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Der Detektiv – Der Mord im Sonnenschein – 3. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 7
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Mord im Sonnenschein

3. Kapitel

Die Zigarrenspitze

Harst hatte sich zurückgelehnt und starrte in das zarte Maiengrün der Baumkronen. Sein schmales, rassiges Gesicht, das seit dem Tod seiner Braut noch magerer, noch durchgeistigter geworden war, hatte nun nicht jenen etwas einfältigen Ausdruck, den es als zur Rolle des Heinrich Hinkel gehörig in den letzten Tagen zu zeigen pflegte. Ich merkte, dass sein scharfer Verstand all das nochmals überprüfte, was er bisher im Fall Schmiedicke lediglich dank seiner geradezu bewundernswerten Kombinationsgabe an bisher unbekannt gebliebenen Tatsachen festgestellt hatte. Ich störte ihn durch keine Bewegung, freute mich über ein Meisenpaar, das sich jagend durch die Büsche huschte, freute mich der erquickenden Luft und war doch mit meinen Gedanken nur halb inmitten dieser vom Frühlingszauber durchwehten Natur, denn ich war ja der Privatsekretär und Gehilfe eines Harald Harst und hatte Pflichten und besaß sehr viel Ehrgeiz. Ich vergaß denn auch bald den Maientag und zwang mein Denken auf die dunklen Pfade des Verbrechens zurück. So vergingen wohl zehn Minuten. Dann regte Harst sich. Und seltsam, als er nun zu sprechen begann, sagte er genau dasselbe, genau, was ich ihm hatte vorschlagen wollen als Resultat meines angestrengten Nachgrübelns über Bremer und die Hold.

»Ich werde den Detektiv Holzmüller – Sie wissen, Schraut, der schon vor uns in Szentowo tätig war und der auf mich einen recht guten Eindruck gemacht hat – mit der Überwachung der Gertrud Hold betrauen. Dieses Mädchen muss mir nützlich werden! Den Pockennarbigen nehme ich allein auf mich.«

Seine Stimme war wieder belebter, energischer als vorhin, denn seine erste verfehlte Theorie hatte ihn doch recht missmutig gemacht. Solche Augenblicke seelischer Niedergeschlagenheit währten bei ihm nie lange. Er fand ja stets sehr bald in dem Trümmerhaufen als unrichtig erkannter Schlussfolgerungen einige Steine, die sich wieder zusammenfügen ließen und die dann ein festeres, wenn auch ein kleineres Ganzes ergaben.

Dann fuhren wir ins Hotel zurück. Unterwegs kam er nur noch mit einer Bemerkung auf unsere Aufgabe zu sprechen, indem er sagte: »Lieber Schraut, Sie müssen jetzt recht viel Luft auf der Terrasse kneipen. Sehen Sie zu, dass Sie irgendwie mit Bremer bekannt werden. Der Mensch muss doch zum Mord in Beziehung stehen, denn es ist zu auffällig, dass er so viel Geldsendungen erhielt. Die Klementine Müller meinte, fast täglich.«

 

Wir speisten auf der Terrasse. Mein treuer Heinrich war rührend diensteifrig und sehr besorgt um meine Bequemlichkeit, holte mir sogar eine Fußbank und schickte den Fischgang als mir nicht bekömmlich zurück. Wir erregten – die Terrasse war stark besetzt – einige Aufmerksamkeit, und ich hörte, dass zwei Damen am Nebentisch äußerten: »Ein äußerst gewandter Pfleger.«

Während ich dann zum Kaffee eine gute Zigarre rauchte, begab Harst sich zu Holzmüller. Ich ließ mir eine Mittagszeitung durch den Kellner bringen und fand darin zu meiner nicht gerade angenehmen Überraschung eine Notiz mit der Überschrift Das Neueste über die Millionenwette im Universum-Klub. Darin stand, dass unser findigster Reporter herausgebracht hat, Harald Harst nebst Privatsekretär seien nach Erledigung des Szentowo-Problems abermals aus Berlin verschwunden. Sicherlich, hieß es weiter, sind sie bereits mit der gestellten Aufgabe beschäftigt. Leider ist jedoch von den Herren des Klubs nicht zu erfahren, worin diese Aufgabe besteht. Vielleicht – Beweise hierfür fehlen gänzlich – vielleicht sucht Harst diesmal die beiden Mörder des braven, bedauernswerten Wilhelm Schmiedicke. Wenn nicht, so können wir den Wettgegnern nur empfehlen, Harst auf diese angeblichen Reuperts zu hetzen, die leider noch immer samt der erbeuteten 13A Million frei umherlaufen, womöglich gar in Berlin selbst.

Oh – das war eine peinliche Überraschung, diese Notiz, sehr peinlich. Die im Sonnenschein tätigen Offiziellen würden jetzt fraglos jeden Gast sehr kritisch daraufhin mustern, ob er nicht Harst oder ich wäre. Sehr peinlich! Und trotzdem: Meine Eitelkeit fühlte sich etwas durch diese Notiz geschmeichelt, der Privatsekretär war ja mit erwähnt worden! Als ich nun von der Zeitung aufblickte, zuckte ich leicht zusammen. Zwei Tische vor mir saß Bremer und unterhielt sich mit Schilling, Kriminalwachtmeister Schilling, der hier nun Oberkellner spielte. Ich spitzte die Ohren. Die Terrasse hatte sich inzwischen geleert. Und ich hörte, wie der Pockennarbige sagte: »Meinen Sie wirklich, dass die Polizei die Verbrecher noch fangen wird? Ich bezweifle das. Wenn erst so viele Tage seit der Tat verstrichen sind, ist es …« Das Weitere entging mir, da ein Lastwagen auf der Straße vorüberfuhr. Dann wieder erklärte der Ober: »Für mich ist es nicht gerade angenehm. Alle Gäste wollen die Zimmer 46 und 47 sehen, bieten mir weiß Gott was, um einen Blick hineinwerfen zu können. Und dabei hat die Polizei sie doch noch mit Beschlag belegt. Wir dürfen dort nicht aufräumen – nichts! Vorläufig soll dort noch alles so bleiben, wie es bei der Entdeckung des Mordes lag und stand.«

Dann sprach wieder Bremer. Ich hörte die Worte leicht begreifliche Neugier, Sensationshunger.

Darauf flüsterte er mit dem Ober, der nun lächelnd erklärte: »Es geht wirklich nicht.« Und mit einem Bückling verschwand. Auch Bremer schob nun die Kaffeetasse beiseite, ließ sich noch eine Zigarre geben und machte Miene, die Terrasse zu verlassen.

Ich musste diese Gelegenheit benutzen! Und die Mittagszeitung glitt von meinem Schoß auf den Fliesenboden. Ich versuchte sie aufzuheben, angelte danach mit meinem Stock, ächzte laut. Eines meiner Rückenkissen fiel herab.

Ah – endlich! Bremer wurde aufmerksam, sprang zu, hob die Zeitung und Kissen auf, stopfte mir Letzteres wieder in den Rücken. Ich dankte und fügte hinzu: »Es ist ein Elend, so hilflos zu sein. Nun, auch Sie haben schon eine schwere Krankheit durchgemacht, mein Herr. Pocken sind furchtbar. Ich habe meine Eltern daran verloren.«

So gelang es mir, ihn festzuhalten. Er zeigte sich gesprächiger, als ich zu hoffen gewagt hatte, setzte sich zu mir, stellte sich vor und bald waren wir beim Fall Schmiedicke angelangt. Ich tat sehr ängstlich, schalt auf meinen Diener, der gerade dies Hotel gewählt hätte, und meinte, ich begriffe nicht, wie Leute sich für Verbrechen lediglich aus Sensationshunger interessieren könnten.

»Nun«, erklärte er, »auch ich gehöre zu diesen Leuten.« Er lächelte etwas dabei. Und dieses Lächeln war voller Ironie. »Ich will Ihnen sogar gestehen, Herr Schrammel, dass ich soeben dem Ober hundert Mark geboten habe, wenn er mich in Nr. 47 einlässt.«

Ich zuckte die Achseln: »Mir unverständlich! Hundert Mark! Mich brächten nicht zehn Pferde in das Zimmer hinein!«

Da störte uns der Liftboy Karl.

»Dieser Brief ist soeben für Sie abgegeben worden, Herr Schrammel.« Er reichte ihn mir und ging wieder.

Auch Bremer verabschiedete sich mit einem »Gute Besserung. Vielleicht können wir nochmals ein wenig plaudern …«

Ich schaute ihm nach. Viel hatte ich nicht gewonnen durch diese Unterhaltung mit ihm. Nur das Lächeln, das Lächeln! Dann öffnete ich den Brief. Die Tinte auf dem Umschlag war noch halb feucht und schlecht mit dem Löscher getrocknet worden. Der Briefbogen mit dem Hotelstempel enthielt nur die Worte In seinem Mantel, Brusttasche, steckt eine Zigarrenspitze aus Papier mit dem Aufdruck Hotel Deutscher Hof, Warnemünde.« Karl.

Karl war also ebenfalls eifrig an der Arbeit. Diese Zigarrenspitze war wertvoll – ohne Frage! Sie bewies, dass der Pockennarbige zuletzt wohl in Warnemünde gewesen war.

Um sechs Uhr erschien mein treuer Heinrich und brachte mich sofort mithilfe Karls, den er sich holte, auf unser Zimmer, wo der schlaue Junge dann noch in aller Hast von seinem Fund erzählte.

»Die Spitze muss ich haben«, meinte Harst.

Kaum vier Minuten später hielt ich sie in der Hand. Inzwischen hatte ich ihm bereits mitgeteilt, wie ich die Spitze bewertete. Er trat jetzt damit ans Fenster. Dann setzte er sich neben mich auf das Korbsofa unseres gemeinsamen Wohnzimmers.

»Ich bezweifle, dass Bremer unlängst in Warnemünde war«, sagte er und hielt mir die Papierspitze hin. »Das Loch der Federpose ist vollständig mit allerlei Taschenschmutz – Stoffäserchen, zerriebenem Papier und anderem – gefüllt, die Pose selbst ganz braun von Zigarrenrauch, dazu zweimal eingeknickt, das Papier oben halb verkohlt, eingerissen und die Öffnung ebenfalls halb verstopft mit Taschenschmutz. All das beweist, dass die Spitze unbeachtet längere Zeit in der Brusttasche gesteckt hat. Bemerken Sie sonst noch etwas daran, Schraut?« »Natürlich. Hier ist ein Rest von Ölfarbe auf dem Papier. Es sieht so aus, als hätte Bremer einmal mit Farbe hantiert und dabei geraucht. Der beschmutzte Finger hat dann diesen Fleck an der Spitze zurückgelassen.«

»Ganz recht. Sonst noch was?«

»Nein …« Ich sah wirklich nichts mehr.

»Gut – lassen wir es«, meinte Harst und schob die Papierspitze in die Tasche. »Berichten Sie nun mal, was Sie vorhin andeuteten. Sie haben Bremer also kennengelernt?«

Ich erzählte mit allen Einzelheiten.

Als ich fertig war, fragte Harst: »Wie steht es mit Haar und Bart? Echt oder nicht?« Ich musste zugeben, dass ich mich heute Vormittag getäuscht hätte, als ich den Spitzbart auf die Entfernung hin für falsch hielt. »Bremer ist in keiner Weise verkleidet«, betonte ich dann nochmals.

»Nein, denn er sieht hier ja genau so aus, wie ihn mir die Müller beschrieben hat«, sagte Harst langsam und mit Betonung des genau so. »Desto schwieriger liegt der Fall aber auch für uns, lieber Schraut«, fügte er ebenso bedächtig hinzu. »Stellen Sie sich vor: Bremer wagt sich unverändert hierher! Ist das nicht der Beweis eines guten Gewissens? Doch nein, vielleicht nur der Beweis unerhörter Kühnheit eines riesigen Selbstvertrauens und zweifelfreien Sicherheitsgefühls! Denn, darin gebe ich Ihnen recht: Das ironische Lächeln, das gar nicht am Platz war, macht ihn verdächtig. Noch mehr aber …« Er brach plötzlich ab, stand auf, ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab, sehr hastig mit gesenktem Kopf, blieb dann vor mir stehen. »Schraut, ich muss noch schnell in einen Eisenwarenladen. Ich bin gleich wieder da …«

Er eilte von dannen. Und ich saß und grübelte über seine Worte nach: »Noch mehr aber …« Ja, was konnte wohl Bremer noch mehr verdächtig machen, was nur?

Als Harst zurückkehrte, grübelte ich noch immer, erlaubte mir nun die Bitte: »Sie beendeten vorhin einen Satz nicht ganz, Herr Harst. Dürfte ich Sie um…«

»Weiß schon Bescheid. Nun, der Sensationshunger – übersehen Sie den nicht, lieber Schraut!«, fiel er mir ins Wort und öffnete das mitgebrachte Päckchen. Es enthielt einen Zentrumsbohrer, eine Tube weiße Ölfarbe und zwei frische Brötchen.

Ich machte zu diesen Einkäufen ein etwas erstauntes Gesicht. Harst nickte mir zu.: »Etwas bunte Zusammenstellung, nicht wahr? Nun, der Bohrer wird mir zu einem Guckloch in der Außentür meines Schlafzimmers verhelfen. Mit der gekneteten Brötchenkrume werde ich das Loch wieder füllen. Die Farbe wird diese kleine Sachbeschädigung dann vollends verdecken.« Er schloss das Päckchen in seinen Koffer ein, kam dann zu mir an den Tisch zurück, setzte sich und meinte: »Wir sind auf dem besten Weg zum Erfolg. Die Idee, Holzmüller hinzuzuziehen, habe ich aufgegeben. Ich brauche ihn nicht mehr. Ich weiß, wo der jüngere Reupert – den wirklichen Namen kenne ich noch nicht – sich zurzeit befindet.«

Kein Wunder, dass mir der Atem stockte.

»Sie … Sie wissen?«, stammelte ich. »Woher denn? Bitte, speisen Sie mich diesmal nicht mit Andeutungen ab. Sie können sich denken, wie sehr …«

»Sie sollen alles erfahren«, unterbrach er mich und warf ein kleines, silbernes Handtäschchen auf den Tisch, dessen Kette zerrissen war. »Da ist des Rätsels Lösung. Das Täschchen gehört Gertrud Hold. Ich habe es vor etwa anderthalb Stunden auf recht rohe Art an mich gebracht, nämlich ihr auf der Treppe zur Pension Pesteil geraubt. Sie schrie um Hilfe, und beinahe hätte man mich ergriffen. Es waren scheußliche Minuten, die dann aber vollauf durch den Inhalt des Briefes aufgewogen wurden.« – »Sie meinen – Inhalt des Täschchens«, gestattete ich mir ihn zu korrigieren. – »Nein – des Briefes, der in dem Täschchen jetzt noch liegt und den die Hold von der Expedition wieder unter KW 111 abholte, wobei ich sie beobachtete. Dieses Mal bekam sie dort vier Briefe ausgehändigt. Beim Lesen des einen zitterten ihre Hände leicht, wurde sie erst blass, dann rot. Das war der rechte – der von Reupert-Sohn.«

Er knipste das Täschchen auf. »Lesen Sie, Schraut«, sagte er triumphierend. »Lesen Sie. Der Umschlag ist in Doberan in Mecklenburg abgestempelt. Halten Sie sich damit nicht auf.«