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Die Geschichte vom Werwolf Teil 21

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 21
Pünktlich beim Stelldichein

Thibaut kam auf dem ihm bekannten Weg glücklich aus dem Schloss und aus dem Park. Aber außerhalb der Mauer wusste er nicht, wohin er sich wenden sollte. Seine Hütte war niedergebrannt, er hatte keinen Freund, kein Obdach, er war ganz verlassen, wie Kain.

Er ging in den Wald, irrte bis Tagesanbruch umher und trat in ein entlegenes Haus, um ein Brot zu kaufen.

Eine Frau, die allein zu Hause war, gab ihm das Brot, wollte aber die Bezahlung dafür nicht annehmen. Sie fürchtete Thibaut.

Er hatte nun für den ganzen Tag zu essen und ging wieder in den Wald. Er kannte zwischen Fleury und Longpont eine außerordentlich dichte Stelle des Waldes. Dort wollte er den Tag zubringen.

Während er hinter einem Felsen ein Obdach suchte, sah er in einer Schlucht einen glänzenden Gegenstand. Die Neugier trieb ihn an, hinabzusteigen.

Der glänzende Gegenstand war ein übersilbertes Schild, wie es die Waldhüter am Bandelier trugen. Das Bandelier mit dem blanken Schild war um einen Leichnam oder vielmehr um ein Skelett geschlungen, denn das Fleisch war von den Knochen abgenagt worden, und Letztere waren so rein, als ob sie für ein anatomisches Kabinett oder ein Künstleratelier präpariert worden wären. Das Skelett war übrigens ganz frisch.

»Aha, das ist wahrscheinlich das Werk meiner Wölfe«, sagte Thibaut. »Sie scheinen meinen Wink beachtet zu haben.«

Er ging in die Schlucht hinunter und las auf dem Schild folgende Worte: »I. B. Lestocq, Jäger des Grafen von Montgobert.«

»Ha, ha!«, lachte Thibaut, »der hat seine Strafe schnell genug bekommen!«

Aber plötzlich wurde er ernst und verstimmt. Der Gedanke an eine gerechte Vergeltung machte ihm Angst.

Der Tod des Jägers war nicht schwer zu erklären. Er war vermutlich im Auftrag seines Herrn nach Longpont gegangen und von den Wölfen angefallen worden. Anfangs hatte er sich mit dem Hirschfänger verteidigt, denn Thibaut fand diesen einige Schritte vom Weg. Nach fruchtloser Gegenwehr war Lestocq von den Raubtieren in die Schlucht geschleppt und aufgezehrt worden.

Thibaut war schon so abgestumpft und gefühllos, dass er weder Freude noch Bedauern empfand. Er dachte nur, dass die Absichten der Gräfin dadurch gefördert würden, da sie sich nur noch an ihrem Gemahl zu rächen habe.

Er suchte nun eine gegen den Wind geschützte Stelle zwischen den Felsen, um daselbst den Tag in Ruhe zuzubringen.

Gegen Mittag hörte er das Jagdhorn des Junkers Jean de Vez und das Gebell seiner Meute. Aber die Jagd kam nicht in seine Nähe.

Als die Nacht anbrach, verließ Thibaut sein Versteck und begab sich nach Montgobert. Er ging durch die Maueröffnung in den Park und erreichte ungesehen das Schweizerhäuschen, wo ihn Lisette erwartete.

Das arme Mädchen zitterte vor Angst. Thibaut wollte sie in herkömmlicher Weise küssen. Aber sie wich erschrocken zurück.

»Rührt mich nicht an«, sagte sie, »oder ich rufe!«

»Ei, der tausend, mein schönes Kind«, erwiderte Thibaut, »mit dem Baron Raoul wart Ihr vorgestern Abend nicht so spröde.«

»Ja,« antwortete die Zofe, »aber seitdem ist gar viel geschehen. Wenn Ihr kommen wollt, so folgt mir.«

Sie ging voran. Thibaut folgte ihr.

Lisette ging, ohne die geringste Vorsicht anzuwenden, über den freien Platz, der das Schloss von den Bäumen trennte.

»Du bist heute sehr keck, mein Kind«, sagte Thibaut. »Wenn wir gesehen würden?«

Aber sie schüttelte den Kopf.

»Das ist nicht mehr zu fürchten«, sagte sie. »Alle Augen, die uns sehen könnten, sind jetzt geschlossen.«

Er wusste nicht, was sie meinte, aber der Ton, mit welchem sie sprach, war ihm auffallend.

Er folgte ihr schweigend, ging mit ihr die Wendeltreppe hinauf und durch den Korridor. Aber als Lisette die Tür öffnen wollte, hielt er sie zurück.

Es war ihm unheimlich zumute in dem stillen, öden Schloss.

»Wohin gehen wir?«, fragte er zerstreut.

»Ihr wisst es ja.«

»In das Zimmer der Gräfin?«

»Ja.«

»Sie erwartet mich?«

»Allerdings«, erwiderte die Zofe und öffnete die Tür. »Tretet ein.«

Thibaut trat in das Zimmer, Lisette machte die Tür zu und blieb stehen.

Es war wirklich dasselbe reizende, feenhafte, matt erleuchtete, duftende Zimmer.

Thibaut sah sich nach der Gräfin um. Er erwartete sie, aber die Seitentür blieb geschlossen. Im Zimmer war kein Geräusch zu hören, die tiefe Stille wurde nur durch das Ticktack der Tischuhr unterbrochen.

Er sah sich mit einer ihm selbst unerklärlichen Bangigkeit um.

Endlich fiel sein Blick auf das Bett, und sein Gesicht erheiterte sich. Die Gräfin lag auf dem Bett und schien zu schlummern.

Ihr Kopf war mit denselben Brillantnadeln geschmückt, sie hatte dieselbe Perlenschnur um den Hals, ihre reizende Gestalt war in denselben rosenfarbenen Schlafrock gehüllt, in welchem sie den Baron Raoul empfangen hatte.

»Sie schläft«, sagte er, ans Bett tretend.

Er bückte sich und wollte ihren Mund küssen. Aber er richtete sich erschrocken wieder auf. Er begann zu zittern und der kalte Schweiß rann ihm von der Stirn.

Er begann die schreckliche Wahrheit zu ahnen. Die Gräsin schlief, aber war es der irdische oder der ewige Schlaf?

Thibaut nahm einen Leuchter vom Kamin und hielt das Licht mit zitternder Hand über das Gesicht der seltsamen Schläferin.

Das Gesicht war blass wie Elfenbein, die Lippen waren violett.

Ein heißer Wachstropfen fiel auf die blasse, starre Maske. Die Gräfin erwachte nicht.

»O! Was ist das?«, sagte Thibaut.

Er stellte den Leuchter, welchen seine zitternde Hand nicht mehr halten konnte, auf den Nachttisch.

Die Arme der Gräfin waren ausgestreckt. Sie schien in jeder Hand etwas festzuhalten. Thibaut brach mit einiger Anstrengung die linke Hand auf. Er fand darin das Fläschchen, welches die Gräfin am Abend vorher aus ihrem Schmuckkästchen genommen hatte.

Er brach die andere Hand auf und fand darin ein Papier, auf welchem die Worte standen: Pünktlich beim Stelldichein.

In der Tat, sie hatte Wort gehalten.

Die Gräfin war tot.

Die Wünsche Thibauts waren alte vereitelt, wie die Träume zerrinnen, wenn der Schläfer erwacht.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und stürzte zum Zimmer hinaus. Vor der Tür kniete Lisette und betete.

»Die Gräfin ist also tot?«, fragte Thibaut.

»Die Gräfin ist tot – und der Graf ist tot.«

»Der Graf? Er ist also an den Wunden gestorben, die er im Zweikampf mit dem Baron Raoul erhalten hatte?«

»Nein, an dem Dolchstich, den ihm die Gräfin gegeben hat.«

»So!«, erwiderte Thibaut, indem er zu lachen versuchte, »das ist ja etwas ganz Neues. Erzähle doch.«

Die Erzählung des Kammermädchens war einfach, aber furchtbar. Die Gräfin war einen Teil des Tages im Bett geblieben und hörte das Glockengeläute von Puiseux, welches anzeigte, dass der Leichnam Raouls in das Schloss Vauparfonds gebracht wurde, um in der Gruft seiner Ahnen beigesetzt zu werden.

Gegen vier Uhr nachmittags hörte das Geläute auf. Die Gräfin stand nun auf, nahm den Dolch unter ihrem Kopfkissen, verbarg ihn im Busen und begab sich in das Zimmer des Grafen.

Sie fand im Vorzimmer den Kammerdiener ganz erfreut. Der Arzt war eben fortgegangen, hatte den Verband abgenommen und bürgte für das Leben des Verwundeten.

Die Gräfin trat in das Krankenzimmer. Fünf Minuten danach kam sie wieder heraus.

»Der Graf schläft«, sagte sie, »es darf niemand zu ihm gehen, bis er rufe.«

Der Kammerdiener verneigte sich und blieb im Vorzimmer, um auf den ersten Ruf seines Herrn bereit zu sein.

Die Gräfin ging wieder in ihr Zimmer.

»Kleide mich aus, Lisette«, sagte sie zu ihrem Kammermädchen, »und bringe mir die Kleider, welche ich trug, als er zum letzten Mal hier war.«

Die Zofe gehorchte.

Wir haben gesehen, dass sie dieselben Kleider, denselben Schmuck angelegt hatte.

Die Gräfin schrieb nur einige Worte auf einen Zettel, den sie zusammenlegte und in der rechten Hand behielt.

Dann warf sie sich auf ihr Bett.

»Werden Madame nicht etwas nehmen?«, fragte das Kammermädchen.

Die Gräfin machte die linke Hand auf und zeigte ein Fläschchen.

»Jawohl, Lisette«, sagte sie, »ich nehme, was in diesem Fläschchen ist.«

»Mehr nicht?«, fragte Lisette.

»Es ist genug, Lisette, wenn ich es genommen habe, brauche ich nichts mehr.«

Sie setzte das Fläschchen an den Mund und leerte es auf einen Zug. Dann setzte sie hinzu: »Du hast den Mann gesehen, der uns im Wald erwartete, Lisette. Ich habe ihn hierher bestellt, er wird um neun Uhr kommen. Du wirst ihn an dem bewussten Ort erwarten und ihn zu mir führen. Es soll nicht gesagt werden, dass ich nicht Wort gehalten habe.«

Thibaut hatte nichts zu sagen, die Gräfin hatte Wort gehalten. Dass sie sich ohne fremde Hilfe gerächt hatte, erfuhr man, als der Kammerdiener durch das lange Stillschweigen seines Herrn beunruhigt, die Tür leise öffnete, sich in das Krankenzimmer schlich und seinen Herrn mit dem Dolch im Herzen fand.

Dann war man in das Zimmer der Gräfin geeilt, um ihr die Nachricht zu überbringen, und hatte sie ebenfalls tot gefunden.

Die Schreckenskunde hatte sich sogleich im ganzen Haus verbreitet und alle Diener waren geflohen. Sie sagten, der Würgengel habe das Schloss heimgesucht. Nur Lisette war geblieben, um den Letzten Willen ihrer Gebieterin zu vollziehen.

Thibaut hatte nichts mehr im Haus zu tun, er ließ Lisette bei der Toten und entfernte sich.

Das Kammermädchen hatte recht gehabt; er hatte nicht mehr zu fürchten, Herren oder Dienern zu begegnen. Die Diener waren geflüchtet, die Herren waren tot.

Thibaut ging auf die Maueröffnung zu. Der Himmel war bewölkt, man sah im Park kaum die Spur eines Weges.

Zwei- oder dreimal stand Thibaut lauschend still, er glaubte rechts und links Fußtritte zu hören.

An der Maueröffnung hörte Thibaut deutlich eine Stimme, welche sagte: »Er ist es!«

In demselben Augenblick wurde er von zwei Gendarmen ergriffen, während ihm zwei andere in den Rücken fielen.

Cramoisi, welcher in seiner Eifersucht bis tief in die Nacht aufzulauern pflegte, hatte am Abend vorher einen verdächtigen Menschen auf Schleichwegen kommen und wieder fortgehen sehen, und dem Brigadier der Gendarmerie davon Anzeige gemacht.

Der Verdacht wurde noch dringender, als man die neuen Unglücksfälle erfuhr, welche sich im Schloss zugetragen hatten.

Der Brigadier schickte einen Mann mit dem Befehl ab, jede verdächtige Person anzuhalten. Zwei derselben, von Cramoisi geführt, stellen sich außerhalb der Maueröffnung auf, die beiden anderen verfolgten Thibaut Schritt für Schritt durch den Park. Wir haben gesehen, wie ihn die vier Gendarmen auf das Zeichen Cramoisis angehalten hatten.

Es entspann sich ein langer hartnäckiger Kampf. Thibaut war durch vier Gendarmen nicht so leicht zu bezwingen. Aber er war unbewaffnet und wusste wohl, dass er nur noch sehr wenige Wünsche zu seiner Verfügung hatte. Sein Widerstand war daher fruchtlos, zumal die Gendarmen einen bereits verdächtigen Menschen erkannten und daher mit großer Beharrlichkeit angriffen.

Thibaut wurde zu Boden geworfen, gebunden und zwischen zwei Pferden fortgeschleppt. Die beiden anderen Gendarmen folgten.

Thibaut hatte sich nur aus Eigenliebe zur Wehr gesetzt. Er brauchte ja nur einen seiner unheilvollen Wünsche auszusprechen, um sich seiner Gegner zu entledigen. Aber dazu war es noch immer Zeit, solange er noch einen Wunsch zu seiner Verfügung hatte.

Thibaut ging daher mit scheinbarem Ergeben zwischen den vier Gendarmen, welche lachten und scherzten, und den Hexenmeister höhnisch fragten, warum er sich habe fangen lassen, wenn ihm eine Zaubergewalt zu Gebote stehe.

Thibaut antwortete mit dem bekannten Sprichwort: »Wer zuletzt lache, lacht am besten.«

Der Weg führte durch den Wald. Das Wetter war immer düsterer geworden, die Wolken schienen auf den Gipfeln der Bäume zu liegen. Man konnte kaum vier Schritte weit sehen. Aber Thibaut sah auf alles Seiten leuchtende Punkte durch die Finsternis nach allen Richtungen sich bewegen und immer näher kommen. Bald hörte man sogar das trockene Laub rauschen. Die Pferde wurden unruhig und begannen zu schnauben.

Thibaut fing zu lachen an.

»Worüber lachst du?«, fragte ein Gendarm.

»Worüber Ihr nicht mehr lacht«, sagte Thibaut.

Die leuchtenden Augen kamen immer näher und das Rauschen des Laubes wurde immer deutlicher. Dann hörte man ein unheimliches Geräusch. Es war, als ob Kinnladen sich bewegten und Zähne zusammenschlügen.

»Ja, ja«, sagte Thibaut, »ihr habt Menschenfleisch gekostet, und es hat euch gemundet.«

Ein leises Grunzen war die Antwort.

»Mit wem sprichst du denn?«, sprachen die Reiter, welche sich scheu nach allen Seiten umsahen.

»Mit denen, die mir antworten«, sagte Thibaut.

Er begann zu heulen, und die unheimlichen Töne wiederholten sich teils in der Nähe, teils in der Ferne, sodass der ganze Wald widerhallte.

»Was ist das?«, sagte einer der Gendarmen, »und was sind das für Tiere, deren Augen in der Dunkelheit leuchten und deren Sprache dieser Elende zu reden scheint?«

Thibaut lachte. Die Pferde begannen zu zittern und sich aufzubäumen. Die Gendarmen gaben sich alle Mühe, sie zu beruhigen.

»O, das ist noch nichts«, sagte Thibaut, »es wird bald noch anders kommen, wenn jedes Pferd zwei Wölfe an der Croupe und einen an der Kehle hat.«

Die Wölfe huschten unter den Beinen der Pferde hindurch und schmiegten sich an Thibaut. Einer von ihnen richtete sich auf und stellte ihm die Vorderfüße auf die Schulter.

»Nur Geduld«, sagte Thibaut, »wir haben Zeit. Ihr müsst nicht zu gierig sein, sondern den Kameraden Zeit lassen, sich einzufinden.«

Die Gendarmen vermochten nicht mehr ihre Pferde zu bändigen. Die erschrockenen Tiere bäumten sich und machten Seitensprünge.

Einer der Gendarmen zog seinen Säbel. Nach einigen Sekunden hörte man ein klägliches Geheul. Ein Wolf hatte den Reiter beim Stiefel gefasst und war von dem Säbel durchbohrt worden.

»Das war sehr unbesonnen«, fagte Thibaut. »Die Wölfe fressen einander, und wenn sie Blut gekostet haben, so weiß ich nicht, ob ich selbst imstande wäre, sie zurückzuhalten.«

Die Wölfe fielen über ihren verwundeten Kameraden her. Nach fünf Minuten waren von demselben nur noch die Knochen übrig.

Die Reiter benutzten diese kurze Frist, um schneller zu reiten, Thibaut musste mit ihnen laufen.

Aber was Thibaut vorhergesagt hatte, traf ein. Die Meute eilte der Gruppe nach. Die Pferde, durch das Geheul der Wölfe erschreckt, setzten sich in Galopp. Aber die Meute holte sie bald ein. Die Wölfe, welche einmal Blut gekostet hatten, waren nun nicht mehr zu halten, sie fielen die Pferde an. Sobald diese die Zähne ihrer Gegner fühlten, zerstreuten sie sich in alle Richtungen und verschwanden in dem dunklen Wald. Bald hörte man in der Ferne nur noch den Hilferuf der Reiter, das klägliche Wiehern der Pferde und das wütende Geheul der Wölfe.

Thibaut war allein geblieben. Die Hände waren ihm mit einem Strick zusammengebunden. Er versuchte vergebens seine Fesseln zu zerreißen oder mit den Zähnen zu zernagen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Freund, den schwarzen Wolf, um Hilfe anzurufen.

Kaum hatte er seinen Wunsch ausgesprochen, so fiel der Strick zu seinen Füßen nieder und Thibaut jauchzte vor Freude.