Geisternächte
Die Glöckchen klirrten hell in der Nacht, als Spin, keinen Steinwurf von uns entfernt, endlich auftauchte und – um seine Ankunft zu bekunden – einen Salto in der Luft schlug. Als er wieder landete, versanken seine Füße in den spitzen langen Schuhen bis über die Waden im frischen spurlosen Schnee. Sein Grinsen schien noch blöder als sonst.
»Dann wären wir wohl vollzählig«, ließ sich Ignatius vernehmen.
Wir – das war eine Ansammlung von dreizehn Gestalten, deren Gesichter so bleich waren wie der kürzlich gefallene Schnee. Die Aufmerksamkeit aller war nun auf Spin gerichtet: Sein Gesicht war so lang wie seine Gestalt, das Kinn hervorstechend und eckig, an eine Karikatur des Mondes erinnernd. Sein ewig lachendes Gesicht erweckte bereits jetzt wieder den Drang, ihm die Faust zwischen die Zähne zu setzen – obwohl ich Spin eigentlich ganz gut leiden mochte. Mit seiner langen Hakennase erinnerte er (zusätzlich zu seiner Art, sich zu kleiden) noch mehr an einen Harlekin.
»Tut mir leid. Ich wurde aufgehalten. Ein paar Kinder hielten mich wohl für den Weihnachtsmann. Ich konnte nicht anders, als ihnen den einen oder andern Wunsch zu erfüllen.«
Plock und Whacker kicherten, während der Rest schwieg und so den Missmut über Spins Verhalten zum Ausdruck brachte. Wir wussten alle, was er unter Wunscherfüllung verstand, und wie schwer es ihm fiel, sich in solchen Sachen im Zaum zu halten. Trotzdem war es nicht gerade die feine Art, bei einem solchen Anlass wie heute nicht pünktlich zu sein.
»Du bist spät«, sagte Kausus mit dunkler, ruhiger Stimme. Seine Mimik blieb ungerührt, aber seine Worte hatten einen unheilschwangeren Unterton. Er war ein Perfektionist, schlimmer noch als Primus. Kausus hatte sich in einen alten grauen Anzug gekleidet, seine dunklen Haare waren zurückgekämmt und sahen geleckt aus; als würden sie mit Gel an ihrem Platz gehalten. Seine Wangen hatten nicht nur die Farbe eines weißen Leinentuchs, sondern auch deren Glätte. Nur ein sorgfältig zurechtgestutzter Oberlippenbart zierte sein Gesicht, welches mit den weichen Linien zu wenig markant war, um aufzufallen, aber zu wenig rund, um fett oder aufgedunsen zu wirken. Sein Verhalten war das eines schleimigen, alles wissenden Abteilungschefs, und seine Haltung und Erscheinung dem gemäß angepasst. Fast wie aus einem Bilderbuch geschnitten.
»Ich sagte doch, es tut mir leid.« Spin gab sich pikiert, aber das nicht aus seinem Gesicht zu bringende Grinsen sprach seiner Worte Hohn. Die Antwort der anderen Anwesenden begnügte sich in einem unfreundlichen Murren.
»Können wir nun los legen?« Plock sprang im Schnee auf und ab – Wolken des pulvrigen Elements stoben um ihn herum auf. Plock war kugelrund, ohne jegliche Übertreibung, und der Kleinste von uns allen, mit Ausnahme von Whacker. Seine – im Vergleich zum Körper kleinen – feisten Ärmchen standen zu beiden Seiten hin ab und wurden gerade durch die Luft geschleudert wie gummiartige Tentakel. Er hatte sich in ein orangefarbenen engen Dress gezwängt und einen weinroten Mantel umgehängt. Seine Füße steckten in schwarzen Stulpenstiefeln. Sein Gesicht mit dem Mond zu vergleichen, hätte dem Erdtrabanten zur Schande gereicht; eher glich Plocks Kopf einem Ball Mozzarella. Selbst seine Haut hatte eine teigige, käsige Konsistenz. Ich weiß nicht, was Primus an dieser absolut lächerlichen Gestalt gefunden haben mochte, und ich verstehe auch nicht, warum Kausus ihn noch weiter zulässt, nachdem Primus nicht mehr ist. Alte Gewohnheiten lassen sich schlecht ablegen, nehme ich an.
Primus. Er war der Initiant dieser Sache gewesen. Wenn man Kausus mit dem Typus des aalglatten Vertreters oder Händlers erfassen kann, so hatte auf Primus das Wesen des Gentlemans par excellence zugetroffen. Er hatte immer weiße Handschuhe getragen, zu jeder Gelegenheit, und war ständig in einem dunklen Anzug erschienen, mit weißem Hemd und einem Zylinder. Auch er hatte sich, wie Kausus, ständig gepflegt gezeigt, wenn ihm auch die unangenehme und überlegene Ausstrahlung Kausus’ fehlte, durch die sich jeder in die Ecke gedrängt fühlte, der mit Kausus aneinandergeriet. Primus war ein großartiger und feiner Mann gewesen, ein Mann mit Geist und Verstand, aber auch mit Visionen. Dummerweise aber auch jemand, der Herausforderungen nicht widerstehen konnte. So war ihm seit dem letzten Treffen ein Schachspiel zum Verhängnis geworden. Und der Hirte war niemand gewesen, der mit sich spaßen (oder handeln) ließ. Außerdem war Primus immer ein fairer Spieler gewesen – Kausus hätte vielleicht versucht, sich aus der Misere raus zu winden, aber Primus’ Art war aus dem Holz geschnitzt, die zu ihrem Worte stand.
»Haaaaallo! Sind wir wach?«
Spin hatte sich zu mir gesellt, den Daumen hinter den Schellengurt um seine Hüften gehakt, dessen Glöckchen nun zusammen mit denen an den beiden Bändchen um seine Knöchel um die Wette klingelten, während er aufgeregt und überdreht auf und ab wippte. Er trug einen gelblich weißen wattierten Gehrock und grüne, eng anliegende Hosen. Auf seinem Kopf wackelte eine schneeweiße Kappe, die in drei Zipfeln endete, von denen jeder ebenfalls mit jeweils einer Schelle bestückt war. Er grinste weiterhin; etwas, woran ich mich nie gewöhnen werde. Seine Augen waren groß und rund und direkt auf die untere Partie meines Gesichts gerichtet. Sein Gebimmel und die Worte hatten mich aus den Gedanken gerissen, und ich wandte mich an ihn.
»Wir sind.«
Die knurrende Stimme des Tieres antwortete synchron mit meiner, vermischte sich mit ihr und gab ihr diesen hallenden Klang, den die anderen so bewunderten.
Wir standen auf einem lichten Platz im Wald, auf dem sich, eingeschlossen von ihren Artgenossen in einem Kreis mit einem Radius von etwa hundert Metern, vier vereinsamte Tannen aus der Schneedecke gen Himmel reckten. Es war Nacht, und der weiße Schnee reflektierte und streute das fahle Licht des Mondes über den Ort. Wolken zogen eilig über den Himmel, so schnell, als würden sie wie Schafe von einem Hirten (oder dessen Hund) getrieben. Ab und zu schaffte es der dunkle Fels von großen Steinklötzen, aus dem glitzernden Tuch aus Eiskristallen zu gucken. Sie kamen mir vor wie Würfel, die ein Gott über die Wiese geworfen und dann achtlos liegen gelassen hatte.
Cyrrhus Rho und Cyrrhus Mu saßen auf solchem Gestein, die Arme eng umeinander geschlungen, und sahen zum Rest der Gruppe hinüber, der sich in der Mitte des Platzes in einer kleinen Kuhle kreisförmig versammelt hatte. Die beiden Zwillinge hatten sich in weiße Togen gekleidet, und darunter trugen sie nichts, wie ich vermutete. Cyrrhus Rhos Hand verschwand unter dem Stoff, der sich über Mus Oberkörper spannte. Ich fragte mich einmal mehr, ob die Beziehung der beiden nicht ein wenig tiefer ging als bloß geschwisterlich zu sein. Ihre blassen, kränklichen Gesichter mit den dunklen tiefen Augen und den schmalen Lippen, um die ein geheimnisvolles Lächeln spielte, glichen wie ein Ei dem anderen.
Wieder bewunderte ich Primus’ Auswahl der Meute so grundverschiedener Geister, die er um sich gescharrt hatte. Und noch mehr seine Geduld und das Talent, mit der er jede Eskalation schon im Voraus vereitelt hatte. Ich fragte mich, wie sich Kausus als neuer Führer machen würde. Ich wollte meinen Vorahnungen keinen Vorschub leisten, aber das Tier zerrte an seinen Fesseln und wollte mich zur Flucht verleiten. Wären meine Instinkte nicht von Verstand und Vernunft unterdrückt worden, hätte ich ihnen wohl nachgegeben. Welch Ironie! Der Mensch siegt über die Bestie und unterdrückt sie, nur um zwischen den Mahlsteinen göttlicher Gerechtigkeit zerrieben zu werden.
»Mir ist kalt«, meldete sich Lavia zu Wort, ihren Blick, mit leidenschaftlicher Glut erfüllt, auf Ignatius gerichtet. Ihr dunkles Haar, welches ihr tief in den Rücken fiel, betonte die Blässe ihres Gesichtes noch. Ihre Augen waren so dunkel wie die von Cyrrhus Rho und Cyrrhus Mu, aber sie schimmerten viel lebendiger und verrieten ihr feuriges Temperament. Ihr Gesicht war grob wie das einer Bauerntochter, und ihre Gestalt bot sich drall den Blicken der Männer dar. Sie hatte sich ganz in Grün gekleidet – hätte sie sich für Rot entschieden, hätte man sie für die reifere Version von Rotkäppchen halten können.
Ignatius, der ihre Aufmerksamkeit mit einem Blick erwiderte, der ihr andeuten sollte, er könne ihre geheimsten Wünsche lesen, hatte sich dagegen an die Farbe des Feuers und der Liebe gehalten und sich in eine Robe dieser Couleur geworfen. Sein Bart war sauber ausrasiert und zog sich in einer dünnen Linie über die Linie seines Unterkiefers hin zum Kinn, wo er in einem Spitzbärtchen endete. Sein hellbraunes Haar, wenn auch gekämmt, strebte nach verschiedenen Seiten.
»Dann lass uns etwas dagegen unternehmen.«
Lavia kicherte entzückt ob seiner Antwort und zog ihre Haube vom Kopf, die sie achtlos in den Schnee fallen ließ. Sie nestelte an ihrem Jäckchen rum, während Ignatius sie am Arm fasste und von der Gruppe weg führte, jedoch nicht unserm Blickfeld entzog.
Spin seufzte.
»Können wir endlich anfangen?«
Kausus sah zu uns rüber, und er verdrehte leicht die Augen; aber selbst in dieser Mimik blieb das überhebliche, wissende Lächeln auf seinem Gesicht bestehen.
»Du weißt genau, dass dies nicht in unserem Ermessen liegt. Wir müssen warten.«
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