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Aëlita – Teil 21

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Eine zufällige Entdeckung

In der Dämmerung schlenderte Gussew, der nichts zu tun hatte, durch die Zimmer des Hauses. Es war groß und fest gebaut, geeignet zum Wohnen im Winter. Darin waren eine Unzahl von Übergängen, Treppen, leeren Sälen und Galerien, in denen die Stille von unbewohnten Räumen herrschte. Gussew wanderte in dem Haus umher, sah sich alles an und gähnte: »Reich leben sie ja, die Teufel, aber langweilig.«

In einem entfernten Teil des Hauses waren Stimmen zu hören, das Aufschlagen von Küchenmessern und das Klirren von Geschirr. Der Hausmeister sprach mit piepsender Stimme ganz schnell etwas, was wie Vogelgezwitscher klang, und schalt jemanden. Gussew ging bis zur Küche, einem niedrigen gewölbten Raum. In seiner Tiefe loderte brennendes Öl über den Pfannen. Gussew blieb in der Tür stehen und schnupperte. Der Hausmeister und die Köchin, die sich gerade zankten, schwiegen still und verzogen sich tiefer in das Gewölbe.

»Es qualmt hier bei euch, es qualmt«, sagte Gussew auf Russisch zu ihnen, »ihr müsst einen Rauchfang über dem Herd anbringen. Ach, was seid ihr für Barbaren, und seid dabei Marsianer!«

Er machte eine resignierte Handbewegung beim Anblick ihrer erschrockenen Gesichter und ging auf die hintere Außentreppe hinaus, setzte sich auf die steinernen Stufen, zog das geliebte Zigarettenetui aus der Tasche und begann zu rauchen.

Unten auf der Wiese, am Waldrand, trieb ein Hirtenjunge, laufend und schreiend, die dumpf brüllenden Chaschi in eine Scheune aus Ziegelstein. Von dort her, durch das hohe Gras, kam auf einem Pfad eine Frau mit zwei kleinen Milcheimern. Der Wind blies ihr gelbes Hemd auf, zerrte an der Quaste des drolligen Mützchens auf ihrem grellroten Haar. Jetzt blieb sie stehen, stellte ihre Eimerchen hin und begann sich eines Insekts zu erwehren, wobei sie das Gesicht mit dem Ellbogen verdeckte. Der Wind verfing sich in ihrem Rocksaum. Sie hockte lachend nieder, ergriff die Eimerchen und lief weiter. Als sie Gussew erblickte, zeigte sie ihre weißen, lustig blinkenden Zähne.

Gussew nannte sie Ichoschka, obgleich sie eigentlich Icha hieß. Sie war die Nichte des Hausmeisters, ein lachlustiges, rundliches junges Mädchen mit dunkel getönter bläulicher Haut. Sie lief rasch an Gussew vorbei und krauste nur die Nase nach ihm hin. Gussew hatte sich schon bereit gemacht, ihr einen Klaps auf die Hinterseite zu geben, hielt aber an sich. Er blieb sitzen, rauchte und wartete.

Ichoschka kam in der Tat bald wieder, mit einem Körbchen nebst einem Messer. Sie setzte sich nicht weit von dem Sohn des Himmels auf eine Stufe und fing an, das Gemüse zu putzen. Ihre dichten Wimpern blinzelten hin und wieder. An allem konnte man sehen, daß sie ein fröhliches Mädchen war.

»Warum sind bei euch im Marsland alle Frauen so blau?«, sagte Gussew auf Russisch zu ihr. »Du bist ein dummes Ding, Ichoschka, und verstehst nichts von einem richtigen Leben.«

Icha erwiderte ihm in ihrer Sprache, und Gussew verstand ihre Worte wie durch einen Traum: »In der Schule habe ich die heilige Geschichte gelernt. Dort heißt es, dass die Söhne des Himmels böse sind. In den Büchern steht eines, und in Wirklichkeit sieht es ganz anders aus. Die Söhne des Himmels sind gar nicht böse.«

»Ja, sie sind gut«, sagte Gussew und kniff ein Auge zu.

Icha wollte beinahe ersticken vor Lachen, und die Gemüseschnipsel flogen unter ihrem Messer.
»Mein Onkel sagt, dass ihr, die Söhne des Himmels, mit einem Blick töten könnt. Davon hab ich noch nichts gemerkt.«

»Wirklich? Aber was merken Sie denn?«

»Hören Sie mal, antworten Sie mir in unserer Sprache, eure versteh ich nicht«, entgegnete Ichoschka.
»In eurer kommt es bei mir so ungereimt heraus.«
»Was haben Sie da gesagt?« Icha legte ihr Messer hin, sie konnte einfach nicht mehr vor Lachen. »Nach meiner Meinung ist bei euch auf dem Roten Stern alles genau wie bei uns.«
Da räusperte sich Gussew und rückte näher. Icha ergriff ihren Korb und rückte ab. Gussew räusperte sich wieder und rückte noch näher. Sie sagte: »Sie werden nur Ihre Kleider abwetzen, wenn Sie so auf den Stufen herumrutschen.«
Vielleicht hatte sich Icha irgendwie anders ausgedrückt, aber Gussew hatte sie eben so verstanden.
Er saß jetzt ganz nahe bei ihr. Ichoschka tat einen kurzen Seufzer. Sie senkte den Kopf und seufzte noch stärker. Da blickte sich Gussew schnell um und umfasste Ichoschkas Schultern. Sie warf sich plötzlich zurück und riss die Augen weit auf. Aber er küsste sie sehr fest auf den Mund. Icha presste mit aller Macht den Korb und das Messer an sich.
»So ist das, Ichoschka!«

Sie sprang auf und lief davon.
Gussew blieb sitzen, zupfte an seinem Schnurrbart. Er lächelte. Die Sonne war untergegangen. Die Sterne traten hervor. Ein kleines, langes, zottiges Tier schlich bis an die Treppenstufen und blickte Gussew mit phosphoreszierenden Augen an. Er machte eine Bewegung – das Tierchen zischte und verschwand wie ein Schatten.
»Ja, all diesen Unsinn sollte man bleibenlassen«, sagte Gussew, zog seinen Gürtel zurecht und trat ins Haus. Im Korridor lief ihm sogleich Ichoschka über den Weg. Er winkte sie mit dem Finger heran und sie gingen zusammen durch den Korridor. Vor Anstrengung das Gesicht verziehend, begann Gussew jetzt marsianisch zu sprechen: »Also, Ichoschka, das merke dir: Wenn irgendwas ist, heirate ich dich. Du musst mir gehorchen.«

Icha wendete sich ab und presste ihr Gesicht an die Wand. Er zog sie von der Wand weg und hakte sie fest unter.

»Damit kannst du noch warten – ich hab dich noch nicht geheiratet. Hör zu, ich, ein Sohn des Himmels, bin nicht wegen irgendwelcher Lappalien hierhergekommen. Ich habe große Sachen mit eurem Planeten vor. Aber ich bin ein Neuling hier und kenne die hiesige Ordnung nicht. Du musst mir helfen. Nur, pass auf, dass du nicht lügst. Sage mir also Folgendes: Wer ist unser Hausherr?«
»Unser Hausherr«, antwortete Icha, die nur mit Mühe der merkwürdigen Rede Gussews zu folgen vermochte, »unser Hausherr ist der Herrscher über alle Länder des Tuma.«
»Nun schlag einer lang hin!« Gussew blieb stehen. »Lügst du auch nicht?« Er kratzte sich hinter dem Ohr. »Wie heißt er denn offiziell? Ist er ein König oder was sonst? Was für einen Posten hat er?«
»Er heißt Tuskub und ist Aëlitas Vater. Er ist das Haupt des Höchsten Rates.«
»Soso. Ich verstehe.« Gussew ging eine Weile schweigend weiter.
»Also, Ichoschka, in jenem Zimmer habe ich so einen Mattspiegel gesehen. Es wäre ganz interessant, da mal hineinzuschauen. Zeig mir, wie er eingeschaltet wird.«
Sie betraten ein schmales, halbdunkles Zimmer, in dem lauter niedrige Sessel standen. An der Wand glänzte weiß ein matter Spiegel. Gussew warf sich in einen der vorderen Sessel. Icha fragte: »Was wünscht der Sohn des Himmels zu sehen?«

»Zeige mir die Stadt.«
»Jetzt ist es Nacht, überall ist die Arbeit beendet, die Fabriken und Geschäfte sind geschlossen, die Plätze sind leer. Möchten Sie vielleicht Schauspiele sehen?«

»Zeig mir Schauspiele.« Icha schob den Stecker in eine bezifferte Schalttafel und begab sich, das Ende einer langen Schnur in der Hand haltend, zu dem Sessel, in dem der Sohn des Himmels mit weit von sich gestreckten Beinen saß.

»Ein Volksfest«, sagte Icha und zog an der Schnur. Lauter Lärm ertönte – das brummende tausendstimmige Sprechen einer Volksmenge. Der Spiegel erhellte sich. Es öffnete sich der Blick auf eine endlose Flucht gewölbter Glasdächer. Breite Lichtgarben brachen sich an riesigen Plakaten, an Aufschriften, an vielfarbigen aufsteigenden Rauchschwaden. Unten wimmelte es von Köpfen, Köpfen, Köpfen. Hier und dort sah man, gleich Fledermäusen, geflügelte Figuren auf- und abwärts fliegen. Die Glasgewölbe, die sich kreuzenden Lichtstrahlen, die Strudel der Volksmenge dehnten sich weit in den Hintergrund aus, verloren sich in staubigem, rauchigem Dunst.

»Was machen sie?«, schrie Gussew – er musste seine Stimme anstrengen, so groß war der Lärm.

»Sie atmen den kostbaren Rauch ein. Sehen Sie die Rauchschwaden? Da werden die Blätter der Chawra verbrannt. Das gibt den kostbaren Rauch. Man nennt ihn den Rauch der Unsterblichkeit. Wer ihn einatmet, sieht ungewöhnliche Dinge: Ihm scheint, dass er niemals sterben wird. Und was für Wunder man sehen und begreifen kann! Viele hören die Töne der Ulla. Niemand hat das Recht, bei sich zu Hause mit Chawrablättern zu räuchern. Dafür wird man mit dem Tode bestraft. Nur der Höchste Rat gestattet das Räuchern, und nur zwölfmal im Jahr werden in diesem Haus die Blätter der Chawra angezündet.«

»Und die da, was machen sie?«
»Sie drehen Zahlenräder. Sie erraten Zahlen. Heute darf jeder eine Zahl zum Raten aufgeben, und wer sie errät, wird für immer von der Arbeit befreit. Der Höchste Rat schenkt ihm ein wunderschönes Haus, ein Feld, zehn Chaschi und ein geflügeltes Boot. Das ist ein ungeheures Glück, richtig zu raten.«
Während Icha dieses erklärte, setzte sie sich auf die Armlehne des Sessels, Gussew legte sogleich seinen Arm quer über ihren Rücken. Sie versuchte, sich zu befreien, wurde dann aber still und blieb ruhig sitzen. Gussew staunte ungeheuer über die Wunder in dem Mattspiegel. Ach diese Teufel, ach, treiben die einen Unfug! Dann bat er, ihm noch etwas anderes zu zeigen.
Icha stieg vom Sessel herunter, schaltete den Spiegel ab und machte sich lange an der Zifferntafel zu schaffen. Sie konnte die Löcher in dem Stecker nicht finden. Als sie jedoch zum Sessel zurückkam und sich wieder auf die Armlehne setzte – sie spielte dabei mit der Kugel am Ende der Schnur, die sie in der Hand hielt –, hatte ihr Gesichtchen einen Ausdruck, als wäre sie nicht ganz bei Sinnen. Gussew warf von unten her einen Blick auf sie und lächelte. Da zeigte sich Entsetzen in ihren Augen.
»Mädel, für dich ist es wahrhaftig Zeit zum Heiraten.«
Ichoschka wandte die Augen zur Seite und holte tief Atem. Gussew begann ihr über den Rücken, der empfindlich war wie bei einer Katze, zu streichen. »Ach du, meine Nette, Schöne, Blaue.«
»Sehen Sie mal, das ist noch interessanter«, sagte sie ganz schwach und zog an der Schnur.
Die Hälfte des Spiegels, der hell geworden war, verdeckte ein Rücken. Eine eisige Stimme war zu hören, welche die Wörter langsam aussprach. Der Rücken schwankte und bewegte sich aus dem Sehfeld. Da erblickte Gussew einen Teil von einem hohen Gewölbe, das im Hintergrund von einem quadratischen Pfeiler gestützt wurde, und ein Stück Wand, das mit goldenen Inschriften und geometrischen Figuren bedeckt war. Unten saßen um einen Tisch, mit geneigten Köpfen, dieselben Marsianer, die auf der Treppe des düsteren Gebäudes das Luftschiff mit den Menschen von der Erde erwartet hatten.
Vor dem Tisch, auf dem eine Brokatdecke lag, stand Aëlitas Vater Tuskub. Seine schmalen Lippen bewegten sich, sein schwarzer Bart glitt über der goldenen Stickerei seines Mantels hin und her. Er war wie aus Stein. Seine trüben, finsteren Augen blickten unbeweglich vor sich hin – geradewegs in den Spiegel. Tuskub sprach, und seine stechenden Worte waren unverständlich, aber trotzdem furchterregend. Jetzt wiederholte er mehrmals das Wort Talzetl und ließ, gleichsam zuschlagend, den Arm mit der Schriftrolle in seiner Faust sinken. Ein ihm gegenüber sitzender Marsianer mit einem breiten und blassen Gesicht erhob sich und schrie wütend, die weißlichen Augen auf Tuskub gerichtet: »Nicht sie, sondern du!«
Ichoschka fuhr mit einem Mal zusammen. Sie saß zwar mit dem Gesicht zum Spiegel, sah und hörte aber nichts. Die große Hand des Himmelssohnes streichelte ihren Rücken. Als die schreiende Stimme im Spiegel ertönte und Gussew einige Male dazwischen fragte: »Wovon reden sie denn, wovon?«, schien Ichoschka aufzuwachen. Sie riss den Mund auf und blickte starr auf den Spiegel. Plötzlich stieß sie einen kläglichen Schrei aus und riß an der Schnur. Der Spiegel erlosch.
»Ich habe mich geirrt … Ich habe versehentlich eingeschaltet … Kein Schocho darf die Geheimnisse des Höchsten Rates hören.« Ichoschkas Zähne klapperten. Sie griff sich mit den Händen in das rote Haar und flüsterte voller Verzweiflung: »Ich habe mich geirrt … Ich bin nicht schuld … Sie werden mich in die Höhlen verbannen, in den ewigen Schnee.«
»Macht nichts, macht nichts, Ichoschka, ich sag es niemandem.« Gussew zog sie zu sich herunter und streichelte ihr warmes Haar, das weich war wie das einer Katze. Ichoschka wurde still, sie schloß die Augen.
»Ach du kleines, dummes Mädelchen! Man weiß nicht, bist du ein Tier oder ein Mensch. Dummchen, blaues.« Er kraulte sie mit dem Finger hinter dem Ohr, überzeugt, dass ihr dies angenehm sein müsse. Ichoschka zog die Füße hoch, rollte sich zu einem Knäuel zusammen. Ihre Augen leuchteten wie vorhin bei dem kleinen Tier. Gussew wurde es unheimlich.
Jetzt hörte man draußen Stimmen und Schritte, es waren Losj und Aëlita. Ichoschka stieg vom Sessel herunter und ging, unsicher auftretend, zur Tür.
In derselben Nacht begab sich Gussew zu Losj ins Schlafzimmer und sagte: »Um unsere Angelegenheiten ist es nicht ganz gut bestellt, Mstislaw Sergejewitsch. Ich habe mir hier so ein Mädelchen hergeholt, zum Einschalten des Spiegels, und da sind wir doch gerade auf eine Sitzung des Höchsten Rates gestoßen. Einiges habe ich verstanden. Wir müssen Maßnahmen ergreifen, sie werden uns umbringen, Mstislaw Sergejewitsch, glauben Sie mir – damit wird es enden.«
Losj hörte ihm zu und hörte doch nichts. Sein verträumter Blick ruhte auf Gussew. Er verschränkte die Arme im Nacken. »Zauberei, Alexej Iwanowitsch, nichts als Zauberei. Löschen Sie doch das Licht.«
Gussew blieb noch eine Weile stehen, sagte dann düster: »So.« Und ging schlafen.