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Die Geschichte vom Werwolf Teil 22

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 22
Der böse Genius

Am folgenden Abend ging ein Mann in der Nähe der großen Teiche durch den Wald. Es war Thibaut, der noch einmal seine Hütte besuchen wollte, um zu sehen, ob das Feuer einige Trümmer übrig gelassen hatte.

Ein rauchender Aschenhaufen bezeichnte den Platz, wo die Hütte einmal stand. Die Wölfe bildeten einen weiten Kreis um die Trümmer, welche sie mit Ingrimm betrachteten.

Als Thibaut in den Kreis trat, begannen die Wölfe zu heulen, als ob sie ihm zu verstehen geben wollten, dass sie bereit seien, ihm in seiner Rache behilflich zu sein.

Thibaut setzte sich auf die Stelle, wo der Herd gewesen war. Diese Stelle war an einigen geschwärzten, aber unversehrt gebliebenen Steinen zu erkennen.

Hier blieb er einige Minuten in Gedanken versunken. Er bedachte nicht, dass das Unglück, welches ihn betroffen hatte, die Folge und Strafe seiner neidischen, unnatürlichen Wünsche sei. Er fühlte keine Reue, kein Bedauern, er sann nur auf Unheil.

»Ja«, sagte er, das Geheul der Wölfe beantwortend, »eure Stimmen finden einen Widerhall in meinem Herzen.

Die Menschen haben meine Hütte zerstört, meine Werkzeuge verbrannt, mit welchen ich mein Brot verdiente. Ihr Hass verfolgt mich wie euch, ich habe kein Mitleid von ihnen zu erwarten, ich werde daher auch kein Erbarmen gegen sie haben. Jetzt ins Schloss! Wir wollen Gleiches mit Gleichem vergelten.«

Er entfernte sich, von seiner Meute gefolgt, wie ein Condottiere mit seinen Söldnern. Unter dem Schutz der Finsternis näherte er sich zuerst dem Schloss Vez, denn dort war sein größter Feind.

Der Baron hatte drei Meierhöfe, seine Ställe waren mit Pferden, Rindern und Schafen angefüllt. Der Angriff wurde schon in der ersten Nacht gemacht.

Am anderen Morgen waren zwei Pferde, vier Kühe und zehn Schafe getötet worden.

Der Baron zweifelte anfangs, oh diese Verwüstung von Raubtieren kam, gegen welche er mit so großer Erbitterung Krieg führte. Es hatte das Ansehen eines mit Vorsatz angeführten und mit Verstand geleiteten Angriffs. Aber an den Fährten der Wölfe war die Ursache leicht zu erkennen.

Am folgenden Tage lauerte man den Räubern auf. Aber Thibaut und seine Wölfe waren an der entgegengesetzten Seite des Waldes, die Viehställe von Soucy und Vivières wurden heimgesucht. In der folgenden Nacht kamen die Meierhöfe von Boursonne und Yvors an die Reihe, und so wurde das Zerstörungswerk rasch fortgesetzt. Sogar Menschen fielen den Raubtieren zum Opfer. Es herrschte allgemeine Bestürzung in der ganzen Umgegend. Niemand wagte unbewaffnet auszugehen. Die Haustiere wurden nicht mehr auf die Weide getrieben. Es ging das Gerücht um, die Wölfe würden gefüttert und aufgehetzt von einem Menschen, der grausamer sei als die Raubtiere selbst, und die allgemeine Volksstimme nannte Thibaut, den Holzschuhmacher.

Der Baron Jean de Vez war allerdings etwas unwillig über den erlittenen Verlust und er fühlte sich beschämt, dass die Raubtiere, welche er in seiner Eigenschaft als Wolfsjägermeister zu bekämpfen hatte, so große Verwüstungen anrichteten. Aber er dachte nicht ohne geheime Freude an die in Aussicht gestellten glänzenden Jagden, an die Berühmtheit, die er unter den Waidmännern erlangen würde, und seine Jagdlust wurde größer als jemals. Er gönnte sich keine Ruhe, aß und trank nur im Sattel. Sobald er einen Wolf aufgespürt hatte, jagte er ihn, bis dass es Nacht wurde. Aber leider nützten ihm weder seine Beharrlichkeit noch seine Kenntnis und Erfahrung im Waidwerk. Er erlegte wohl hier und da einen jungen Wolf, ein räudiges, abgemagertes Tier, einen vorwitzigen Vielfraß, der infolge seiner Unmäßigkeit nicht schnell laufen konnte, aber die großen, flinken, schlauen Wölfe verloren bei allen diesen Jagden kein Haar.

Überdies folgten die Wölfe den Jägern in aller Stille, und diese zweite Meute war weit furchtbarer als die erste.

Blieb ein ermüdeter Hund zurück, so wurde er von den nachsetzenden Wölfen gefangen und getötet. Der Jäger Engoulevent, der die Stelle des armen Marcotte erhalten hatte, eilte einst einem jämmerlich winselnden Hund zu Hilfe. Er wurde selbst angefallen und verdankte seine Rettung nur der Schnelligkeit seines Pferdes.

So war die Meute des Wolfsjägermeisters in kurzer Zeit fast unbrauchbar geworden. Die besten Hunde waren abgehetzt, die schlechteren waren von den Wölfen zerrissen worden.

Auch die Pferde hatten ungemein gelitten. Einige waren invalid, andere zu Tode geritten worden.

Der unermüdliche Baron Jean versuchte es nun mit einer anderen Taktik und stellte Treibjagden an. Er bot alle Bauern der Umgegend auf, aber die Wölfe wussten unter Thibauts Leitung auch dieser Gefahr zu entgehen.

So ging es einige Monate. Wie der Baron Jean verfolgte Thibaut seinen Zweck mit unerhörter Hartnäckigkeit. Wie sein Gegner schien er mit übernatürlicher Kraft begabt zu sein, um alle Strapazen zu ertragen, alle Hindernisse zu überwinden. Dies war um so mehr zu verwundern, da das Gemüt des Wolfsführers in den kurzen Angenblicken der Ruhe, die ihm der Nimrod ließ, nichts weniger als ruhig war. Die Untaten, die er beging oder veranlasste, erfüllten ihn gerade nicht mit Abscheu. Sie schienen ihm ganz natürlich, und er schob die Schuld auf die, welche ihn, wie er wähnte, dazu getrieben hatten. Er hatte indes auch Momente der Entmutigung, von denen er sich keine Rechenschaft zu geben wusste.

Er erblickte dann im Geist das Bild Agnelettes, und sein früheres harmloses, tätiges Leben trat vor seine Stelle. Bald vergoss er Tränen bitteren Schmerzes über das verscherzte Glück, bald fühlte er sich von wilder Begierde durchglüht, und die Eifersucht gegen den Besitzer des Schatzes, den er von sich gestoßen hatte, trieb ihn fast zum Wahnsinn.

In einer herrlichen Sommernacht verließ er den Schlupfwinkel, wo er mit seinen Wölfen hauste, und irrte im Hochwald umher. Während er in Gedanken versunken war, hörte er auf einmal einen lauten Angstruf. Er war an Klagetöne gewöhnt und würde zu einer anderen Zeit kaum darauf geachtet haben. Aber die Erinnerung an Agnelette hatte sein Herz erweicht und für das Mitleid empfänglich gemacht.

Er eilte daher an den Ort, wo er den Angstruf gehört hatte. Als er eine lichte Stelle des Waldes betrat, bemerkte er eine weibliche Gestalt, welche sich gegen einen großen Wolf zu verteidigen suchte.

Thibaut fühlte sich tief ergriffen, und sein Herz pochte fast hörbar, ohne dass er sich die Ursache dieser weichen Stimmung zu erklären wusste. Er ergriff das grimmige Tier und schlenderte es mit gewaltiger Kraft zur Seite, dann hob er die weibliche Gestalt vom Boden auf und trug sie an einen mit weichem Moos bewachsenen Ort.

Er betrachtete nun das Gesicht der Geretteten – und erkannte Agnelette!

Einige Schritte von da war eine Quelle. Thibaut schöpfte aus derselben Wasser mit der hohlen Hand und benetzte das Gesicht der Ohnmächtigen.

Agnelette schlug die Augen auf, schrie laut, als sie Thibaut erblickte, und wollte davonlaufen.

»Ei, kennt Ihr mich denn nicht, Agnelette?«, fragte Thibaut.

»O ja, ich kenne Euch wohl«, antwortete die junge Frau, »und eben deshalb fürchte ich mich … O! Ich bitte Euch, Thibaut«, sagte sie, auf die Knie fallend und die Hände faltend, »bringt mich nicht um! Meine Großmutter würde es nicht überleben.«

Thibaut war ganz bestürzt. Erst jetzt sah er, in welchem abscheulichen Ruf er stand und er fühlte einen wahren Abscheu gegen sich selbst.

»Ich … dich umbringen, Agnelette!«, erwiderte er, »ich habe dir ja das Leben gerettet. Du musst mich sehr hassen, dass du solche Gedanken hegen kannst.«

»Ich hasse Euch nicht, Thibaut«, antwortete sie, »aber man sagt so schreckliche Dinge von Euch, dass ich mich fürchte.«

»Sagt man auch, wer den unglücklichen Thibaut zu allen dieser schrecklichen Verbrechen getrieben hat?«

»Ich verstehe Euch nicht«, sagte Agnelette und sah ihn mit ihren großen, blauen Augen fragend an.

»Wie! Du verstehst mich nicht, Agnelette? Du siehst nicht ein, dass ich dich liebte, dass ich über deinen Verlust rasend geworden bin?«

»Wer hat Euch denn gehindert, mich zu heiraten?«

»Der böse Geist«, sagte Thibaut mit düsterer Verzweiflung.

»Ich war Euch von Herzen gut«, fuhr Agnelette fort, »und habe Euch lange erwartet … aber Ihr seid nicht gekommen.«

»Du warst mir gut, Agnelette?«, fragte er.

»Ja«, antwortete sie mit ihrer reizenden Natürlichkeit.

»Aber jetzt«, erwiderte Thibaut, »jetzt ist alles aus und du liebst mich nicht mehr?«

»Thibaut«, sagte Agnelette, »ich liebe Euch nicht mehr, weil ich Euch nicht mehr lieben darf. Aber man kann nicht jedes Gefühl sogleich aus dem Herzen verbannen.«

»Agnelette«, fiel ihr Thibaut ins Wort, »bedenke wohl, was du sprichst.«

»Warum denn?«, erwiderte sie, »ich sage ja die Wahrheit. Ich glaubte euren Worten, Thibaut, als Ihr mir versprochen habt, mich zur Frau zu nehmen. Denn was hätte es Euch genützt, mich zu belügen, als ich Euch einen Dienst erwiesen hatte? Später begegneten wir uns. Ich suchte Euch nicht, Ihr kamt zu mir. Ihr beteuertet mir eure Liebe und erneuertet Euer Versprechen. Es ist auch nicht meine Schuld, dass ich mich vor dem Ring fürchtete, den Ihr am Finger trugt und der für meine viel dünneren Finger zu klein war.«

»Wünschst du, Agnelette, dass ich den Ring nicht mehr trage, dass ich ihn wegwerfe?«

Thibaut versuchte ihn vom Finger zu ziehen; aber es war nicht möglich, vergebens bot er all seine Kraft auf, vergebens nahm er die Zähne zu Hilfe, der Ring schien für die Ewigkeit festgenietet zu sein.

Thibaut sah wohl ein, dass er sich des Ringes nicht entledigen konnte; er ließ seufzend die Arme sinken.

»Ich lief davon«, fuhr Agnelette fort. »Ich weiß es wohl, dass ich unrecht hatte. Aber ich kann meine Furcht nicht bezwingen und insbesondere …«

Sie blickte schüchtern auf. Thibaut war barhäuptig, und im Mondschein konnte Agnelette sehen, dass die Hälfte seiner Haare brandrot war.

»Thibaut«, sagte sie schaudernd, »was ist Euch denn geschehen, seit ich Euch nicht gesehen habe?«

»Agnelette«, erwiderte Thibaut, sich abwendend und beide Hände auf das Gesicht haltend, »was mir geschehen ist, kann ich keinem Menschen sagen. Dir, Agnelette, sage ich nur: Beklage mich, denn ich bin sehr unglücklich gewesen.«

Agnelette faßte seine Hände.

»Du liebtest mich also, Agnelette?«, sagte er außer sich.

»Ja«, antwortete sie mit ihrer harmlosen Aufrichtigkeit. »Ich nahm Eure Werbung für Ernst, und so oft an die Tür unserer Hütte geklopft wurde, pochte mein Herz, weil ich glaubte, Ihr wäret es und wolltet mit der alten Frau reden. Aber wenn ich sah, dass Ihr es nicht wart, so setzte ich mich in eine Ecke und weinte.«

»Und jetzt, Agnelette, jetzt?«

»Jetzt?«, erwiderte sie. »Es ist sonderbar, Thibaut, ich fürchte mich eigentlich nicht, obwohl man gar schreckliche Dinge von Euch erzählt, denn ich denke immer, etwas Böses könnt Ihr doch nicht mit mir im Sinn haben, und ich ging ohne Zagen durch den Wald, als ich von dem furchtbaren Tiere angefallen wurde.«

»Aber wie bist du denn in die Nähe deiner alten Wohnung gekommen? Wohnst du denn nicht bei deinem Mann?«

»Wir wohnten eine Zeit lang in Vez, aber in Vez war kein Platz für die alte Mutter. Ich sagte daher zu meinem Mann: Die Großmutter darf ich nicht verlassen, ich gehe wieder zu ihr. Du kannst ja kommen, wenn du mich sehen willst.«

»Und er willigte ein?«

»Anfangs wollte er es nicht zugeben, aber ich gab ihm zu bedenken, dass es meine Pflicht sei, der guten Alten ihre letzten Lebensjahre zu versüßen, dass wir hingegen wahrscheinlich noch viele Jahre zu leben hätten. Da willigte er ein.«

Thibaut hörte zerstreut zu. Er verfolgte nur einen Gedanken: Die Liebe, welche sie einst für ihn empfunden hatte, war in ihrem Herzen noch nicht ganz erloschen.

»Du liebst mich also, Agnelette?«, sagte er. »Du könntest mich noch lieben?«

»Nein, Thibaut, das kann, das darf ich nicht. Ich gehöre ja einem anderen an.«

»Agnelette, sage nur, dass du mich liebst.«

»Nein, wenn ich Euch auch liebte, so würde ich mir alle Mühe geben, es Euch zu verbergen.«

»Warum denn, Agnelette? Du kennst meine Macht nicht. Ich weiß wohl, dass mir nur noch zwei oder drei Wünsche zu Gebote stehen. Aber wenn du mit mir einig bist, kann ich dich reich machen wie eine Königin, wir können unsere Heimat, wir können Frankreich verlassen. Es gibt noch große Länder, die du nicht kennst, deren Namen du noch nicht einmal gehört hast. Amerika und Indien heißen diese Länder. Ich habe auf meiner Wanderschaft Leute gesehen, die hinreisten oder von dort herkamen … Sprich, Agnelette, dass du mit dahin gehen willst. Niemand soll erfahren, dass wir zusammen fortgegangen sind. Niemand soll wissen, wo wir sind. Niemand soll wissen, dass wir uns lieben, ja nicht einmal, dass wir am Leben sind.«

»Mit Euch fliehen, Thibaut!«, erwiderte Agnelette, die den Wolfsführer ansah, als ob sie ihn nicht recht verstanden hätte. »Ihr wisst ja, dass ich einem anderen angehöre.«

»Aber wenn du mich liebst, Agnelette, können wir trotzdem glücklich sein.«

»O, Thibaut, was taget Ihr?«

»Höre mich an«, fuhr er fort. »Willst du zugleich meinen Leib und meine Seele retten, so verschmähe mich nicht. Habe Mitleid mit mir. Komm mit mir, lass uns in einLand fliehen, wo man dieses widerliche Geheul nicht mehr hört. Wenn du dich vor dem Reichtum fürchtest, so will ich wieder der arme, fleißige Thibaut werden, und deine Liebe wird mich glücklich machen.«

»Thibaut, ich war bereit, Eure Frau zu werden, und Ihr habt mich verschmäht.«

»Agnelette, erinnere mich nicht an vergangenes Unrecht, für welches ich so schwer gebüßt habe.«

»Thibaut, ein anderer hat getan, was Ihr nicht tun wolltet. Er hat das arme Mädchen zur Frau genommen, er sorgt für die alte, blinde Frau. Er wollte nur meine Liebe, verlangte keine andere Ausstattung als den Schwur meine Treue. Könnt Ihr verlangen, dass ich ihm das Gute mit Bösem vergelte, dass ich den Mann verlasse, der mir Beweise seiner Liebe gegeben, um einem anderen zu folgen, der mich verschmäht hat?«

»Aber du liebst ihn ja nicht, Agnelette, du liebst ja mich!«

»Thibaut, Ihr suchet in meinen Worten einen Sinn, den ich Ihnen nicht geben wollte. Ich habe gesagt, dass ich Euch immer noch gut bin, aber keineswegs, dass ich meinen Mann nicht liebe. Ich möchte Euch glücklich sehen, ich wünschte zumal, dass Ihr Euer Unrecht bereut, und ich will Gott bitten, dass er Euch von dem bösen Geist befreie, von dem Ihr soeben gesprochen habt. Aber ich darf mir keiner Schuld bewusst sein, um Verzeihung für Euch zu erflehen.«

Thibaut wurde durch diese Worte wieder in seine düstere, feindselige Stimmung versetzt. »Weißt du wohl, Agnelette«, sagte er, »dass du sehr unbesonnen redest?«

»Warum denn?«

»Wir sind hier allein. Zu dieser Stunde regt sich kein Mensch in dem Wald, in welchem ich gebiete.«

»Was meint Ihr, Thibaut?«

»Ich meine, dass ich von Bitten zu Drohungen übergehen kann.«

»Zu Drohungen?«

»Ich meine«, fuhr Thibaut fort, ohne Agnelette anzuhören, »dass du durch jedes Wort, welches du sprichst, zugleich meine Liebe zu dir und meinen Hass gegen ihn weckst. Kurz, ich meine, dass das Schaf sehr unklug ist, den Wolf zu reizen.«

»Ich habe Euch gesagt, Thibaut, dass ich ohne Zagen in den Wald gegangen bin. Als ich Euch erblickte, erschrak ich, denn ich dachte unwillkürlich an die schrecklichen Geschichten, die man von Euch erzählt. Ab setzt fürchte ich Euch nicht mehr.«

Thibaut hielt beide Hände aufs Gesicht. »Sprich nicht so«, sagte er, »denn du weißt nicht, was mir der Dämon zuflüstert und wie viele Kraft ich brauche, um seinen Lockungen zu widerstehen.«

»Ihr könnt mich umbringen«, antwortete Agnelette, »aber nie werdet Ihr mich zur Treulosigkeit gegen meinen Mann verleiten … Ich bin in Eurer Gewalt, aber ich fürchte Eure Drohungen nicht. Er ist zum Glück fern von hier, und Ihr habt keine Gewalt über ihn.«

»Wer hat dir das gesagt, Agnelette? Wer hat dir gesagt, dass er für mich unerreichbar ist? Für mich gibt es keine Entfernung. Ich liehe dich, du musst mein werden, und wenn ich dich zur Witwe machen müsste.«

»Glaubt Ihr denn, Thibaut, ich würde so schlecht sein, die Hand anzunehmen, die mit dem Blut meines Mannes besudelt ist?«

»Agnelette«, sagte Thibaut, ihr zu Füßen fallend, »erspare mir dieses neue Verbrechen und rette meinem Nebenbuhler das Leben. Sieh, ich bitte dich, wo ich befehlen könnte. Du allein kannst mir die verlorene Freude und Ruhe wiedergeben, du musst mein werden!«

»Ihr könnt mir das Leben nehmen«, erwiderte Agnelette aufstehend, »aber meineEhre werde ich Euch nie opfern. Mein Mann ist brav und gut, Gott wird ihn schützen.«

»Nimm dich in acht, Agnelette!«, drohte Thibaut. »Die Liebe weicht aus dem Herzen, wenn der Hass einzieht. Kein Wort mehr von dem elenden Hundejungen!«

»Dieser Elende ist besser als Ihr, Thibaut, er hat niemand beneidet, niemanden unrecht getan.«

Thibaut war außer sich vor Wut. Seine Augen sprühten Feuer und seine Lippen bedeckten sich mit Schaum.

»Wenn du nicht mein wirst«, sagte er mit bebender Stimme, »so soll dich wenigstens kein anderer besitzen. Der Dämon ist in mir und wird durch meinen Mund reden. Du verweigerst mir den Trost der Liebe, Agnelette, ich will wenigstens die Wollust der Rache genießen … Noch ist es Zeit. Sein Leben ist in deiner Hand … Du schweigst, Agnelette? Nun, dann verwünsche ich uns alle … dich, ihn und mich! Ich will, dass Etienne Engoulevent sterbe!«

Agnelette schrie laut auf. Aber sie besann sich, ihre Vernunft sträubte sich gegen Teufelsspuk und satanische Gewalt.

»Nein, das ist unmöglich!«, sagte sie. »Ihr wollt mich nur in Schrecken setzen.«

»Geh und überzeuge dich mir deinen eigenen Augen«, erwiderte er höhnisch. »Beeile dich, wenn du deinen Mann noch am Leben finden willst. Wenn du noch fünf Minuten zögerst, wirst du vielleicht über seine Leiche fallen.«

Agnelette war ganz bestürzt über den entschiedenen Ton, mit welchem Thibaut diese Unglücksprophezeiung sprach. Ohne ein Wort zu antworten, eilte sie auf dem Weg nach Préciamont fort, denn diese Richtung schien ihr die ausgestreckte Hand Thibauts anzudeuten.

Als sie im Wald verschwunden war, entfernte sich Thibaut vor Wut und Verzweiflung heulend in entgegengesetzter Richtung.