel wie das, was ich in Busleys Sterbezimmer fand. Du weißt ja: In den zehn Tagen, wo er bei der Torstensen wohnte, empfing er nur einen einzigen Brief. Das hat die Majorin und die neugierige Ulla vor Inspektor Barkeröd zu Protokoll gegeben. Den Brief habe ich gefunden. Das heiß, nur ein Stück des Umschlags. Doch davon später. Beeilen wir uns. Ich möchte bald wieder daheim sein. Wir haben allerlei zu besprechen.«

Nun – es wurde ein harmloser Spaziergang über eine hohe Mauer, hinab in einen kleinen Hof, mittels Dietrich hinein in irgendein großes Gebäude mit zementierten Flur, in dem Harsts Taschenlampe über Türen hinglitt, die ganz nach Bürotüren mit ihren Nummern und Papptafeln aussahen, weiter hinab in ein Kellergeschoss, dessen schmiedeeiserne Tür Harsts Dietrich eine Weile trotzte, dann einen ähnlichen Flur entlang, dann ein neuer Aufenthalt vor einer breiten Tür, neben der ein zweirädriger Wagen stand, wie sie zum Leichentransport benutzt werden, mit Zinkblech benagelt, anzusehen wie ein langer Koffer auf Rädern.

Beim Anblick dieses Karrens wurde mir unbehaglich.

»Harald, wo sind wir eigentlich?«, fragte ich unsicher.

»Nun, im Leichenschauhaus von Kopenhagen!«