Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare

Archive

Folgt uns auch auf

Königin Mitleide

Ella von Krause

Königin Mitleide

Es ist schon lange, lange her … Da lag zwischen Bergen und Seen ein großes Königreich, und in der Hauptstadt Balrivar wohnte der gute und tapfere König Witticher mit seiner blonden Königin Sigrune. Sie waren glücklich, und das Volk liebte sie; aber der König und die Königin waren traurig, dass ihnen kein Prinz geboren wurde; denn es gab in des Königs Reiche unbotmäßige Fürsten und mächtige Edelleute, die gern ihre Hände ausgestreckt hätten nach des Königs Krone. Die frohlockten, dass der König keinen Sohn und Erben besaß. Und die Königin betete zu Gott in ihrem Leid. Da lag an einem sonnigen Maimorgen ein rosiges Kindlein in der Wiege; aber es war kein Prinz, nur ein zierliches Prinzesschen, das seine großen, dunkelblauen Augen dem Licht öffnete. Der König und die Königin waren so glückselig, dass sie ganz vergaßen, wie heiß sie sich einen Sohn gewünscht hatten. Im ganzen Land läuteten die Glocken, das Volk zog in großen Scharen vor das Schloss, der König trat auf den Altan und zeigte seinem Volk das Kind: »Seht, dieses Kind soll einst eure Königin sein!«

An dem Tag war eitel Jubel und Freude im ganzen Land, von den Bergen bis an das blaue Meer; denn der König ließ Speisen und Wein verteilen an tausend langen Tafeln auf allen Plätzen der Stadt und im ganzen Land. Da wurde auf das Wohl des Königshauses getrunken. Ja, ein Kind des Glücks, so schien es, war geboren, sich selbst und anderen zur Wonne! Und im purpurverhangenen Schlafgemach saß die Königin Sigrune und sah mit gefalteten Händen und glücklichen Augen in das kleine, schlafende Gesicht.

»Könnte ich dir alles schönste Erdenglück geben, du, mein liebes Kind!«, flüsterten ihre Gedanken. Da flutete ein Lichtschein in das dämmrige Gemach. Aus einer duftigen Wolke lösten sich zwei lichtumflossene Gestalten und schwebten auf die Wiege zu. Leuchtend schön und sieghaft war die eine, im demantfunkelnden, weißen Gewand, ein Diadem auf den goldflutenden Haaren. Die andere sanft, in lange, graue, duftige Gewänder gehüllt, mit leise geneigtem Haupt und gütigem Lächeln in einem ernsten, dunkelhäutigen Gesicht.

»Deine Gedanken haben uns gerufen, Königin Sigrune«, sprach die Strahlende, »wir sind herabgesandt, um deinem Kind unsere Mitgaben für sein Leben zu verleihen.«

»Wer seid ihr, herrliche Frauen?«, sprach demütig die Königin.

»Ich bin das Glück,« sprach die Strahlende, »und der Kuss, den ich deinem Kind gebe, birgt ihm die Verheißung für alles Süße und Schöne, für alles Leuchtende und Ruhmvolle, das es auf Erden gibt. Das Kind, dem ich Pate bin, soll Felicitas heißen und ein leuchtendes Kind des Glücks werden – soll ich es küssen?«

Da streckte die Königin flehend die Arme aus: »Küsse mein Kind und habe Dank!«

Die Fee neigte sich über die Wiege und küsste das Kind. Ein sonniges Lächeln ging über das schlafende Kindergesicht.

»Und wer bist du, du stille, blasse Frau?«, fragte die Königin weiter und blickte scheu auf die graue Gestalt.

»Die stille Begleiterin des Glücks, und doch seine Gegnerin – ich bin das Leid«, sprach leise die Graue. »Mein Kuss öffnet den Menschen die Augen für all das tiefe Leid der Welt, und wenn es ein guter Mensch ist, des Auge ich küsse, so leidet er unter dem Leid der Welt und muss es lindern und kann nie des ganzen, vollen Erdenglücks froh werden. Willst du, dass ich dein Kind küsse?«

Da hob die Königin angstvoll abwehrend die Hände vor des Kindes Wiege.

»Nein – nein – geh von hinnen, wirf keinen Schatten auf meines Kindes sonnige Wege.«

Von der lauten Stimme geweckt, schlug das Prinzesschen die Augen auf und blickte gerade hinein in die ernsten Augen der Fee des Leides und streckte die kleinen Arme aus. Da lächelte die Fee leise und traurig.

»Ich gehe, da du mich fortgewiesen hast, Königin, und küsse dein Kind nicht – möge kein Schatten auf seiner Kindheit Wege fallen! Aber dein Kind hat in mein Auge geblickt – und über kurz oder lang – da wird es sich des Auges des Leides erinnern, und meine Stimme wird aufklingen in seinem Herzen. Dein Kind soll Mitleide heißen – denn auch ich stand als Abgesandte des Himmels an seiner Wiege!«

Sie hob die Hand mit leise segnendem Gruß, und die lichten Erscheinungen entschwebten und zerflossen im Nebel, der leise brauend aus den Tälern stieg.

Die Königin aber drückte ihr Gesicht in des Kindes Kissen und flüsterte: »Felicitas sollst du heißen, und mein Herzblut möchte ich geben, um das Leid von deinen Pfaden zu halten!«

Es fasste sie in dieser Nacht eine leise, dunkle Ahnung vor dunklem Weh, das in der Zukunft Schoß verborgen ruhte …

Felicitas wuchs heran und wurde ein reizendes Prinzesschen. Alle Leute nannten sie Fee, weil sie so zart und licht und lieblich war mit ihren sonnengoldenen Haaren und den großen, dunkelblauen Kinderaugen. Der Vater hatte ihr eine kleine goldene Krone schmieden lassen, die trug sie gar gern, saß zwischen ihren Eltern auf den purpurnen Decken des Thrones und freute sich, wenn sich das Volk vor ihr verbeugte, und wenn die Leute sagten, wie allerliebst sie wäre und dass sie eine schöne, strahlende Prinzessin werden würde. So gingen glückliche Jahre dahin.

Da kam ein furchtbarer Bürgerkrieg über das Land. Die Feinde des Königs hatten das Volk aufgewiegelt; das tobte nun und wütete und schrie, es wolle keinen König haben, es wolle sich selbst regieren. Und vergaß alles, was der König ihm Gutes getan hatte, und das er oft sein Leben gewagt hatte für das Glück und die Größe seines Landes. Von allen Seiten wurde der Palast umzingelt; der König kämpfte mit seinen Getreuen gegen die Überzahl der Aufrührer, die angeführt wurden von dem riesenstarken, schwarzlockigem Grafen Beowulf, der des Königs größter Feind war. Der war noch ein Jüngling an Jahren, aber von wilder Herrschsucht erfüllt, und führte das Volk nur an, um selbst Reich und Krone an sich zu reißen.

Die Königin lag in ihrem Gemach auf den Knien und hielt Fee in ihren Armen und weinte und fürchtete sich sehr. Da stürzte der alte Rüdiger, der des Königs Bogenspanner und treuester Diener war, herein, fasste sie an der Hand, nahm das Kind auf seine Arme und flüchtete mit ihnen durch die Hintertüren des Schlosses. Dort setzte er die Frauen auf der Königin weißen Zelter Witular, hüllte sie in alte, graue Decken und führte das Ross auf geheimen Wegen in die dunklen, pfadlosen Wälder – weiter, immer weiter. Hinter ihnen her sprang in großen Sätzen Graue, der Wolfshund, der des Prinzesschens Spielgefährte gewesen war und seine Herrin nicht verlassen wollte im Elend. Das Ross musste mit seiner Last durch einen tiefen See schwimmen. dabei fiel dem Prinzesschen das Krönlein vom Haupt, das es in aller Angst und Not doch noch mitgenommen hatte, denn es liebte seine Krone sehr! Da weinte es und streckte die Arme aus und jammerte, Rüdiger möge sie ihm wiederbringen.

Aber Rüdiger schalt und tat, als sei er böse, und sagte: »Besser ist es, Prinzesslein, Ihr geht in grauen Lumpen als im güldenen Krönlein, so ich Euch retten soll!«

Fee weinte, fügte sich und fürchtete sich vor dem strengen Wort.

Aber Rüdiger meinte es treu mit ihnen, wenn er sich auch hart stellte. In einem fernen, dunklen Wald an des Landes Grenzen, unsichtbar den Spähern und Wanderern, barg er die Königin und ihr Kind in einer verlassenen Einsiedlerhütte. Die Hirsche und Rehe hatten ihr Lager hier im Dickicht und fürchteten sich nicht vor den Flüchtlingen, denn der alte Einsiedler war ihnen ein guter Freund gewesen. Und Sigrune melkte eine weiße Hirschkuh, die sich zutraulich an sie schmiegte, und zündete Feuer an auf dem Herd, während Rüdiger wanderte und Binsen suchte am Seestrand. Von den Binsen flochten sie Körbe, die Rüdiger dann auf den Zelter band, um sie nach meilenlangem einsamen Wandern in einer Stadt zu verkaufen und von dem Erlös Butter und Mehl, Eier und Fleisch den Frauen zu bringen. Er schoss auch einen wilden Vogel oder fischte im See oder erlegte ein Wild, aber nur ganz fern von der Hütte, denn das Prinzesschen litt nicht, dass eines der Hirsche und Rehe, die sie kannte, von der Flinte geschreckt wurde. Wenn der Alte wanderte, saß Graue wachsam vor der Hütte, um seine Herrinnen zu beschützen.

Fee war ein Kind und lebte glücklich in der tiefen Waldeinsamkeit, blühend selbst wie eine wundervolle Blume, sprang und jubelte um die Wette mit Rehen und bunten Vögeln und liebte alles mit ihrem großen, weichen, warmen Kinderherzen, Witular und Graue und alles Getier, das um sie lebte und webte. Mit ihren leuchtenden Augen sah sie die Mutter an und merkte kaum nach Kindesart, wie die arme, traurige Königin in Sehnsucht und Herzeleid immer blasser und müder wurde, wie sie nur lächelte, wenn sie ihr Kind ansah, und im stillen Kämmerlein die blonden Haare raufte und die Hände rang und weinte um ihr verlorenes Glück, um ihren Gemahl und um ihr schönes Königreich. Sie betrauerte den König als tot, und Rüdiger, der vernommen hatte, dass er im tiefen Kerker schmachtete, verriet ihr das nicht, um ihr Herz nicht noch mehr in Mitleid und Sorge zu betrüben. Zum König des Landes hatte sich der schwarze Beowulf erhoben, und das Volk, das den guten König verraten hatte, seufzte unter der eisernen Faust des Tyrannen, dem es demütig gehorchte. Aber die Königin erfuhr nichts von allem, denn Rüdiger wollte ihren Schmerz einschlafen lassen im tiefen, stummen Frieden der Natur.

Die Jahre vergingen; das Kind erwuchs zur holderblühten Jungfrau, und alle Tiere und Bäume und Blumen neigten sich vor der lieblichen Königstochter, die in ihrem groben, grauen Leinengewand schön und strahlend war, als trüge sie ein Diadem in dem fließenden, lockigen Blondhaar. Sie trug den Zauber der Glücksfee auf ihrer weißen Stirn und alle Verheißungen der Strahlenden in ihrem träumenden Kinderherzen. Sie vergaß auch ihre Krone nicht, für die sie geboren war.

Stunden und Stunden konnte sie sitzen am tiefen, dunkelblauen Waldsee und in die Tiefen blicken mit ihren dunklen Märchenaugen. Traumhaft glitten sehnende, süße Töne von ihren Lippen und formten sich zu Liedern:

Ich trug eine Krone,
Ein Krönlein war mein,
Ein Krönlein von Gold
Und Edelgestein.

Die Krone versank mir
Im tiefen See.
Nun wandl’ ich so traurig,
Das Herze voll Weh …

Wer bringt mir die Krone?
Wer faßt meine Hand?
Wer führt mich zurück
In mein Heimatland? …

Da stiegen in wallenden Wassernebeln liebliche, grünbekränzte Nixen aus den Fluten und plätscherten und sangen mit silbernen Stimmen:

Eine Krone schlummert
In Fluten tief –
Wohl Monde und Jahre
Die Krone schlief …

Aber warte nur – warte,
Mägdelein fein,
Bald schmückt die Krone
Die Stirne dein …
Warte nur – warte nur …

Aufkichernd und lachend glitten sie hin, und neckend verklangen die Töne. Aber sprühend und grollend schüttelte der alte Wassergott seine weißen Locken, dass die Wassertropfen wie Gischt über die Flut spritzten, und klagend und tief klang seine Stimme:

Ruht eine Krone
Im tiefen See – –
Kronen bergen
Viel Leid und Weh. – –

Wisse, dass Glück du
Und Lachen verlierst,
Dass du im Purpur
Sterben wirst.

Hörst du es klagen
Durch Wald und Heide? …
Liebe und leide,
Liebe und leide …

In des Mädchens Herzen glühte ein seltsames Ahnen und Sehnen auf, als wolle es die junge Brust zersprengen … wie ein leuchtendes Traumbild hob sich die Krone vor ihren Augen, und es war ihr, als sehne sich ihre Seele dem Leide entgegen, das von der Krone kam:

Sehnsucht trag ich im Herzen
Nach meiner Krone Gold –
Bringt sie auch Leid mir und Schmerzen,
gerne ich’s tragen wollt!

Vöglein fragt, was mir fehle
Im friedlichen Waldesraum?
Heimweh trägt meine Seele
Und dämmernden Königstraum!

Noch voll von Träumen, Liedern und Fragen betrat sie eines Abends die enge Hütte. Der Abendschein fiel durchs Fenster auf der Mutter blasses, gramvolles Gesicht, auf die Hand, die müde vom Korbflechten im Schoß ruhte. Plötzlich war es dem Kind, als glitte eine unsichtbare Hand über ihre Augen und öffnete sie weit – als sehe sie eine grauschimmernde Gestalt leise entschweben …

Sie sah mit anderen Augen, sie fühlte mit heißem Weh plötzlich das jahrelange Leiden der blassen Frau im Stuhl da, sie hörte in dem klagenden Schrei eines verfolgten Vogels draußen den scharfen Misston von Kampf und Leid und Tod in der blühenden Natur.

Sie kniete neben die Mutter nieder, legte ihre Arme um sie und weinte über sie. Wie die Mutter in die tiefschimmernden Augen ihres Kindes sah, da wusste sie, dass die Stunde gekommen war, von der die Fee des Leides gesprochen hatte. Wie von ahnendem Schauer erfasst sagte sie: »Nicht Felicitas sollst du heißen … Mitleide, mein Kind, sei gesegnet!« Sie legte ihr Haupt an ihres Kindes Schulter. »Nun ist es mir leicht, zu sterben, da ich in deine Augen sehe – nach so viel Leid und Not und Todesweh gibst du mir den Frieden. In Frieden gehe ich heim. Sieh, ich wollte, als ich an deiner Wiege saß, nur dein Erdenglück dir erbitten – nun musst du doch das Leid tragen, aber du nimmst das Leid anderer mit auf deine jungen, starken Schultern – Mitleide, mein Kind, sei gesegnet!«

Die Sonne sank. Als der Mond heraufstieg, lag die Königin bleich und tot auf ihrer ärmlichen Bettstatt, und Mitleide, ernst und still und um Jahre gereift, kniete mit dem alten Rüdiger an dem Totenlager. Mitten hinein in ihr Gebet und in ihre Tränen klangen traumhaft in ihrem Herzen die Stimmen der Wasser:

Liebe und leide –
Liebe und leide …

Ja – auch dieser stillen Schläferin Erdengang lag in diesen ahnungsschweren Worten beschlossen. Monde verrannen. Die Wälder lagen in des Herbstes Pracht – die Hirsche schrien in den hellen Mondnächten und das Krachen der mächtigen Geweihe der Kämpfenden brachte einen schrillen Ton von Leidenschaft und Kampf in die stille Melodie des Waldes. Die Vögel rüsteten zum Wandern, und Mitleide saß vor ihrer Hütte einsam und traurig in dämmernden Träumen. Da, an einem sonnigen Herbsttag, zerriss plötzlich ein schriller Hornruf die klare Luft, in den Gebüschen rauschte und knackte es. In fliegenden Sätzen brach Mitleides Lieblingsreh aus dem Dickicht, barg, vor ihr zusammenbrechend, seinen zarten Kopf in ihrem Schoß und schaute sie herzbewegend, hilfeflehend an mit den großen, braunen Samtaugen. Aber hinter ihm brach ein mächtiger, gewappneter Reiter im grünen Jägerkleid aus dem Wald, gefolgt von einer kleinen Schar von Rittern. Während die erschrockene Jungfrau ihre Arme schützend um ihres Lieblings Hals schlang, flog dem Tier ein wohlgezielter Pfeil durch die Schulter ins Herz, sodass es zuckend vor ihr zusammenbrach.

Eine metallharte Stimme sagte scharf auflachend: »Das nenne ich fürwahr einen Meisterschuss, er hat das Wild getötet, ohne die Waldfee zu verletzen … bei Gott, solch schönes Abenteuer lass ich mir gefallen!«

Aus den finsteren, herrischen Augen in dem stolzen, dunklen Gesicht flammte ein Blitz auf und glitt über die erblasste, zitternde Jungfrau hin, die noch immer das tote Reh umklammert hielt. Dann sprang der mächtige Jäger von seinem schwarzen Hengst ab und wollte mit der gepanzerten Hand ihr gesenktes Kinn heben; aber als sie die Augen zu ihm aufschlug, trat er zurück, als wage er es nicht, denn es war eine Hoheit in ihrem Blick, die er sich nicht deuten konnte. Er wandte sich zu seinem Gefolge: »Sitzt ab, ihr Herren, und du, o Jungfrau, wirst, denke ich, dem König des Landes den Trunk nicht verweigern!«

»Dem König des Landes!« Noch hatte Mitleide kaum den Sinn der Worte begriffen, da trat Rüdiger, von der Jagd kommend, neben der Hütte heraus, begleitet von dem zottigen Wolfshund. Als Graue des Ritters ansichtig wurde, stieß er ein furchtbares Geheul aus – denn er erkannte seiner Herrin Feind – und sprang mit einem mächtigen Satz dem Fremden an die Kehle. Da zog der das Schwert, streckte den Hund mit einem Streich zu Boden und wandte sich lachend ab. Mitleide schauerte zusammen und beugte sich herab zu dem treuen Tier, das sie traurig ansah mit den klugen Augen und ihr die Hand leckte und starb. Sie fürchtete sich unsäglich vor dem stolzen, fremden Mann.

Aber die Jagdgenossen lagerten sich im Halbkreis auf der kleinen Waldwiese und warteten ihres Labetrunks. Als Mitleide in ihrer Hütte den Trunk mischte, kaum denken und die Hände rühren konnte unter dem Bann all des Neuen, Unbekannten, da trat Rüdiger zu ihr und fasste sie hart an der Hand. Als sie ihn ansah, erschrak sie, denn er sah riesig und finster aus, so, wie sie den guten Alten nicht kannte.

Er raunte ihr zu: »Königstochter, wisst Ihr, wem Ihr den Trunk kredenzen wollt? Das ist Beowulf der Finstere, der Euren Vater vom Thron stieß und Eure Mutter ins Elend jagte! Königstochter, wisst Ihr, dass Euer Vater noch lebt und schmachtet im tiefen, feuchten Kerker? Ich habe gewartet und Rache und Gram in mich hineingewühlt seit vielen Jahren, da ich den Jammer Eurer Mutter sah und Eures Vaters gedachte, meines vielgeliebten Herrn. Nun naht meine Stunde. Königstochter, mischt dieses Gift in den Becher, es tötet auf der Stelle – und Ihr und Euer Haus seid gerächt! Ich führe Euch zurück in Eures Vaters Stadt. Wir rufen das Volk auf, dass sich nach seinem guten König sehnt – und Ihr bringt Eurem Vater die Krone wieder! Denket der Krone, denket des Glücks, das Euch winkt.«

Aber das Mädchen hob die sanften Augen zu ihm auf und sah ihn an. Da senkte er die düsteren Augen.

»Weißt du nicht, dass ich Mitleide bin?«, sagte sie ernst. »Wie kann ich tun, was du mir rätst? Lass meine Krone ruhen – so darf ich sie nicht heben und lockte sie auch noch so süß. Wisse: Wenn du das Gift in den Becher schüttest, so sterbe ich zuerst vor deinen Augen, denn ich kredenze dem König den Trunk!«

Mitleide trat hinaus auf die Wiese. Die Sonne wob einen goldenen Schein um ihr lichtes Haar, als sie vor den ruhenden König trat. Sie berührte den Becher mit ihren Lippen und bot ihn dem König dar. Der König erhob sich und sah sie an. Er wollte sie umfassen, als er den Becher griff; aber als er sie stehen sah in ihrer stillen Schönheit, so königlich in dem zerschlissenen Gewand, da fühlte er ein wunderbar Sehnen in sich aufsteigen, denn es war etwas in ihren Augen, das ihn seltsam ergriff. Er beugte sich tief herab und küsste ihr die weiße Hand wie einer Königin.

Die Ritter vewunderten sich sehr. Es ward ein langes Schweigen.

Da fragte der König: »Wie heißt Ihr, wunderholde Jungfrau?«

»Ich heiße Fee Mitleide«, sprach sie leise.

»Mitleide, willst du mit mir gehen und meine Königin werden? Ich kann nicht mehr sein ohne dich!«

Da erschrak Mitleide sehr, denn sie bedachte, was dieser Mann ihr genommen und zuleide getan hatte, und sie sagte: »Nein, niemals!«

Aber der König konnte nicht lassen von ihr. Er wurde finster und sagte: »Ich bin der König, und mein Wille ist Gesetz. Ich gebiete dir, dass du mit mir gehst. Doch, da ich dir nicht gebieten will, meine Frau zu werden, nehme ich dich mit mir in meiner Mutter Palast, dass du ihrer Frauen eine seist; denn ich will nicht, dass du hierbleibst, allen Gefahren der Wildnis preisgegeben. Was willst du tun, wenn der Alte stirbt? Du sollst nicht sterben und verderben bei den Tieren des Waldes!«

Da erschauerte Mitleide, denn seit ihre Mutter tot war, fürchtete sie sich oft vor dem Alleinsein in der Wildnis. Da der König sah, dass sie weinte, bat er sie noch einmal, mit ihm zu gehen. Da sagte sie: »Ja, Herr König, ich will mit Euch gehen, aber versprecht mir bei Eurem Schwert, dass Ihr nie von mir verlangt, Eure Frau zu werden, denn das kann und will ich nie!«

Der König versprach es ihr und sagte: »Ich schwöre, dass ich dich nie zu meiner Frau machen will, so du es dir nicht selbst wünschst!«

Aber innerlich lachte er, denn er dachte: »Wenn sie erst all den Glanz und die Königspracht sieht und alles, was den Frauen gefällt, so wird ihr Sinn sich von selbst ändern!« Er wunderte sich im Stillen, dass sie ihn so stolz verschmähte; denn er war stattlich und prächtig von Antlitz und Gestalt und ein mächtiger König. Die Augen vieler Frauen und Jungfrauen folgten ihm in Bewunderung und wünschten und träumten, dass er sie zu seiner Königin erwählen möge.

So ritt Mitleide auf ihrem weißen Zelter an des Königs Seite aus dem Wald heraus. Der alte Rüdiger, der seine Herrin nicht verlassen wollte, ging grollend mit und schwor, über sie zu wachen. Aber Mitleide hatte ihm geloben müssen, dem König ihre Herkunft zu verschweigen, denn er fürchtete des Finsteren Zorn und Misstrauen für die Jungfrau.

Als der Zug an dem See vorüberkam, darin einst das Krönlein versunken war, sah Mitleide in den wallenden Nebeln die Nixen plätschern. Die hielten ein schimmernd Kleinod lockend und lachend in die Höhe, aber Mitleide wandte ihr Antlitz ab, denn sie wusste, dass sie nicht nach der Krone greifen konnte, die dieser Mann ihr aufs Haupt setzen wollte. Und sie ritten weiter, aber traumhaft über die Wasser klang es ihr nach:

Liegt eine Krone im tiefen See.
Kronen bergen viel Leid und Weh …
Hörst du es klagen
Durch Wald und Heide? …
Liebe und leide
Liebe und leide! …

Aber als die Türme Balrivars sichtbar wurden, da stockte der Zelter und wollte nicht weiter gehen, denn er dachte daran, dass er aus diesen Toren mit seiner Herrin geflüchtet war. wie auch Mitleide zuredete und bat, er schüttelte den schönen Kopf und sah sie warnend an. Da wurde der König zornig, denn er begriff nicht, warum das Tier so störrig war, und befahl Mitleide abzusteigen. Dann winkte er seinem Knechte, und der erstach das Pferd. Da schrie Mitleide laut auf und nahm Witulars samtweichen Hals in ihre Arme und küsste die sanften, brechenden Augen.

Sie weinte und dachte: Er hat mir alles getötet, was ich lieb habe! Sie fürchtete sich sehr vor dem finsteren Manne.

Als der König ihre Tränen sah, gereute ihn seine Wildheit; aber ein böser Dämon war in ihm, der ihn stets zu Zorn und Grausamkeit reizte. Er ließ ihr ein anderes Ross geben und versuchte, sie zu trösten, aber Mitleide blieb still und traurig. Schweigend ritten sie am Abend des dritten Tages, als die Sonne sich neigte, ein in die leuchtenden Tore von Balrivar …

Die alte Königin Jutta nahm Mitleide unter die Frauen ihres Hofstaates auf und ließ ihr, da der König es so befahl, kostbare Gewänder und güldenes Geschmeide geben. Aber Mitleide kleidete sich in ein schlichtes, weißschimmerndes Gewand. Ihr langes, blondes Haar floss über den Gürtel von mattleuchtendem Gold. Wie sie so in den großen Festsaal trat, staunten alle über sie, und die anderen Frauen raunten sich neidische Worte zu. Denn sie war sehr schön und anders als alle anderen.

Die Königin aber grollte ihrem Sohn, dass er die arme, landfremde Magd zu so hohen Ehren brachte und dass seine Augen unverwandt an ihrem schönen Antlitz hingen. Denn sie wünschte seit Jahren schon, dass er eine Braut wählte unter den reichen Töchtern der Fürsten und Vornehmen des Landes, um seine Herrschaft noch mehr zu befestigen. König Beowulf aber war ergriffen von einem wunderbaren Zauber. Wenn er in Mitleides Augen schaute, schliefen die wilden Dämonen ein, die oft in dunklen Stunden ihn beherrschten. Seine harte Stimme wurde gütig, und wer in solchen Augenblicken seine Gnade erflehte, dem wurde sie gewährt. Seine Diener wussten dann nicht, was den finsteren König so verwandelt hatte. Aber Mitleide ging mit gesenkten Augen und still ihres Weges. Alle Huld und Gnade, alles stumme Flehen des Königs glitt ab an ihren ernsten, träumenden Augen.

Feste folgten auf Feste, denn der König dachte, dass die Pracht und Herrlichkeit seiner Königsmacht ihren Sinn blenden und ihr Gefallen an des Königs Hand erwecken würden; denn er dachte gering von den Menschen und glaubte, aller Menschen Seelen wären käuflich. Denn er hatte auf seinem Königsthron tief in die Herzen der Menschen hineingeschaut; und wie er selbst einst seiner Seele Seligkeit für Macht und Krone hingegeben hatte, so deuchte es ihm des Weltenlebens Gesetz für alle.

Der Winter verging, und es kam ein herrlicher Maientag, da sollte ein großes Fest in der ganzen Stadt begangen werden, denn des Königs junger Bruder, der mit einem alten Feldherrn ausgesandt war, um an des Landes Grenze einen Krieg mit Nachbarstämmen zu bestehen, sollte seinen siegreichen Einzug halten in Balrivar und von seinem Bruder mit dem Lorbeer belohnt werden. Der König war heiter, denn er liebte seinen Bruder und war stolz seiner Siege. Die Königin und ihre Frauen legten kostbare Gewänder an. Auf der Terrasse des Schlosses unter purpurnem Baldachin waren Rosen- und Lorbeerlauben errichtet. Sänger und Harfner waren gedungen, um den heimkehrenden Helden zu feiern. Die ganz Stadt leuchtete im Schmuck von Blumen und bunten Gewinden von Teppichen, die unter der Rosse Hufe gebreitet wurden. Mitleide war seltsam erregt, eine warme Röte lag auf ihrem zarten Gesicht, und des Königs Blicke hingen an ihr mit heißem Flehen. Wenn sie seinen Blick fühlte, erschauerte sie. Es kam über sie wie ein Ahnen von etwas Großem, Mächtigem, das über sie Gewalt hatte, und vor dem sie sich doch fürchtete.

Da ritten die Krieger ein. Hinter dem Zug der Bläser, die ihre Siegesweisen von ihren Falbenrossen herabschmetterten, ritt auf silbergrauem Ross ein schöner, schlanker Ritter mit lichten, sonnigen Augen und lockigem Blondhaar und grüßte lachend und strahlend zu den schönen Frauen des Hofes hinauf. Jubelnd schütteten sie Rosen und Lorbeeren auf den Jüngling herab, und das Volk rief ihm jauchzend Heil!

Jung-Siegmars Blicke aber blieben hängen an Mitleides dunkelblauen Augen, und er hielt sein Ross an, neigte tief sein Schwert und bat sie um die Rose von ihrer Brust. Mit tiefem Erröten reichte sie ihm die weiße Rose mit dem rosig glühenden Kelch. Ihre Augen tauchten ineinander. Da war es ihr einen Augenblick lang, als riefen tausend lockende Frühlingsstimmen, als strömten tausend Rosen heiße Düfte aus, als leuchteten tausend Sonnen auf einen hellen Pfad, auf dem zwei junge, sonnige, leuchtende Menschenkinder den winkenden Zielen des Erdenlebens entgegenwandelten.

»Glück – Glück!«, riefen tausend Stimmen in wildem, wirbelndem Rauschen ihr zu. In der Ferne sah sie im Sonnennebel zerfließen der Glücksfee goldschimmerndes Gewand …

Alles, alles war ein Augenblick – da wandte sie ihre Augen dem Thron des Königs zu, und sie erbebte vor dem Ausdruck furchtbarer Qual in seinem dunklen Gesicht. Das Sonnenbild sank zusammen, in ihr fühlte sie aufsteigen groß, mächtig und zwingend ein dunkles Gefühl: Dies ist der Pfad, der deinem Leben vorgezeichnet – das ist die Seele, die dein bedarf, die Seele, die zu dir gehört, durch tausend feine Fäden mit der deinen verwebt ist.

Was aller Glanz der Königspracht nicht vermocht hatte, ihre Furcht zu besiegen vor dem Mann, dessen raue Hand ihr alles genommen, was sie im Leben lieb gehabt hatte, das vermochte die Qual der Liebe, die sie in seinen Augen las. Sie fühlte plötzlich, dass es ihr gegeben war, dieses Mannes finsteren Geist zu wandeln zum Segen der Menschen und zu seinem eigenen Frieden. Sie senkte das Haupt in tiefem, weichem Sinnen, und die Abendsonne warf einen lichtroten Schein über ihre reine Stirn. Als der König sie so sitzen sah, mit dem seltsam verklärtem Ausdruck, da wähnte er, sie denke in Sehnsucht seines jungen Bruders. Riesengroß stieg der Dämon des Zorns und des Hasses in ihm auf. Er erhob sich mächtig und drohend und gebot, das Fest zu enden, und dem Volk, sich zu zerstreuen. Entsetzt und murrend gehorchten Ritter, Frauen und Volk …

In der dunklen Nacht, die diesem Tag folgte, saß der König in seinem Prunkgemach in schweren Gedanken. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt auf dem schweren, goldbeschlagenem Tisch. Vor ihm lag ein begonnener Brief an seinen alten Feldherrn. Er schicke ihm seinen Bruder zurück, und er möge ihn mit einer Botschaft senden in ein Gebiet, wo Not und Gefahr seiner warte. König Beowulf hatte seinen Bruder lieb gehabt und rang mit den bösen Gedanken, die dieses sonnigen Lebens Ende wünschten; aber riesengroß wuchs der finstere Geist des Hasses und qualvoller Eifersucht über die weicheren Gedanken seines Herzens empor. Er fühlte, wenn Mitleide sich seinem Bruder neigte, war er dem Dämon der Finsternis verfallen. Die zarten Keime der Seele, die unbewusst nach dem Licht gedrängt hatten unter Mitleides sanftem Augenstrahl, mussten welken und sterben. Verderben musste er den Mann, der sich zwischen ihn und seine Wünsche stellte, vernichten, was in seiner Macht stand, zu vernichten.

Bleich schien der Vollmond in sein qualverzogenes Gesicht. In den dunklen Ecken des Gemachs glitten und raunten der Mitternacht gespenstisch graue Schatten.

Eben wollte er seine Namensschrift unter den blutigen Befehl setzen, da öffnete sich leise die purpurverhangene Tür. In langem, silberbestrahltem, weißem Kleid, das schimmernde Blondhaar wogend über den goldenen Gürtel, mit gesenkten Blicken und scheuem Lächeln stand Mitleide auf der Schwelle.

»Mitleide, was begehrst du?« Des Königs Auge starrte, seine Stimme bebte.

Da glitt die weiße Gestalt wie ein silberner Mondstrahl ins Zimmer und sank zu seinen Füßen nieder. Ihre weichen Arme umschlangen sein gepanzertes Knie. Während ihre süßen Augen sanft zu ihm aufschauten, flüsterten ihre scheuen Lippen: »Ich habe dich sehr lieb – lass mich deine Frau sein.« …

Da brach aus des Königs Brust ein Schrei, wie der eines todwunden Tieres. Die Qual der letzten Stunden lag darin und klang aus in einer wilden, zitternden Seligkeit. Er zog die Kniende vom Boden empor.

»Mitleide – meine Frau!«

Sie nahm sein dunkles Haupt in ihre weißen Hände und drückte einen leisen Kuss auf seine Stirn.

Da wurde der Blutbefehl zerrissen und die Hochzeit in großer Pracht gefeiert. Ein Freudenschrei ging durch das ganze Königreich. Der König, in dessen Herz ein Sonnenstrahl gefallen war, ließ Kerker öffnen und Schmerzen lindern. Den Feinden an der Grenze wurde die Friedensbotschaft gebracht. Mitleides sanfte Hände lagen über dem Land.

Herzog Siegmar aber, in heiß aufloderndem Schmerz, verließ die Heimat, um in Abenteuern auf fernen Meeren sein Leid um Mitleide zu vergessen.

Der König und die Königin liebten sich innig, und wunderselige Wochen und Monate gingen dahin.

Königin Jutta aber grollte ihrem Sohn und seiner schönen Königin und flüsterte ihm tausend böse Worte ins Ohr. »Siehe, dein Weib liebt dich nicht mit ganzer Seele. Sahst du nicht, wie sie beim Einzug deinem Bruder die Rose gab?«

In Beowulfs Herz war der Argwohn gefallen und er spähte in seines Weibes Wesen …

Da meinte er zu finden, dass ihre Liebe nicht heiß war, denn sie war sanft und still und gütig. In ihren Augen war nicht die Glut, mit der die anderen Frauen des Hofes seine Augen suchten, und wusste doch, dass Mitleide ihm mehr galt als alle Frauen der Welt.

Und wieder sprach Jutta: »Siehst du nicht, wie dein Weib buhlt um die Liebe des Volkes? Wie das Volk sie mehr liebt als dich, den König? Was hat sie zu schaffen in den Kerkern der Gefangenen und in den Hütten der Elenden?«

Der König begann zu zürnen, wenn sie oft um Gnade oder Milde bat für die, die er mit Härte strafte. Dann stieg manchmal der Dämon in ihm auf und zwang ihn, auch hart und grausam gegen sein Weib zu sein. Aber sie lächelte, und immer wieder verscheuchte sie die Schatten. Oft aber war sie auch traurig, wenn er sie finster anblickte, und dachte an alles, was sie schon im Leben besessen und verloren hatte; aber durch ihre Tränen versuchte sie zu lächeln, um ihm den Trübsinn zu verscheuchen; denn sie liebte ihren Gemahl mehr, als sie sagen konnte. Es musste Licht und Wärme um sie sein, das bedurfte sie, und ihr Lächeln schuf Lächeln, wohin sie trat.

Aber in einem widerstand Beowulf mit eiserner Strenge seiner Gemahlin: Sie wollte durch heiße Bitten erreichen, den Kerker des alten Königs betreten zu dürfen, aber über diese Bitte geriet der König jedes Mal in finsteren Zorn. Fast unbewusst fürchtete er noch den Einfluss des Besiegten, Eingekerkerten und den Vorwurf, den ihm in weicheren Stunden sein Gewissen machte über dessen trostlose Gefangenschaft. Aber gerade diese Schwäche wollte er seiner Frau nicht eingestehen.

Aber Mitleide grämte sich um ihres Vaters Leiden und beschloss mit schweren Herzen, dem Befehl ihres Gatten zuwiderzuhandeln. Sie besprach sich mit dem alten Rüdiger, der als Schlosswächter im Palast angestellt war. einst, als der König zur Jagd geritten war, stieg sie mit dem treuen Alten in die dunklen Gewölbe des Schlosses hinab, mit bangem Zittern vor dem traurigen Wiedersehen mit ihrem unglücklichen Vater. Sie wollte ihm Trost, Labung und Hoffnung bringen, denn wie hätte sie ihre Krone ertragen können, ohne von ihrer Macht Hilfe für den Gebrochenen zu erstreben? Der Kerkermeister, der die Königin liebte wie das ganze Volk, wagte nicht, ihrer Bitte zu widerstehen, und öffnete des dunklen Kerkers schwere Tür. Bald darauf lag Mitleide weinend in ihres gramgebeugten Vaters Armen. Er war gefesselt an seine steinerne Bank. Der spärliche Lichtschimmer fiel auf sein von Gram und Elend eisgrau gebleichtes Haupt. Mitleide weinte und gelobte sich, dass – und koste es ihr Thron und Glück und Leben – sie bei ihrem Gatten ihres Vaters Freiheit erwirken müsse. Aber wie sie vor dem Vater kniete und ihm sprach von allem, was geschehen, da starrte plötzlich ihr Blut in jähem Entsetzen, denn auf der Schwelle des Kerkers stand der König, finster und mächtig. Königin Jutta hatte Boten ihm nachgesandt, denn sie hatte von ihren Spähern Mitleides Tun erfahren.

Des Königs Stimme klang furchtbar, als er rief: »Du hast gewagt, meinem Willen zu trotzen, und frevelst gegen des Königs Gesetz? Was treibt dich, zu knien vor dem Feind deines Gemahls? Möge er sterben!«

Er erhob den Speer gegen den wehrlosen Gefangenen. Da aber warf sich Mitleide zwischen die Männer.

»So töte erst mich, ehe du meinen alten Vater tötest!«

Wie der König das hörte, schrie er laut auf mit furchtbarer und klagender Stimme: »Weh mir, Verrat hast du an mir geübt. Verrat war alle deine holde Liebe! Verraten hast du mich um der Krone willen, die deiner Sippe gehören sollte! Fluch dir und wehe!«

Und seiner selbst nicht mächtig in Schmerz und Zorn, hob er die Hand auf gegen die Königin und stieß sie zurück! Da glitt sie auf dem feuchten Boden aus und schlug mit dem Haupt schwer gegen die steinerne Kerkerbank. Ihr Blut rieselte aus einer kleinen Wunde an der Schläfe. Wie das der König sah, erstarrte sein Zorn zu kaltem Entsetzen. Er nahm die bleiche, leblose Königin in seine Arme und trug sie hinauf durch dunkle Gänge, über steinerne Treppen, höher, immer höher, hinauf bis zum Prunksaal des Schlosses und legte sie auf das Ruhebett und schlug die purpurnen Decken über sie. Und kniete nieder an dem Lager und barg das Haupt in die Falten ihres Gewandes, und sein starker Körper bebte im wilden, heißen Weinen.

Noch nie hatte König Beowulf gewusst von Tränen bis zu dieser Stunde.

Draußen rieselte der Herbstregen an den Fenstern nieder. Die Wassertropfen sangen eintönig das alte Lied von Liebe, Leid und Sterben:

Ruht eine Krone
Im tiefen See –
Kronen bergen
Viel Leid und Weh …

Gabst ihr die Krone,
König du – –
Gabst ihr Leiden
Und Tod dazu …

Hörst du, Mitleide,
Noch jenen Sang,
Der dir schauernd
Und bang einst klang?

Fühlst du den Sturm wehn
Über die Heide?
Schmerzt dich die Krone,
Arme Mitleide?

Schlafe – schlafe in Ruh!
Purpur deckt die Wunden zu …
Schlafe, schlafe nur – du –
Erde deckt alles zu – alles zu – alles zu.

Drunten aber im Kerker hatte der alte Rüdiger den Kerkermeister überwältigt und gebunden, den alten König von den Fesseln befreit und ihm mit heißen Tränen Hände und Füße geküsst. Dann führte er den Befreiten hinaus in die Straßen der Stadt und rief mit Donnerstimme das Volk zur Rache auf: »Der finstere Beowulf hat eure Königin erschlagen, auf – helft uns zur Rache – stürmt den Palast!«

Denn er wusste, dass das Volk an der Königin hing. Die Massen stürzten zu den Waffen und versammelten sich zornig um den gramerfüllten Alten. Und weiter sprach Rüdiger: »Wisst ihr, wer eure Königin war? Meines Herrn, König Wittichers Tochter, der hier vor euch steht, die ihr als blondlockiges Kind auf den Händen getragen habt!«

Da ging ein Jubeln und Wehklagen zugleich durch die Massen, denn sie hatten sich oft nach des gütigen alten Königs Zepter gesehnt. In großen Scharen zogen sie hinauf zum Schloss, um den König über den Tod seines Weibes zur Rechenschaft zu ziehen.

Am selben Tag war Herzog Siegmar zurückgekehrt von seiner Fahrt. Als er hörte, was sein Bruder an Mitleide getan hatte, glaubte er es nicht; denn wie konnte der König die Hand erheben gegen die Frau, die so licht und lieblich war, und die auch seines Herzens Wonne gewesen war. Er rüstete sich mit Schild und Schwert und eilte auf heimlichem Pfad in den Palast, um mit seinem Leib den König gegen den Ansturm des Volkes zu decken.

König Beowulf lag am Lager seines Weibes und hörte und fühlte nicht, dass draußen ihm Reich und Herrschaft in Trümmer ging, dass die große Flut des Lebens sich gegen ihn richtete und drohte, über ihn hinwegzustürzen. Ihm war, als hätte er alle Kronen der Welt gegeben, wenn er noch einmal das lichte Lächeln in diesen bleichen Zügen hätte aufschimmern sehen, das halb unbewusst seiner Seelen Seligkeit gewesen war. Er flüsterte und sprach zu ihr in leisen, heißen, zärtlichen Worten: »Erwache – erwache – noch einmal! Sieh mich noch einmal an mit deinen süßen Augen und sag, dass du mir vergibst.«

Da war es, als färbe ein matter Rosenschein die marmorblassen Wangen.

Plötzlich erdröhnte der Palast von klirrenden Schritten, die Tür wurde aufgestoßen, und, behelmt und gerüstet, das nackte Schwert in der Hand, stand Herzog Siegmar im Gemach. König Beowulf erhob sich. Der Bruder wollte ihm zurufen: »Wappne dich, es gilt um Thron und Leben!« Da fiel sein Blick auf Mitleide, die bleich und unbeweglich auf dem purpurnen Lager ruhte. Da umnebelten sich seine Sinne in Schmerz und Zorn. Mit dem gellenden Aufschrei »Mörder!« stieß er dem Bruder das Schwert tief in die unbewehrte Brust.

Da schlug Mitleide die Augen mit einem großen, letzten, weiten Blick auf. König Beowulf war an ihrem Lager niedergestürzt, die Todeswunde in der Brust.

»Mitleide, vergib mir, erlöse mich von meiner Qual!«

Da glitt ein wundervolles Lächeln über Mitleides marmorblasses Antlitz, und leise und müde, denn ihr Auge brach im Tode, hob sie die weißen, weichen Arme und legte sie um seinen Hals: »Ich habe dich sehr lieb, Beowulf!«

Und es waren dieselben Worte, die sie in jener dunklen Nacht gesprochen hatte, als sie wie ein Mondstrahl ins Gemach geglitten war, um die Qual von seiner Seele zu nehmen, derselbe weiche Hauch, der seine Stirn streifte.

Da ging ein glückliches Leuchten über König Beowulfs Gesicht. Mit brechender Stimme flüsterte er: »Mitleide, mein Weib, lass mich mit dir eingehen zum Licht!«

Der Abendsonne Strahl, der noch einmal durch die grauen Wolken brach, fiel glühend über die Purpurdecken des Lagers. Mitleides goldenes Haar floss wie ein schimmernder Schleier über des Königs dunkles Gesicht.

Draußen läuteten die Glocken zum Sturm; aber die mächtigen, tiefen Klänge rauschten wie ein Lied von Kampf und Sieg und Erlösung durch die stillen Lüfte und in das dämmrige Königsgemach.

Stumm und erschüttert stand Herzog Siegmar. Das blutige Schwert hatte er von sich geschleudert. Er faltete die Hände und betete am Totenlager der beiden Menschen, die er einzig geliebt hatte – geliebt hatte bis zu Schuld und Reue!

Mit dem letzten sinkenden Strahl war der Palast dem Ansturm des Volkes gefallen. Geführt vom alten Rüdiger, der riesig und drohend voranschritt, drängten die Massen in das Prunkgemach, mit ihnen der greise König. Da hob Herzog Siegmar die Hand mit mächtiger Gebärde und wies auf die purpurne Lagerstätte und gebot dem wilden Toben Schweigen. Die rauen Männer entblößten scheu die Häupter, da sie den heiligen Frieden des Todes sahen. Der alte König sank in die Knie und weinte um Mitleide, deren fließendes Blut die Tore seines Kerkers geöffnet hatte. Siegmar öffnete den goldenen Schrein in des Gemaches Mauer, darin die Königskrone ruhte, senkte sich auf ein Knie nieder und bot sie dem König Witticher dar: »Nimm sie aus meiner Hand, die Krone deines Hauses, und lass mich dir dienen als deiner treuen Vasallen geringster, zur Sühne für meine blutige Tat!«

Das Volk kniete und huldigte dem König im gramgebleichten Haar.

Auf dem Purpurlager lag Mitleide, und ein wunderbar leuchtendes Lächeln lag auf ihrem weißen Antlitz. Aber das Lächeln galt nicht der Krone, von der sie als Kind geträumt und die sie durch ihr stilles Walten ihrem Hause zurückgegeben hatte – es galt der geliebten, ringenden, verfinsterten Seele, die sie, mit stillem Fuß durch dunkle Täler wandernd, kämpfend und leidend, mit sich hinaufgetragen hatte in die Hallen ewigen Lichtes.

Auf ihren blonden, schimmernden Haupt ruhte unsichtbar die ewig heilige Krone des Weibes – die Dornenkrone tiefster Frauenliebe.

 

*

 

Über dem Grab unter den Eichen des Waldes, darin das Königspaar den ewigen Schlaf schläft, blühen die Rosen rot und weiß – jahraus, jahrein. Der Nachtwind rührt ihre Häupter und trägt ihren süßen Duft weit hinaus in die Lande.

Der Wanderer aber, der wegmüde und sturmdurchweht sein Haupt zu kurzem Schlummer an dieser Stätte des Friedens niederlegt, fühlt es wie einen wundermilden Hauch über seine Stirn streifen. Wenn er erwacht, lächelt er, als hätten sich Sorgen und Schmerzen gelöst in seinem Herzen. wenn er weitergeht und den Leuten in den Dörfern erzählt, was er erfahren hat, dann lächeln sie, nicken und fragen: »Kennt Ihr nicht das alte Lied von der schönen Königin Mitleide?«

Und träumerisch klingt in sein Ohr die
alte schlichte Weise:
In der lindenduft’gen Sommernacht,
wenn der Mond glüht über der Heide –
Dann wandelt über der Fluren Pracht
Leise die Fee Mitleide …
Und gleitet über das schlummernde Land
Mit segnender Gebärde
Und rührt mit der lindernden
Engelshand
Heilend das Leid der Erde!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert