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Aëlita – Teil 22

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Aëlitas Morgen

Aëlita war früh aufgewacht und hatte sich liegend auf den Ellbogen gestützt. Ihr breites, nach allen Seiten freistehendes Bett stand dem Brauch entsprechend auf einer Erhöhung mitten im Zimmer. Der zeltartige Plafond ging in einen hohen Marmorschacht über, durch den verstreutes Morgenlicht in den Raum fiel. Die mit blassen Mosaiken bedeckten Wände des Schlafzimmers blieben im Halbdunkel. Der Lichtkegel beleuchtete nur die schneeweißen Bettücher, die kleinen Kissen und den in die Hand gestützten aschfarbenen Kopf Aëlitas.

Sie hatte eine schlechte Nacht gehabt. Fetzen von seltsamen und unruhigen Traumgeschichten waren in wirrem Durcheinander an ihren geschlossenen Augen vorbeigezogen. Ihr Schlaf war so fein gewesen wie ein dünnes Häutchen auf dem Wasser. Die ganze Nacht hindurch hatte sie sich schlafend gefühlt, ermüdende Bilder betrachtend, und im Halbschlummer hatte sie gedacht: Was für unnötige Traumgeschichte!

Als die Morgensonne den Schacht erhellte und das Licht auf ihr Bett fiel, atmete Aëlita auf und wurde hellwach. Jetzt lag sie unbeweglich. Ihre Gedanken waren klar, aber in ihrem Blut spürte sie noch eine dunkle Unruhe. Das war gar nicht gut, ganz und gar nicht gut.
Unruhe des Blutes, Verfinsterung der Vernunft, unnötige Rückkehr zu vor langer – langer Zeit Durchlebtem. Unruhe des Blutes – das ist die Rückkehr in die Höhlen, zu den Herden, zu den offenen Feuern. Frühlingswind, Unruhe und Keimen. Gebären, Wesen für den Tod aufziehen, sie begraben und wieder Unruhe, die Qualen einer Mutter. Eine unnötige, blinde Verlängerung des Lebens.

So überlegte Aëlita, und ihre Gedanken waren weise, aber die Unruhe verging nicht. Da entstieg sie dem Bett, schlüpfte in die geflochtenen Morgenschuhe, warf einen Schlafrock über die nackten Schultern und ging ins Badezimmer. Dort zog sie sich aus, drehte ihr Haar zu einem Knoten und stieg über eine kleine Marmortreppe hinunter in das Bassin.

Auf der untersten Stufe hielt sie inne. Es war so angenehm, in einem Strahl des Sonnenlichtes, der durch das Fenster drang, zu stehen. Schwankende Schatten huschten über die Wand. Aëlita sah in das bläuliche Wasser und erblickte dort ihr Spiegelbild, ein Lichtstrahl fiel auf ihren Leib. Ihre Oberlippe zuckte angewidert. Da warf sich Aëlita in die Kühle des Bassins.

Das Bad erfrischte sie, die Gedanken kehrten zu den Sorgen des Tages zurück. Jeden Morgen sprach sie mit ihrem Vater – so war es eingeführt. Der kleine Spiegelschirm stand in ihrem Zimmer.

Aëlita nahm vor ihrem Toilettenspiegel Platz, brachte ihr Haar in Ordnung, rieb Gesicht, Hals und Arme erst mit einem aromatischen Fett, dann mit einer nach Blumen duftenden Essenz ein, betrachtete sich mit gerunzelten Brauen, schob das Tischchen mit dem Schirm und der Zifferntafel heran und schaltete ein.

In dem matten Spiegel erschien das vertraute Arbeitszimmer des Vaters: Bücherschränke, Kartogramme und Werkzeichnungen auf sich drehenden kantigen Pfeilern. Tuskub trat ein, setzte sich an den Tisch, schob mit dem Ellbogen die Schriftstücke beiseite und suchte mit den Augen Aëlitas Augen. Er lächelte mit einem Winkel seines langen, schmalen Mundes: »Wie hast du geschlafen, Aëlita?«

»Gut. Im Hause steht alles wohl.«
»Was machen die Söhne des Himmels?«
»Sie sind ruhig und zufrieden. Sie schlafen noch.«

»Fährst du fort, sie in unserer Sprache zu unterrichten?«

»Nein. Der Ingenieur spricht fließend. Sein Gefährte hat genügende Kenntnisse.« »Haben sie noch nicht den Wunsch, mein Haus zu verlassen?«
»Nein, nein, o nein.«
Aëlita hatte allzu rasch geantwortet. Tuskubs trübe Augen weiteten sich erstaunt. Unter seinem Blick wich Aëlita immer weiter zurück, bis ihr Rücken die Lehne des Sessels berührte. Der Vater sagte: »Ich verstehe dich nicht.«
»Was verstehst du nicht? Vater, warum sagst du mir nicht alles? Was hast du mit ihnen vor? Ich bitte dich …«
Aëlita sprach nicht zu Ende. Das Gesicht Tuskubs hatte sich verzerrt, als sei das Feuer der Raserei darüber hinweggegangen. Der Spiegel erlosch. Aber Aëlita blickte noch lange unverwandt auf seine matte Scheibe, wo sie noch immer das Antlitz ihres Vaters sah, das allen Lebenden Schrecken einflößte.
»Das ist entsetzlich«, sagte sie, »das wird entsetzlich sein.« Sie erhob sich hastig, doch die Hände sanken ihr herab, und sie setzte sich wieder.
Die dunkle Unruhe bemächtigte sich ihrer in noch stärkerem Maße. Mit großen, geweiteten Augen betrachtete sich Aëlita im Spiegel. Die Unruhe brauste in ihrem Blut, sie ließ sie erschauern. Wie schlimm das ist, wie unnötig.
Ohne dass sie es wollte, erstand vor ihr, wie ein Traum dieser Nacht, das Gesicht des Himmelssohnes – groß, mit schneeweißem Haar, erregt, mit einer ganzen Reihe unfasslicher Veränderungen, mit bald traurigen, bald zärtlichen Augen, die erfüllt waren von der Sonne der Erde, von der Feuchtigkeit der Erde, Augen, unheimlich wie neblige Abgründe, gewitterschwanger, Augen, die sie um den Verstand zu bringen drohten.
Aëlita schüttelte mit einem Ruck den Kopf. Ihr Herz klopfte angstvoll und dumpf. Über die Zifferntafel gebeugt, steckte sie den Stecker in eine Öffnung. Auf der Mattscheibe erschien, schlummernd in einem Sessel zwischen unzähligen Kissen, die Gestalt eines verhutzelten Greises. Das Licht aus dem Fenster fiel auf seine ausgedörrten Hände, die oben auf der flauschigen Decke lagen. Der Greis erbebte, rückte die herabgerutschte Brille zurecht, schaute über die Gläser hinweg auf den Schirm mit der Mattscheibe und lächelte mit dem zahnlosen Mund. »Was hast du mir zu sagen, mein Kind?«
»Meister, ich bin in Unruhe«, sagte Aëlita, »die Klarheit verlässt mich. Ich will das nicht, ich fürchte mich, aber ich kann nicht …«
»Verwirrt dich der Sohn des Himmels?«

»Ja. Mich verwirrt an ihm das, was ich nicht verstehen kann. Meister, ich habe soeben mit dem Vater gesprochen. Er war nicht ruhig. Ich fühle es. Im Höchsten Rat ist ein Kampf im Gange. Ich fürchte, dass der Rat eine furchtbare Entscheidung treffen könnte. Hilf!«

»Du hast soeben gesagt, dass der Sohn des Himmels dich in Verwirrung bringt. Es wäre besser, wenn er ganz verschwände.«

»Nein!« Aëlita sagte es schnell, scharf und aufgeregt. Der Greis wurde verdrießlich unter ihrem Blick. Seine runzligen Lippen bewegten sich hin und her. »Ich verstehe den Gang deiner Gedanken nicht recht, Aëlita, deine Gedanken sind zwiespältig und widerspruchsvoll.«

»Ja, ich fühle das.«
»Das ist der beste Beweis dafür, dass du im Unrecht bist. Der höchste Gedanke ist klar, leidenschaftslos und nicht widerspruchsvoll. Ich werde tun, was du willst, und mit deinem Vater sprechen. Er ist auch ein leidenschaftlicher Mann, und das kann ihn zu Handlungen führen, die mit Weisheit und Gerechtigkeit unvereinbar sind.«
»Ich werde hoffen.«
»Beruhige dich, Aëlita, und sei aufmerksam … Schau tief in dich hinein. Worin besteht deine Unruhe? Aus den Tiefen deines Blutes erhebt sich ein uralter Rückstand: rotes Dunkel. Das ist der Drang zur Verlängerung des Lebens. Dein Blut ist in Aufruhr …«
»Meister, er verwirrt mich mit etwas anderem.«
»Mögen die Gefühle noch so erhaben sein, mit denen er dich verwirrt. In dir erwacht die Frau, und du wirst untergehen. Nur die Kälte der Weisheit, Aëlita, nur die ruhige Betrachtung des unvermeidlichen Untergangs alles Lebenden – dieses von Fett und Lüsternheit durchtränkten Körpers, nur das Warten auf die Stunde, da dein bereits vollkommener, der Erfahrung des Lebens nicht mehr bedürftiger Geist fortgeht über die Grenzen des Bewusstseins, da er aufhört zu sein – nur das ist Glück. Du aber willst die Rückkehr. Fürchte diese Versuchung, mein Kind. Es ist leicht, zu fallen, es geht schnell, den Berg hinunterzurollen, aber der Aufstieg ist langsam und schwer. Sei weise.«
Aëlita hörte zu, ihr Kopf senkte sich.
»Meister«, sagte sie plötzlich und ihre Lippen zitterten, ihre Augen erfüllten sich mit Sehnsucht, »der Sohn des Himmels hat gesagt, dass sie auf der Erde etwas kennen, was höher ist als die Vernunft, höher als das Wissen, höher als die Weisheit. Aber was das ist, habe ich nicht verstanden. Und daher kommt meine Unruhe. Wir waren gestern auf dem See, der Rote Stern ging auf, er zeigte darauf mit der Hand und sagte: ›Er ist umgeben von der Aureole der Liebe. Menschen, die die Liebe erfahren haben, sterben nicht.‹ Meister, die Sehnsucht zerreißt mir die Brust.«
Die Brauen des Greises zogen sich zusammen, er schwieg lange. Nur die Finger seiner ausgedörrten Hände bewegten sich unaufhörlich. »Gut«, sagte er, »der Sohn des Himmels soll dir dieses Wissen geben. Störe mich nicht, bevor du alles weißt. Und sei vorsichtig.«
Der Spiegel erlosch. Es wurde still im Zimmer. Aëlita nahm ein Tüchlein von den Knien und rieb sich damit das Gesicht ab. Dann betrachtete sie sich aufmerksam und streng. Ihre Brauen hoben sich. Sie öffnete eine kleine Schatulle und beugte sich tief darüber, während sie darin kramte. Sie fand das Gesuchte und hängte es sich um den Hals. Es war das winzige, in kostbares Metall gefaßte vertrocknete Pfötchen des Wundertierchens Indri, das nach dem uralten Volksglauben den Frauen in schweren Augenblicken außerordentlich helfen sollte.
Aëlita atmete auf und begab sich in die Bibliothek. Losj erhob sich vom Fenster, wo er mit einem Buch gesessen hatte und ging ihr entgegen. Aëlita blickte ihn an. Er sah so groß, gut und beruhigend aus. Ihr wurde warm ums Herz. Sie legte die Hand auf die Brust, auf das Pfötchen des Wundertierchens, und sagte: »Gestern habe ich versprochen, Ihnen vom Untergang des Erdteils Atlantis zu erzählen. Nehmen Sie Platz und hören Sie zu.«