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Die Geschichte vom Werwolf Teil 2

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 2
Der Wolfsjägermeister

Der Baron de Vez war ein tüchtiger Waidmann.

Wer das schöne Tal von Berval nach Longpré durchwandert, sieht zur Linken einen alten Turm, der ganz allein steht und deshalb sehr hoch und imposant erscheint.

Die Besitzung gehört einem alten Freund des Erzählers, und jedermann ist an den Anblick des alten Gemäuers so gewöhnt, dass der Bauer am Fuße desselben von seiner Arbeit ausruht und die Schwalben jeden Sommer darin nisten und gar lustig zwitschern.

Aber um das Jahr 1780 sah das Stammschloss der Herren von Vez ganz anders aus. Es war ein düsteres, unheimliches Raubnest aus dem 12. oder 13. Jahrhundert. Auf den Wällen spazierte freilich keine Schildwache mit blankem Helm mehr. Der Torwächter mit dem spitzen Horn saß nicht mehr in dem alten Turm. Es standen nicht mehr zwei Reisige am Tor, um auf das geringste Lärmzeichen das Fallgitter niederzulassen und die Zugbrücke aufzuziehen. Aber die Einsamkeit des Gebäudes, in welches sich das Leben zurückgezogen zu haben schien, gab den düsteren Granitmauern, zumal in der Nacht, einen eigentümlich erhabenen, fast grauenvollen Charakter.

Der Bewohner dieser alten Burg war indes gar kein böser Mann. Wer ihn genauer kannte, wusste wohl, dass er im Grunde nur Lärm und Aufsehen machte, übrigens aber ganz harmlos war und wenigstens seinen Mitmenschen kein Leid zufügte.

Dagegen war er ein erklärter, unversöhnlicher Feind der Tiere des Waldes. Er war Wolfsjägermeister des Herzogs Philipp von Orleans, des vierten dieses Namens: ein Amt, welches ihm die Befriedigung seiner zügellosen Jagdleidenschaft gestattete. In allen anderen Dingen war es noch möglich, wenn auch schwer, dem Baron Jean vernünftige Vorstellungen zu machen. Aber in allem, was das Waidwerk betraf, gab er nicht nach, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.

Er hatte, wie man sagte, eine natürliche Tochter des Prinzen geheiratet, dadurch erhielt er, neben dem Titel eines Wolfsjägermeisters, eine fast unbeschränkte Gewalt in den Forsten seines erlauchten Schwiegervaters. Diese Gewalt suchte ihm niemand streitig zu machen, zumal, seitdem der Herzog von Orleans sich 1773 mit Madame de Maintenon vermählt hatte und sein Schloss zu Villers-Cotterets nur sehr selten bewohnte. Seine schöne Residenz zu Bagnolet war der Sammelplatz der Schöngeister jener Zeit, und es wurde wenig an das edle Waidwerk gedacht.

Es mochte Frühling oder Winter, Sonnenschein, Regenwetter oder Schneegestöber sein, so tat sich jeden Morgen zwischen acht und neun Uhr das Schlosstor auf. Es erschien zuerst der Baron Jean, dann sein erster Jäger Marcotte, dann die übrigen Jäger und die Rüdenknechte mit den zusammengekoppelten Hunden. Die Rüdenknechte standen unter der Aufsicht des Jägerburschen Engoulevent, welcher, wie vor Zeiten der Scharfrichter hinter den Edelleuten und vor den Bürgern ging, zwischen den Jägern und den Rüdenknechten seinen Rang hatte und dadurch als der erste Hundejunge und der letzte Jäger bezeichnet wurde.

Der ganze Zug erschien immer in großem Pomp mit zwölf englischen Vollblutpferden und vierzig Hunden von der besten französischen Rasse.

Mit diesen zwölf Pferden und vierzig Hunden machte der Baron Jaan auf alle Tiere ohne Unterschied Jagd. Aber die Wolfsjagd war seine vorherrschende Leidenschaft – vielleicht um seinen Titel zu rechtfertigen. Den nächsten Rang nach dem Wolf gab er dem Eber, dann kam der Edelhirsch, dann der Damhirsch und endlich der Rehbock. Wenn die Treiber nichts aufgejagt hatten, so schoss er den ersten Hasen, der ihm in den Weg kam, denn der Burgherr jagte täglich, und er würde lieber einen ganzen Tag gehungert und sogar gedurstet, als vierundzwanzig Stunden ohne seine Wolfs- oder Saujagd hingebracht haben.

Aber wie gut auch die Pferde laufen, wie fein auch die Nasen der Hunde sind, es gibt gute und schlechte Jagdtage.

Eines Morgens erschien Marcotte ganz kleinlaut auf dem Sammelplatz, wo ihn der Baron Jean erwartete.

»Nun, Marcotte«, fragte der Baron verdrießlich, »was gibt es schon wieder? Ich sehe an deinem Gesicht, dass die Jagd heute schlecht ausfallen wird.«

Marcotte schüttelte den Kopf.

»Rede«, sagte der Baron ungeduldig.

»Gnädiger Herr«, stammelte der Jäger, »ich habe den schwarzen Wolf gesehen.«

Es war bereits das fünfte oder sechste Mal, dass der Burgherr das an seinem Balg so leicht erkennbare Tier verfolgte, ohne ihm auf Schussweite nahe kommen zu können.

»Ja«, fuhr Marcotte fort, »aber der Tausendsappermenter ist die Nacht kreuz und quer gelaufen, die Hunde konnten seine Fährte nicht verfolgen, und nachdem ich die Hälfte des Waldes abgesucht hatte, kam ich wieder dahin, wo ich hergekommen war.«

»Wirklich?«, fragte der Baron erfreut. »Glaubst du nicht, Marcotte, dass wir heute etwas finden werden?«

»Ich glaube nicht.«

»Das wollen wir doch sehen!«, erwiderte der Nimrod auffahrend. »Heute muss ich etwas erlegen, ich brauche eine Zerstreuung. Sage, Marcotte, was fangen wir an?«

»Ich habe kein anderes Wild aufgesucht«, antwortete Marcotte. »Wollen Ew. Gnaden das erste beste Tier hetzen, das wir aufjagen?«

Der Baron Jean wollte eben antworten, als er den kleinen Engoulevent kommen sah.

»Er kann uns vielleicht einen Rat geben.«

»Ich habe Ew. Gnaden keinen Rat zu geben«, antwortete der Jägerbursche, indem er sein verschmitztes Gesicht hinter einer scheinheiligen Maske verbarg, »aber meine Pflicht ist zu melden, dass ich in der Nähe einen schönen Damhirsch gesehen habe.«

»Wir wollen ihn aufsuchen«, antwortete der Baron. »Wenn du dich nicht geirrt hast, so bekommst du einen neuen Taler.«

»Wo ist dein Damhirsch?«, fragte Marcotte. »Aber nimm dich in acht, wenn du uns umsonst bemühst!«

»Gebt mir Matador und Jupiter, dann wollen wir sehen.«

Matador und Jupiter waren die beiden besten Hetzhunde des Barons de Bez.

Der Jägerbursche hatte mit ihnen noch keine hundert Schritte im Dickicht gemacht, als er an ihrem Gebell und ihren hastigen Bewegungen merkte, dass sie die Fährte gefunden hatten. Gleich darauf sah man den Damhirsch, einen prächtigen Zehnender. Die Meute wurde losgelassen, Marcotte stieß ins Horn, und die Jagd begann zur großen Freude des Barons, der sich in Ermangelung des schwarzen Wolfes mit einem Damhirsch begnügte.

Die Jagd hatte bereits zwei Stunden gedauert und der Hirsch war noch nicht eingeholt. Endlich aber begann er zu ermüden und nahm seine Zuflucht zur List, anstatt wie zuvor geradeaus zu laufen. Er sprang in den Bach und lief etwa eine halbe Viertelstunde im Wasser fort, machte einen Sprung rechts, sprang wieder in das Flussbett und lief dann weiter durch den Wald. Aber die Hunde des Wolfsjägermeisters waren von guter Rasse und ließen sich so leicht nicht irre machen. Sie teilten sich und liefen an beiden Seiten des Baches fort, und fanden die Fährte wieder und verfolgten dieselbe so eifrig, als ob der Damhirsch zwanzig Schritte vor ihnen gewesen wäre.

Die Jäger, welche von Zeit zu Zeit ins Horn stießen, folgten im Galopp. So kamen sie an die Hütte des Holzschuhmachers Thibaut, des eigentlichen Helden unserer Geschichte.

Vielleicht wird sich der Leser wundern, dass ein Schriftsteller, der Könige auf die Bühne gebracht und Prinzen und Barone in seinen Romanen als Nebenpersonen behandelt hat, einen Holzschuhmacher zum Helden dieser Geschichte macht. Zuerst erwidere ich, dass es in meiner lieben Heimat mehr Holzschuhmacher als Barone und Prinzen gibt, da es meine Absicht war, die umliegenden Wälder zum Schauplatz der zu erzählenden Ereignisse zu machen, so muss ich dem Leser die wirklichen Bewohner dieser Wälder vorführen, um nicht Fantasiegebilde zu bieten, wie die Inkas von Marmontel oder die Abencerragen von Florian.

Ich will daher versuchen, den Bewohner dieser Hütte so genau zu schildern, wie ein Maler ein Porträt macht, welches ein Prinz seiner Braut schicken will.

Thibaut war ein Mann von fünfundzwanzig bis siebenundzwanzig Jahren, groß und stark gebaut, aber von Natur tiefsinnig und traurig. Diese Verstimmung kam von einer Anwandlung des Neides, welche er unwillkürlich, vielleicht ohne es zu wissen, gegen seine vom Glück mehr begünstigten Mitmenschen hegte. Sein Vater hatte einen Fehler begangen, der in jener Zeit des Absolutismus unverzeihlich war, wo niemand, trotz aller Fähigkeiten sich über seinen Stand erheben durfte. Er hatte ihm eine Erziehung gegeben, die ihn über seine Verhältnisse erhob. Thibaut war in der Schule des Abbé Fortier zu Villers-Cotterets gewesen. Er konnte lesen, schreiben, rechnen und hatte sogar etwas Latein gelernt, worauf er sich gar viel einbildete.

Thibaut hatte viele Zeit mit Lesen verbracht. Unglücklicherweise hatte er die Bücher gelesen, welche am Ende des vorigen Jahrhunderts in Mode waren, nämlich den Emil, den Contrat social von Jean Jacques Rousseau, die Erzählungen und das Dictionnaire philosophique von Voltaire, die Werke des Baron von Holbach, von Helvetius und Diderot.

Da er übrigens ein schlechter Chemiker war, so wusste er das Gute von dem Schlechten nicht zu trennen, oder vielmehr hatte er das Schlechte ausgeschieden und in starken Dosen verschluckt, während das Gute als Bodensatz im Glas zurückblieb. Die Folge davon war, dass Thibaut, der doch im Grunde nie von den Unterschieden der Stände zu leiden gehabt hatte, die Edelleute hasste und die Priester, welche schwache Menschen sind wie andere, mit den heiligen Wahrheiten der Religion verwechselte. Er begnügte sich nicht, die Priester zu verlästern, sondern verspottete auch die heiligsten Dinge und führte zu seiner Rechtfertigung manche Stellen der Philosophen von Genf und Ferney an, welche seit zwei Jahren von der Erde geschieden waren, um dort oben Rechenschaft zu geben von der Erfüllung ihres Berufes auf Erden.

Im Alter von zwanzig Jahren hatte Thibaut ganz andere Pläne gehabt, als zu einem einfachen Handwerk zu greifen. Anfangs wollte er Soldat werden, aber die Kameraden, welche Militärdienste genommen hatten, waren als Soldaten wieder ausgetreten, ohne in fünf oder sechs Jahren strenger Zucht nur zum Corporal befördert zu werden. Dann kam er auf den Gedanken, Seemann zu werden. Aber die Plebejer hatten in der Marine noch weniger Beförderung zu hoffen als in der Armee. Nach fünfzehn bis zwanzig Dienstjahren voll Gefahren, Stürme und Kämpfe konnte er vielleicht Bootsmann werden. Thibaut mochte aber nicht die Matrosenjacke und Hosen aus Segeltuch tragen, er strebte nach dem blauen Frack mit goldenen Epauletten. Allein es gab kein Beispiel, dass der Sohn eines Holzschuhmachers Fregattenkapitän oder auch nur Leutnant geworden wäre. Er musste also auf diesen Stand verzichten. Thibaut wäre gern Notar geworden. Aber woher sollte er, nachdem er jahrelang als Schreiber gedient hatte, die zum Ankauf eines Notariats nötigen dreißigtausend Franken nehmen? Es wurde ihm auch diese Hoffnung vereitelt.

Unterdessen starb sein Vater. Als Thibaut die Begräbniskosten bestritten hatte, blieben ihm drei bis vier Pistolen. Er hatte sein Handwerk sehr gut gelernt, aber er fand keinen Gefallen daran. Er verkaufte daher alle von seinem Vater hinterlassenen Hausgeräte. Der Erlös betrug fünfhundertundvierzig Franken, und damit ging er auf die Wanderschaft.

Thibaut blieb drei Jahre in der Fremde. Er hatte nichts erworben, aber er hatte manches gelernt, was er nicht gewusst, und Talente erworben, die er nicht gehabt hatte. Er hatte gelernt, dass man im Geschäftsleben Wort halten muss, dass es aber ganz überflüssig ist, einen Liebesschwur zu halten. Außerdem tanzte er vortrefflich, konnte sich mit einem Stock gegen vier Personen verteidigen und wusste sogar das Rapier zu führen.

Alles dies hatte nicht wenig beigetragen seinen Eigendünkel zu vermehren. Da er schöner, stärker und gewandter war als viele Edelleute, so dachte er mit bitterem Unmut: »Warum bin ich nicht als Edelmann geboren und warum ist jener Edelmann kein Bauer?«

Thibaut sah sich endlich genötigt, auf seine brotlosen Künste zu verzichten und auf die Ausübung seines Gewerbes bedacht zu sein. Zum Glück hatte er die Werkzeuge seines Vaters einem Freund anvertraut. Er holte sie und bat den Gutsverwalter des Herzogs von Orleans um Erlaubnis, im Wald eine Hütte zu bauen, um daselbst sein Gewerbe zu betreiben. Der Verwalter gab ihm mit Freuden diese Erlaubnis, denn er wusste aus Erfahrung, dass der Herzog sehr mildtätig war und den Notleidenden mehr als zweihunderttausend Franken jährlich schenkte. Er dachte daher, der Gutsherr werde einem braven, fleißigen Handwerker gern einen Bauplatz anweisen.

Thibaut, der seinen Wohnplatz nach Belieben wählen konnte, wählte den schönsten Punkt des Waldes an einem Teich, eine Viertelstunde von Oigny und drei Viertelstunden von Villers-Cotterets. Dort baute er sein Häuschen teils aus altem Holz, welches ihm der benachbarte Gutsbesitzer schenkte, teils aus Bäumen, welche ihm der Verwalter zu diesem Zweck anwies. Die Hütte bestand aus einer wohlverwahrten Stube, wo er im Winter arbeiten konnte, und aus einer offenen Vorhalle für den Sommer. Als der Bau fertig war, musste Thibaut auf ein Bett bedacht sein. Anfangs machte er sich ein Lager aus Farnkraut, später, als er eine Anzahl Holzschuhe gefertigt und in Villers-Cotterets verkauft hatte, leistete er eine Abschlagzahlung auf eine Matratze, die er in drei Monaten völlig zu bezahlen versprach. Die Bettstatt war nicht schwer zu machen, denn Thibaut war auch Tischler. Den Boden des Bettes flocht er mit Weidenruten, legte die Matratze darauf und hatte ein weiches Lager. Nach und nach kaufte er sich das übrige Bettzeug und andere notwendige Hausgeräte. In einem Jahr besaß Thibaut bereits eine eichene Truhe und einen schönen Schrank aus Nussbaumholz. Seine Ware fand guten Absatz, denn niemand kam ihm an Geschicklichkeit gleich. Außer den Holzschuhen schnitzte er Löffel, Salzfässer, kleine Schüsseln und andere hölzerne Geräte.

Thibaut wohnte bereits seit drei Jahren in seiner Hütte und der einzige Vorwurf, den man ihm machen konnte, war sein Neid, mit welchem er die Glücksgüter seiner Nebenmenschen betrachtete. Aber auch dieses Gefühl war ganz harmlos bei ihm und verleitete ihn nie zu unredlichen Handlungen.