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Aëlita – Teil 25

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Tuskub

Die Stadt war von Unruhe ergriffen. Es murmelten und flackerten die Spiegeltelefone. Auf den Straßen, auf den Plätzen, in den Parks standen flüsternde Marsianer in Gruppen beisammen. Man erwartete Ereignisse, schaute hinauf zum Himmel. Es hieß, irgendwo ständen die Magazine mit getrocknetem Kaktus in Brand. Um die Mittagszeit wurden in der Stadt die Hähne der Wasserleitungen geöffnet, und das Wasser versiegte in ihnen, aber nicht für lange … Viele hörten von Südwesten her eine entfernte Explosion. In den Häusern verklebte man die Fensterscheiben kreuzweise mit Papierstreifen.

Die Unruhe kam vom Mittelpunkt her und verbreitete sich über die ganze Stadt. Sie ging vom Haus des Höchsten Rates der Ingenieure aus.

Man sprach von der erschütterten Macht Tuskubs, von bevorstehenden Veränderungen. Gerüchte durchschnitten wie Funken die besorgte Erregung der Massen: »In der Nacht wird das Licht verlöschen.«

»Die Kraftstationen an den Polen werden aussetzen.«

»Das Magnetfeld wird verschwinden.«
»In den Kellern des Hauses des Höchsten Rates sind irgendwelche Persönlichkeiten verhaftet worden.«

In den Randgebieten der Stadt, in den Fabriken, in den Arbeitersiedlungen und in den öffentlichen Magazinen wurden diese Gerüchte anders aufgenommen. Hier wusste man offenbar besser Bescheid über den Grund ihres Auftauchens. Aufgeregt und schadenfroh wurde dort davon gesprochen, dass einer der gigantischen Wasserbehälter, der Zirkus Nummer elf, von den unterirdischen Arbeitern gesprengt worden sei, dass die Agenten der Regierung überall nach Waffenlagern suchten, dass Tuskub Truppen in Soazera zusammenziehe.

Gegen Mittag wurde fast überall die Arbeit eingestellt. Große Volksmengen strömten zusammen. Sie erwarteten irgendwelche Ereignisse, blickten immer wieder zu den bedeutsamen, unordentlich angezogenen jungen Marsianern hin, die – die Hände in den Taschen vergraben – von irgendwoher aufgetaucht waren.

Um die Mitte des Tages flogen Regierungsboote über die Stadt, und ein Regen von weißen Proklamationsblättern flatterte vom Himmel auf die Straßen.

Die Regierung warnte die Bevölkerung vor den böswilligen Gerüchten: Sie seien von Feinden des Volkes verbreitet worden. In den weißen Blättchen wurde gesagt, dass die Staatsgewalt noch nie so stark und so erfüllt von Entschlossenheit gewesen sei.

In der Stadt trat Stille ein, doch nicht für lange, und aufs Neue krochen Gerüchte umher, das eine schrecklicher als das andere. Nur eines wusste man aus zuverlässiger Quelle: Heute Abend stand im Haus des Höchsten Rates der Ingenieure ein entscheidender Kampf zwischen Tuskub und dem Führer der Arbeiterbevölkerung von Soazera, dem Ingenieur Gor, bevor.

Gegen Abend füllte die Volksmenge den ganzen riesigen Platz vor dem Haus des Höchsten Rates. Die Treppe, die Eingänge und das Dach wurden von Soldaten bewacht. Ein kalter Wind hatte nebliges Wetter gebracht, in den feuchten Schwaden schaukelten die Laternen, einen rötlichen verschwommenen Lichtschein aussendend. Als undeutliche Pyramide erhoben sich im Nebel die düsteren Mauern des Hauses. Alle seine Fenster waren erleuchtet.

Unter dem schweren Deckengewölbe eines runden Saales saßen auf den Bänken des Amphitheaters die Mitglieder des Höchsten Rates. Die Gesichter aller waren aufmerksam und gespannt. An der Wand, hoch über dem Boden, glitten rasch hintereinander Bilder der Stadt über die Mattscheibe des Spiegels: das Innere der Fabriken, die Straßenkreuzungen mit den im Nebel herüber und hinüberlaufenden Gestalten, die Umrisse der Wasserbehälter, der elektromagnetischen Türme, die von Soldaten bewachten, gleichförmigen, öden Gebäude der Magazine. Die Mattscheibe wurde unaufhörlich mit allen Kontrollspiegeln der Stadt verbunden. Doch jetzt tauchte der Platz vor dem Haus des Höchsten Rates der Ingenieure auf: ein Ozean von Köpfen, darüber verhüllende Nebelfetzen, breite Lichtstreifen der Laternen. Das Gewölbe des Saales hallte von einem unheildrohenden Murren der Menge wider.

Ein feines Pfeifen lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden ab. Der Spiegel erlosch. Tuskub betrat die von schwarzgoldenem Brokat bedeckte Erhöhung vor dem Amphitheater. Er war bleich, ruhig und finster.

»In der Stadt sind Unruhen«, sagte Tuskub, »die Bevölkerung ist erregt durch das Gerücht, dass die Absicht bestehe, mir heute hier zu widersprechen. Allein dieses Gerücht genügte, um das Gleichgewicht des Staates ins Wanken zu bringen. Ich halte eine solche Lage der Dinge für ungesund und bedrohlich. Es ist notwendig, ein für alle Mal die Ursache einer derartigen Erregbarkeit auszumerzen. Ich weiß, dass mitten unter uns Personen sind, die noch heute Nacht meine Worte in der Stadt verbreiten werden. Ich sage es offen: Die Stadt ist von Anarchie erfasst. Durch meine Agenten bin ich davon unterrichtet, dass im Land und in der Stadt nicht genügend Muskeln vorhanden sind, um Widerstand zu leisten. Wir stehen vor dem Untergang der Welt.«

Ein Murren ging durch das Amphitheater. Tuskub lächelte verächtlich.
»Die Kraft, welche die Ordnung der Welt zerstört, die Anarchie geht von der Stadt aus. Die Ruhe und Gelassenheit der Seele, der natürliche Wille zum Leben, die Kraft der Gefühle werden hier in zweifelhaften Unterhaltungen und nutzlosem Vergnügen verschwendet. Der Rauch der Chawra – das ist die Seele der Stadt: Rauch und Wahngebilde. Das bunte Treiben auf den Straßen, Lärm, die Pracht der goldenen Boote und der Neid derer, die von unten her auf diese Boote blicken, Frauen, die ihren Rücken und Leib entblößen und sich mit erregenden aromatischen Essenzen wohlriechend machen, die bunten Flämmchen, die über die Fassaden der öffentlichen Häuser huschen, die fliegenden Bootsrestaurants in der Luft über den Straßen – das ist die Stadt! Die Ruhe und Gelassenheit der Seele verbrennt zu Asche. Solche verwüstete Seelen haben nur einen Wunsch: die Begierde … Die Begierde nach dem Rausch … Und übersättigte Seelen werden nur von Blut berauscht.«
Während Tuskub dieses sagte, stieß er mit dem Finger vor sich in die Luft … Im Saal war zurückhaltendes Murmeln zu hören. Er fuhr fort: »Die Stadt bringt anarchische Persönlichkeiten hervor. Ihr Wille, ihre geistige Leidenschaft ist Zerstörung. Man glaubt, Anarchie sei die Freiheit. Nein, Anarchie dürstet nur nach Anarchie. Es ist die Pflicht des Staates, diese zerstörenden Elemente zu bekämpfen – so lautet das Gesetz! Der Anarchie müssen wir den Willen zur Ordnung entgegenstellen. Wir müssen die gesunden Kräfte im Land aufrufen und sie unter möglichst geringen Verlusten in den Krieg gegen die Anarchie führen.
Wir erklären der Anarchie einen schonungslosen Krieg. Schutzmaßnahmen sind nur ein Notbehelf. Die Stunde, da die Polizei ihre verwundbare Stelle offenbart, muss unausweichlich heranrücken. Zur selben Zeit, da wir die Zahl unserer Agenten um das Doppelte erhöhen, vermehrt sich die Menge der Anarchisten um das Vierfache. Wir müssen als Erste zum Angriff übergehen, müssen den Entschluss zu einer harten und unvermeidlichen Handlung fassen. Wir müssen die Stadt zerstören und vernichten.«
Die Hälfte der Ratsmitglieder im Amphitheater brüllte auf und sprang von den Plätzen. Die Gesichter der Marsianer waren bleich, die Augen glühten. Durch einen Blick stellte Tuskub die Ruhe wieder her.
»Die Stadt wird unausbleiblich auf diese oder eine andere Weise zerstört werden, wir selbst müssen die Zerstörung organisieren. Ich werde im Weiteren einen Plan vorlegen, der die Umsiedlung der gesunden Teile der städtischen Einwohnerschaft in ländliche Bezirke vorsieht. Zu diesem Zweck müssen wir uns des jenseits der Berge von Lysiasira gelegenen, überaus fruchtbaren Landes bedienen, das seinerzeit von der Bevölkerung nach dem Bürgerkrieg verlassen worden ist. Eine ungeheure Arbeit steht bevor. Doch ihr Ziel ist groß. Es versteht sich von selbst, dass wir mit dieser Maßnahme der Zerstörung der Stadt die Zivilisation nicht retten. Wir sind nicht einmal imstande, ihren Untergang zu verzögern, aber wir geben der marsianischen Welt die Möglichkeit, ruhig und feierlich zu sterben.«
»Was sagt er?«, schrien die Zuhörer mit erschrockenen und hohen Stimmen.

»Warum sollen wir sterben?«
»Er hat den Verstand verloren!«
»Nieder mit Tuskub!«
Mit einer Bewegung der Brauen zwang Tuskub das Amphitheater wiederum zur Stille.

»Die Geschichte des Mars ist zu Ende. Das Leben stirbt aus auf unserem Planeten. Sie kennen die Statistik der Geburten und der Sterblichkeit. Es werden noch einige Jahrhunderte vergehen und der letzte Marsianer wird mit erstarrendem Blick zum letzten Mal dem Untergang der Sonne folgen. Es steht nicht in unserer Macht, das Aussterben aufzuhalten. Durch strenge und weise Maßnahmen müssen wir die letzten Tage unserer Welt prunkvoll und glücklich gestalten. Das Erste und Grundlegende ist: Wir müssen die Stadt vernichten. Die Zivilisation hat alles von ihr genommen. Jetzt zersetzt die Stadt die Zivilisation, darum muss sie untergehen.«

In der Mitte des Amphitheaters erhob sich Gor, jener junge Marsianer mit dem breiten Gesicht, den Gussew im Spiegel gesehen hatte. Seine Stimme klang dumpf und bellend. Er streckte die Hand in der Richtung aus, wo Tuskub stand.

»Er lügt! Er will die Stadt vernichten, um die Macht zu behalten. Er verurteilt uns zum Tode, um die Macht zu behalten. Er begreift, dass er nur noch durch die Vernichtung von Millionen die Macht behalten kann. Er weiß, wie ihn alle jene hassen, die nicht in goldenen Booten siegen, alle jene, die in den unterirdischen Fabrikstädten geboren werden und sterben, die an den Festtagen durch die staubigen Korridore taumeln, gähnend vor Hoffnungslosigkeit, alle, die in rasender Wut Vergessen suchend, den Rauch der verfluchten Chawra einatmen. Tuskub hat uns das Totenbett bereitet, mag er sich selbst darauf legen. Wir wollen nicht sterben. Wir sind geboren, um zu leben. Wir wissen von der Gefahr, von der Degeneration des Mars. Aber wir kennen auch die Rettung: Uns wird die Erde retten, die Menschen von der Erde, eine frische, gesunde Rasse mit heißem Blut. Und diese Rasse ist es, die er mehr als alles auf der Welt fürchtet. Tuskub, du hast in deinem Haus zwei Menschen versteckt, die von der Erde hierher geflogen kamen. Du fürchtest die Söhne des Himmels. Du bist nur stark inmitten der Schwachen und von der Chawra Betäubten. Wenn aber die Starken kommen, die mit dem heißen Blut, wirst du selbst zu einem Schatten werden, zu einem nächtlichen Alpdruck, du wirst verschwinden gleich einem Gespenst. Das ist es, was du mehr als alles auf der Welt fürchtest! Du hast die Anarchie mit Absicht erfunden, und diese die Geister erschütternde Zerstörung der Stadt hast du dir eben erst ausgedacht. Du selber brauchst Blut, um dich satt zu trinken. Deine Absicht ist, die Aufmerksamkeit aller abzulenken, damit du die beiden kühnen Wagehälse, unsere Retter, unauffällig beiseite bringen kannst. Ich weiß, daß du den Befehl bereits gegeben hast …«

Gor brach plötzlich ab. Sein Gesicht begann vor Anstrengung dunkel zu werden. Tuskub sah ihm mit schwerem Blick, unter gesenkter Stirn hervor, in die Augen.

»… Du wirst mich nicht zwingen … Ich werde nicht schweigen! …« Gor röchelte. »Ich weiß, du bist in das uralte Teufelswissen eingeweiht … Ich fürchte deine Augen nicht …«

Gor wischte unter Anstrengung mit der breiten Hand den Schweiß von der Stirn. Er seufzte tief auf und wankte. Beim Schweigen des den Atem anhaltenden Amphitheaters sank Gor auf die Bank nieder und legte den Kopf in die Hände. Es war zu hören, wie seine Zähne knirschten.

Tuskub hob die Stirn und fuhr ruhig fort: »Auf Übersiedler von der Erde hoffen? Dazu ist es zu spät. Frisches Blut in unsere Adern gießen? Zu spät. Zu spät und grausam. Wir verlängern dadurch nur die Agonie unseres Planeten. Wir vergrößern nur unsere Leiden, weil wir unausbleiblich nur die Sklaven der Eroberer sein würden. Wozu? Warum sollen wir, eine uralte und weise Rasse, für die Eroberer arbeiten? Damit die lebensdurstigen Wilden uns aus unseren Palästen und Gärten verjagen, damit sie uns zwingen, neue Wasserbehälter zu bauen, nach Erz zu graben, damit die Ebenen des Mars widerhallen von Kriegsgeschrei? Damit unsere Städte sich aufs Neue mit Wüstlingen und Wahnsinnigen füllen? Nein. Wir müssen in Ruhe auf den Schwellen unserer Wohnstätten sterben. Mögen die roten Strahlen des Talzetl uns von fern leuchten. Wir lassen die Fremdlinge nicht zu uns. Wir werden neue Kraftwerke an den Polen erbauen und den Planeten mit einem undurchdringlichen Panzer umgeben. Wir werden Soazera zerstören, dieses Nest der Anarchie und der wahnwitzigen Hoffnungen. Hier, hier ist der verbrecherische Plan der Verbindung mit der Erde geboren worden. Wir werden mit dem Pflug über die großen Plätze hinweggehen. Wir lassen nur die lebensnotwendigen Einrichtungen und Betriebe stehen. Dort werden wir die Verbrecher, die Alkoholiker und Wahnsinnigen, alle, die von Unerfüllbarem träumen, arbeiten lassen. Wir werden sie in Ketten schmieden. Wir schenken ihnen das Leben, nach dem sie so sehr dürsten. Allen, die mit uns einverstanden sind, die sich unserem Willen unterwerfen, werden wir ein Landgut zuweisen und ihnen ein komfortables Leben sichern. Zwanzig Jahrtausende einer unaufhörlichen Arbeitsfron geben uns das Recht, endlich müßig, ruhig und beschaulich zu leben. Das Ende der Zivilisation wird die Krone des Goldenen Zeitalters tragen. Wir werden öffentliche Feste und wunderbare Zerstreuungen veranstalten. Vielleicht wird sich die von mir angegebene Frist des Lebens noch um einige Jahrhunderte verlängern lassen, weil wir in Ruhe leben werden.«

Das Amphitheater hörte schweigend und gebannt zu. Tuskubs Gesicht hatte sich mit Flecken bedeckt. Er schloss die Augen, als schaue er in die Zukunft. Er verstummte plötzlich.

Das dumpfe, vielstimmige Getöse der Menge war von außen unter die Gewölbe des Saales gedrungen. Gor erhob sich. Sein Gesicht war verzerrt. Er riss sich das Käppchen vom Kopf und schleuderte es weit von sich. Mit ausgestreckten Armen stürzte er über die Bänke hinunter auf Tuskub zu. Er packte Tuskub an der Kehle und stieß ihn von der brokatbedeckten Erhöhung hinunter. Ebenso, mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern, drehte er sich um und stand nun vor dem Amphitheater. Er schrie, und es schien, als müsse er die ausgedörrte Zunge vom Gaumen losreißen.

»Gut. Der Tod? Soll es der Tod sein! Für euch! … Für uns ist es der Kampf …«

Man sprang von den Bänken, lärmte, einige Gestalten liefen hinunter zu dem auf dem Gesicht am Boden liegenden Tuskub.

Gor sprang zur Tür. Mit dem Ellbogen warf er einen Soldaten beiseite. Die Schöße seines schwarzen Mantels flatterten vor dem Ausgang zum Platz. Und aus der Ferne ertönte seine Stimme. Es war, als brauste der Wind über die Volksmasse.