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Die Geschichte vom Werwolf Teil 15

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 15
Eine Dorfhochzeit

Erst nach zehn Minuten bemerkte Thibaut, dass der Regen in Strömen floss. Die Abkühlung tat ihm anfangs gut.

Er war aufs Geratewohl querfeldein gegangen. Es galt ihm gleich, wohin er kam, er suchte das Weite, die freie Luft, die Bewegung.

So kam er in die Nähe der Mühle von Cayolles. Er verwünschte im Stillen die schöne Müllerin, lief wie ein Wahnsinniger an dem Dorf vorüber und eilte in den dunklen Wald.

Kaum hatte er einige Hundert Schritte im Wald gemacht, so befand er sich wieder mitten unter seinen Wölfen.

Er freute sich, sie wieder zu sehen, hielt an und rief sie.

Die Wölfe scharten sich um ihn. Thibaut liebkoste sie wie ein Hirt seine Schafe, wie ein Jäger seine Hunde. Es war seine Herde, seine Meute. Über seinem Kopf schrien die Eulen, deren Augen wie glühende Kohlen in der Nacht glänzten. Thibaut schien der Mittelpunkt eines höllischen Kreises zu sein, denn so, wie sich die Wölfe an ihn schmiegten, schienen die Eulen sich zu ihm hingezogen zu fühlen. Sie setzten sich auf seine Schulter oder flatterten um seinen Kopf.

»Ich bin also nicht der Feind der ganzen Schöpfung!«, sagte Thibaut zu sich selbst. »Wenn auch die Menschen mich hassen, so lieben mich doch die Tiere. «

Er bedachte freilich nicht, welchen Rang die Tiere, die ihn liebten, in der Reihe der Geschöpfe einnahmen. Er hatte vergessen, dass diese Tiere von den Menschen gehasst und verfolgt werden. Er bedachte nicht, dass diese Tiere ihm zugetan waren, weil er unter den Menschen geworden war, was sie unter den Tieren waren: ein Geschöpf, welches das Licht scheut, ein raubsüchtiges Wesen.

Im Verein mit allen diesen Tieren konnte Thibaut nicht das geringste Gute, wohl aber viel Böses tun. Er lächelte über das Böse, welches er tun konnte.

Er war noch eine Stunde von seiner Hütte entfernt, er fühlte sich ermüdet. Er kannte in der Nähe eine große hohle Eiche, er orientierte sich und ging auf diese Eiche zu. Die Wölfe würden ihm den Weg gezeigt haben, wenn er ihn nicht gekannt hätte. Sie schienen seine Gedanken erraten zu haben, denn sie trabten vor ihm her, während die Eulen von Zweig zu Zweig flatterten.

Die alte Eiche stand etwa zwanzig Schritte vom Weg. Der Stamm war so dick, dass ihn vier Männer nicht umspannt haben würden. Die Höhlung war so geräumig wie eine kleine Kammer. Thibaut schlüpfte durch die enge Öffnung und setzte sich auf eine Bank, welche in dem Stamm ausgehauen war, wünschte seinem Gefolge Gute Nacht, schloss die Augen und schlief ein oder schien einzuschlafen.

Die Wölfe lagerten sich im Kreis um den Baum, die Eulen setzten sich auf die Zweige.

Es war heller Tag, als Thibaut erwachte. Die Wölfe und Eulen hatten sich längst in ihre Schlupfwinkel zurückgezogen. Es regnete nicht mehr, ein matter Sonnenstrahl drang durch die entlaubten Zweige der Bäume.

In der Ferne hörte man Musik, welche nach und nach näher kam, sodass man zwei Geiger und eine Klarinette unterscheiden konnte.

Anfangs glaubte Thibaut zu träumen, aber da es heller Tag war, so konnte Thibaut nicht an der Wahrheit zweifeln.

Die Musik kam immer näher. Ein über ihm sitzender Vogel summte durch sein Gezwitscher mit ein. Der Himmel war heiter wie an einem Apriltag, und aus dem schmelzenden Schnee ragte eine Schlüsselblume hervor.

Was bedeutete dieses Frühlingsfest mitten im Winter?

Der Gesang des Vogels, der den heiteren Tag begrüßte, der Schimmer der Blume, welche der Sonne für ihre wohltuenden Strahlen zu danken schien, jene Klänge der Freude, welche dem Unglücklichen bewiesen, dass die Menschen sich mit der übrigen Natur verbanden, um unter dem Blumenhimmelszelt sich zu freuen … alles dies vermehrte nur die böse Laune Thibauts, statt sein Herz zu erweichen. Er hätte gewünscht, die ganze Welt wäre düster wie sein Gemüt.

Anfangs wollte er vor der ländlichen Musik flüchten, aber eine unwiderstehliche Gewalt schien ihn in der hohlen Eiche festzubannen. Er blieb also und wartete.

Man hörte bereits deutlich das Jauchzen und Singen als Begleitung der Instrumente. Von Zeit zu Zeit fiel ein Schuss, krachte ein Schwärmer.

Thibaut erkannte in dem lustigen Getümmel eine Dorfhochzeit.

Bald sah er in einer Entfernung von etwa hundert Schritten einen Zug geputzter Landleute erscheinen. Die Weiher waren an den Gürteln, die Männer an den Hüten und Knopflöchern mit flatternden bunten Bändern geschmückt.

Die Musikanten eröffneten den Zug, dann kamen einige Bauern und Diener, welche Thibaut an ihrer Livree als Dienstleute des Junkers Jean de Vez erkannte. Dann kam der Jägerbursche Engoulevent, der eine alte blinde Frau am Arm führte, dann der Haushofmeister des Schlosses Vez und an dessen Arm die Braut.

Thibaut starrte die Braut mit bestürzten Blicken an. Er wollte sie nicht erkennen, aber endlich, als sie ihm auf dreißig Schritte nahe gekommen war, konnte er nicht mehr zweifeln: Es war Agnelette!

Thibaut fühlte sich vollends beschämt und gedemütigt, als er bemerkte, dass Agnelette nicht blass und traurig war, dass sie nicht wider ihren Willen zum Altar geschleppt wurde … nein, sie war heiter und vergnügt wie der zwitschernde Vogel, wie das aufblühende Schneeglöckchen, wie der schimmernde Sonnenstrahl. Die reizende Braut schien stolz zu sein auf ihren Kranz und ihren Schleier.

Wahrscheinlich verdankte sie ihren Putz der Dame von Vez, der Gemahlin des Barons Jean, welche wegen ihrer Sanftmut und Mildtätigkeit von allen Landleuten der Umgebung hoch verehrt wurde.

Die Musikanten und Brautleute, die Hochzeitsgäste und Brautjungfern gingen zwanzig Schritte von Thibaut vorüber, ohne seinen Kopf mit den leuchtenden Haaren und Feuer sprühenden Augen an der Öffnung der Eiche zu bemerken. Bald verschwanden sie in dem dichten Gebüsch und die Musik verhallte allmählich. Nach einer Viertelstunde war der Wald still und öde geworden.

Aber Thibaut fühlte außer seinen übrigen Qualen jetzt noch das ätzende Gift der Eifersucht. Er hatte seit drei Monaten nicht mehr an sie gedacht. Aber als er sie so heiter und fröhlich, so frisch und rosig, und zumal in der Stunde wieder sah, wo sie einem anderen angehören sollte, bildete sich der Treulose ein, er habe nie aufgehört, sie zu lieben. Es schien ihm, als ob Agnelette mit ihm verlobt sei, dass ihm Engoulevent, der schmucke Jägerbursche, sein Eigentum gestohlen hätte, und es fehlte wenig, so wäre er aus seinem Versteck hervorgestürzt, um der Braut ihre Treulosigkeit vorzuwerfen. Agnelette, die nun für ihn verloren war, besaß nun in seinen Augen viele Vorzüge und Tugenden, die er gar nicht geahnt hatte, als er nur ein Wort zu sagen brauchte, um sie zu besitzen.

Nach so vielen Täuschungen zu verlieren, was er als sein Eigentum betrachtete, welches ihm niemand streitig machen werde, schien ihm der schwerste Schlag des Schicksals. Er war außer sich und gebärdete sich wie ein Besessener. Er stieß den Kopf gegen die Seiten des Baumes, er weinte und schluchzte, aber diese Tränen waren weit entfernt, sein Herz zu erweichen. Es waren nicht Tränen der Reue und Sehnsucht, sondern des Zornes und der Wut, und vermochten den Hass aus seinem Gemüt nicht zu vertreiben. Er bildete sich ein, Agnelette zu lieben, er war außer sich über ihren Verlust. Aber in seiner Wut hätte er gern gesehen, dass sie mit ihrem Bräutigam vor dem Altar tot niedergesunken wäre. Zum Glück unterließ Thibaut diesen unseligen Wunsch.

Bald schämte er sich seiner Tränen, kroch aus dem Versteck hervor und nahm den Weg zu seiner Hütte. Der rasche Lauf tat ihm gut. Er legte den Weg in einer Viertelstunde zurück. Er verriegelte die Tür hinter sich und kroch in den dunkelsten Winkel der armseligen Behausung, um sich ungestört seinen verzweifelten Gedanken zu überlassen.

Was hatte ihm seine unheilvolle Gewalt genützt? Gar nichts. Agnelette war für ihn verloren, die Müllerin harte ihn höhnisch abgewiesen. Dame Susanne hatte ihn verspottet. Sein erster Wunsch hatte den Tod des armen Marcotte herbeigeführt und ihm nicht einmal ein Stück von dem Damhirsch, dem ersten Ziel seiner Wünsche, eingetragen. Die Menge der feurigen Haare auf seinem Haupt war schreckenerregend, sie glich dem Weizenkorn, welches der Erfinder des Schachspiels vierundsechzig Mal vervielfältigt von dem Kalifen Harun Alraschid verlangte. Wie viele Wünsche blieben ihm noch übrig? Höchstens sieben oder acht. Er getraute sich nicht mehr, sich in seinem kleinen Spiegel zu betrachten. Er musste indes auf ein Mittel bedacht sein, aus dem Schaden, welchen er anderen zufügte, irgendeinen Nutzen zu ziehen.

Es schien ihm, dass er in den Wissenschaften eine Quelle des Reichtums und Glückes hätte finden können. Der arme Tor! Wäre er ein Gelehrter gewesen, so hätte er die Sage vom Doktor Faust gekannt, er hätte gewusst, wohin Mephistopheles den tiefen Denker, den großen Gelehrten geführt hatte. Und hätte er wohl ruhig denken und die Tiefen der Wissenschaft ergründen können, während die Eifersucht an seinem Herzen nagte?

Wie glücklich wäre er als geschickter Arbeiter mit einer hübschen, freundlichen Hausfrau wie Agnelette gewesen, wenn er nicht durch seine ehrgeizigen Wünsche wie auf Geierflügeln über seine Sphäre emporgehoben worden wäre.

Während Thibaut sich diesen bitteren Gedanken überließ, brach die Nacht an. Wie bescheiden auch die Verhältnisse des jungen Brautpaares und die Wünsche der Hochzeitgäste waren, so war doch nicht zu bezweifeln, dass die ganze Hochzeitsgesellschaft zu dieser Stunde fröhlich schmauste. Er allein war verlassen und traurig, er hatte niemand, der ihm ein Mahl zubereitete. Er hatte nichts als Brot und Wasser.

Aber warum ließ er sich’s nicht auch wohl schmecken? Konnte er nicht speisen, wo es ihm gut dünkte? Hatte er doch den für das letzte Wildbret erhaltenen Preis in der Tasche und er konnte für sich allein so viel ausgeben wie die ganze Hochzeitsgesellschaft. Es hing nur von ihm ab.

»Fürwahr«, sagte er, »ich bin ein rechter Tor, hier zu sitzen und zu hungern und mich mit eifersüchtigen Gedanken zu plagen. In einer Stunde kann ich mir ja mit einer guten Mahlzeit und einigen Flaschen Wein die Grillen vertreiben.«

Er verließ sofort seine Hütte und eilte nach Laferté-Milon in das Gasthaus Zum goldenen Dauphin.