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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Welt-Detektiv Nr. 3 – 4. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 3
Die Menschenfalle in Brooklyn
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin
4. Kapitel

Der verschwundene Brillantenhändler

Sein Finger bohrte sich tief in die elfenbeinfarbene Klingelmuschel. Laut und schrill schlug drinnen die Glocke an. Alles blieb still. Nur von unten, vom Hausflur her, polterten plötzlich schwere Schritte.

Im selben Augenblick tauchten auch bereits, von einem Knaben geführt, die Gestalten zweier stämmi­ger Policemen auf.

»Hierher!«, rief der Detektiv den beiden überrasch­ten Männern zu.

»Wer sind Sie?«

Da es nicht ratsam war, unnütz Zeit zu verlieren, zog Sherlock Holmes seinen Ausweis aus der Tasche und legitimierte sich im Schein der Taschenlampen.

Die Beamten griffen respektvoll zum Mützen­schild. und der eine von ihnen erklärte, auf den Kna­ben weisend: »Er will hier Hilferufe vernommen und ge­heimnisvolle Schatten gesehen haben!«

Holmes nickte. Er hatte dreimal, viermal die Klin­gel berührt. Ohne dass geöffnet worden wäre. Just aber, als er zu dem etwas derben Mittel des Türein­schlagens übergehen wollte, näherten sich von drin­nen schlürfende Schritte, und eine schläfrige Män­nerstimme brummte: »Was ist das für ein Lärm, zum Teufel? Kann man denn nicht einmal des Nachts ruhig schlafen?«

»Öffnen Sie!«, rief Sherlock Holmes scharf. »Öff­nen Sie auf der Stelle! Polizei!«

»Polizei?«

Die Stimme drinnen schlug in Überraschung um.

»Was habe ich mit der Polizei zu schaffen?«

Nichtsdestoweniger drehte sich aber der Schlüssel im Schloss, und die Tür tat sich auf. Auf der Schwelle stand ein bartloser, rothaariger Mann. der, seinem ganzen Aufzug nach zu urteilen, eben aus dem Bett zu kommen schien. Aus verschlafenen Augen blin­zelte er in das grelle Licht der auf ihn gerichteten Taschenlampen, um dann, als man ihn zur Seite schob, in zornige Protestrufe auszubrechen. Aber Sherlock Holme ließ sich nicht irritieren.

»Wer befindet sich außer Ihnen noch in dieser Wohnung?«, fragte er scharf.

»Kein Mensch! Das ist meine Wohnung! Was fällt Ihnen ein, mich hier wie einen Schwerverbrecher … wer sind Sie überhaupt?«

»Sherlock Holmes.«

»Der berühmte Detektiv? Welche Ehre! Aber ich werde mich trotzdem ganz energisch beschweren! Ich bin ein freier Bürger der Vereinigten Staaten und verlange …«

Der Weltdetektiv gab einem der Policemen einen Wink, ihm zu folgen, während der andere bei dem kreischenden Wohnungsinhaber zurückblieb, und machte sich auf die Suche nach dem Eckzimmer, dessen Fenster nach der schmalen Seitengasse hin­ausführten. Es war ein großer Raum, in dem neben einem großen Bücherschrank nur noch wenige, klei­nere Möbelstücke ihren Platz gefunden hatten und der darum einen kahlen, unfreundlichen Anblick gewährte.

Von dem Menschen, der hier niedergeschlagen worden war, war weit und breit nichts zu sehen. Der Teppich lag glatt und ohne jede Falte auf dem Bo­den, der auch keinerlei Schrammen aufwies.

Sherlock Holmes knackte mit den Fingern, wie er es immer tat, wenn sich sein Hirn fieberhaft mit der Lösung eines Problems beschäftigte.

Sollte er sich in dem Zimmer getäuscht haben? Ohne Zögern machte er durch die ganze Wohnung, die durchweg einen ziemlich unbewohnten Eindruck machte, einen Rundgang. Aber weder in den Räu­men, deren Fenster zur Seitengasse, noch in den Zimmern, die zur Tyler Ave hinführten, war das Geringste zu entdecken, obwohl der Detektiv kein Behältnis, keinen Winkel undurchsucht ließ.

Und doch war hier in diesen Räumen ein Verbre­chen geschehen! Ein Verbrechen, das noch keine Viertelstunde alt war! Sekundenlang starrte er zu Boden. Dann kehrte er auf den Gang zurück, wo der Policeman mit dem wütenden Wohnungsinhaber stand.

»Sie haben bereits geschlafen?«, wandte sich Sher­lock Holmes an ihn.

»Jawohl. Wollen Sie mir nun endlich erklären, was die Komödie soll? Glauben Sie vielleicht, dass Sie es sich, nur weil Sie der berühmte Mr. Holmes sind, erlauben dürfen, friedliche Menschen bei Nacht aus den Betten zu holen?«

Sherlock Holmes sah den Menschen starr an. Aber dieser wich dem Blick nicht aus, sodass der Detektiv für flüchtige Augenblicke in zwei stechende, grün­lich schillernde Pupillen schauen konnte, in denen – der Detektiv empfand es deutlich – Triumph und Hass zu gleicher Zeit flammten.

Und er fühlte in diesem Augenblick noch etwas: die Gewissheit, dass er es hier mit einem gefährli­chen Gegner zu hatte, der ihm diesmal um eine Na­senlänge voraus gewesen war … Sich zu einem bedauerndes Lächeln zwingend, erklärte er: »Es tut mir leid, Sie grundlos behelligt zu haben. Die Durchsuchung der Wohnung fand auf die Anzei­ge eines Knaben hin statt, der behauptete, aus ihren Räumen Hilferufe vernommen zu haben. Ich habe mich jedoch überzeugt, dass die Meldung nicht der Tatsächlichkeit, sondern lediglich jugendlicher Fan­tasie entsprang. Entschuldigen Sie also bitte unser Eindringen.«

»Nichts entschuldige ich!«, schrie der andere. »Nichts! Noch heute werde ich mich in einem gehar­nischten Protest über Ihr unerhörtes Vorgehen be­schweren!«

»Bitte, das ist Ihr gutes Recht«, erwiderte Sherlock Holmes kühl und verließ mit den Beamten das Haus, das auf seine Veranlassung hin von dieser Stunde an unter geheimer Beobachtung stand.

Es war nicht viel, was er über den Wohnungsinha­ber noch im Laufe der Nacht in Erfahrung bringen konnte. Er hieß Sam Kennedy, lebte als Rentier und verbrachte stets mehrere Tage im Monat auf Reisen, über deren Zweck und Ziel noch niemand etwas Be­stimmtes auszusagen wusste.

Er lebte sehr zugezogen und empfing nur öfter den Besuch eines etwa vierzigjährigen, schwarzhaarigen Mannes. Anlässlich solcher Besuche hatten Hausbe­wohner schon mehrfach streitende Stimmen ver­nommen, ohne dass man aber darauf besonderes Gewicht legte.

Einmal, aber nur ein einziges Mal, war der Schwarzhaarige nicht allein gekommen, sondern hatte sich in Begleitung einer jüngeren Dame befun­den. Der Portier des Hauses hatte beide die Treppe hinaufgehen sehen und sie dann in die Wohnung Sam Kennedys eintreten hören. Wie lange solche Besuche gewährt hatten, wusste niemand zu sagen, auch der Portier nicht, der sich meistens bereits um neun Uhr abends zur Ruhe begab.

»Hm«, machte Sherlock Holmes und bot dem Por­tier eine Zigarre an. »Der Schwarzhaarige erschien mal mit einer Dame, sagten Sie. Kannten Sie diese Dame?«

Der Mann verneinte.

»Ich sah sie ja nur flüchtig im Vorbeigehen.«

»Und wann war das etwa? Gestern? Vorgestern?«

»O nein … das ist … warten Sie einmal, das ist mindes­tens … mindestens … hm .. na, so drei Wochen mögen es her sein …«

Sherlock Holmes schloss die Augen. Eine Flut wil­der Gedanken brach über ihn herein. Er dachte an Evelyne Shawler, an Sam Kennedy und an Dr. Clarisson, der mit Kennedy Haus an Haus, Wand an Wand wohnte.

Und dann zuckte plötzlich – gleich einem erhellen­den Blitzstrahl – ein Einfall durch sein Hirn, der so unkompliziert, so einfach war, dass er nun überrascht war, nicht früher darauf verfallen zu sein. Wenn die Kombination richtig war, dann – ja, dann musste bald der letzte Schleier fallen, der nun noch verdun­kelnd über Evelyne Shawlers Tod lag.

Dazu aber war es nötig, auch noch die letzten Be­weise herzuschaffen. Dazu war es nötig, zu handeln. Und Sherlock Holmes handelte!

Schon in der nächsten Nacht stattete er der Woh­nung Sam Kennedys mit der ihm eigenen Geschick­lichkeit einen Besuch ab. Lautlos glitt er durch die Räume, um dann geraume Zeit in dem Zimmer zu­zubringen, dessen Wand mit der Wohnung Dr. Clarissens im Nebenhaus zusammenstieß.

Als er einige Stunden später nach Hause zurück­kehrte, zeigte sein Antlitz einen durchaus befriedig­ten Ausdruck. Auf Jonnys Bustons stürmische Fra­gen legte er ein geheimnisvolles Schweigen an den Tag.

»Nur das eine kann für heute von Interesse sein, Jonny«, sagte er nur, »und das ist die dich gewiss sehr erfreuende Mitteilung, dass du nicht weiter nach dem Brillantenhändler zu suchen brauchst, den Evelyne Shawler vielleicht auf ein Zeitungsinserat hin aufge­sucht hat.«

Jonny federte förmlich vom Stuhl empor. »Sie ken­nen den Mann bereits?«

»Sachte, sachte«, antwortete der berühmte Krimina­list. »Ehe ich dir meine Geschäftsgeheimnisse preis­gebe, möchte ich erst einmal einen kleinen Einblick in die deinen gewinnen. Welche Juwelenhändler kleineren Formats haben an jenem Tag, der für uns infrage kommt, inseriert?«

»Einhundertsiebzehn, Mr. Holmes.«

»Ein nettes Sümmchen«, merkte der Detektiv mit einem Lachen an. »Und wie viel hast du bereits auf Herz und Nieren ge­prüft?«

»Neunzehn.«

»Du würdest also noch eine restliche Woche benö­tigen, deine Liste zu erledigen. Nun, das ist zum Glück nicht nötig. Dort, wo ich heute Nacht einen kleinen, heimlichen Besuch abstattete, habe ich die Adresse eines Mannes auf einem halb verbrannten Briefumschlag entdeckt, der vielleicht für uns infrage kommt. Voraussetzung wäre allerdings, dass dieser Mann ebenfalls an jenem Tag, da Evelyne Shawler aus Washington nach New York kam, inse­riert hat und dass die Unglückliche daraufhin verlei­tet wurde, ihn aufzusuchen.«

»Wie heißt er?«, rief Jonny aufgeregt und riss die von ihm angefertigte Liste aus der Tasche.

»Thomas Walker.«

»Hurra!«, rief Jonny. »Hier steht er! 17 Busters Road, zweite Etage.«

»All right«, meinte Sherlock Holmes und zündete sich eine neue Zigarre an. »Das ist unser Mann.«

»Schon morgen gehe ich zu ihm!«

»Du wirst ihn schwerlich antreffen«, erwiderte Holmes mit einem sonderbaren Lächeln.

»Warum nicht?«

Diese Frage ließ der Weltdetektiv jedoch unbeant­wortet, wie er von diesem Augenblick an überhaupt schweigsam wurde und nichts mehr sprach.

Am anderen Morgen verließ Jonny Buston zeitig das Haus, um zwei Stunden später voller Erregung zurückzukehren.

»Zum Teufel!«, rief er, als er den Meister behaglich am Frühstückstisch fand. »Zum Teufel, wie ist es möglich, dass Sie wissen konnten, Mr. Holmes, dass ich den Brillantenhändler nicht antreffen würde?«

»Aha, du warst wirklich da?«

»Ja. Er ist verschwunden! Regelrecht verschwun­den! Die Nachbarschaft, die sich wunderte, dass er gar nicht mehr aus seiner Wohnung herauskam, schöpfte Verdacht, weil sie glaubte, an dem Mann sei ein Verbrechen begangen worden, und verstän­digte die Polizei.«

»Und?«

»Und die Polizei kam und stellte fest, dass Thomas Walker vorgestern zum letzten Mal gesehen wurde und seitdem verschwunden ist!«

»Ganz recht«, meinte Sherlock Holmes, »und er wird auch niemals wieder in seine Wohnung zurückkeh­ren.«

Fassungslos starrte Jonny den Meisterkriminalis­ten an.

»Und warum nicht?«, murmelte er. »Warum nicht?«

»Weil – und das ist eine sehr einfache Logik, nicht wahr? Weil Tote nicht mehr aufstehen können. Und Thomas Walker, der Brillantenhändler aus der Busters Road, ist tot. Er wurde vorgestern Abend um zehn Uhr elf Minuten von einem gewissen Sam Kennedy ermordet.«

Fortsetzung folgt …