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Der Welt-Detektiv Band 6

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Schattendorf

Heinrich Federer

Schattendorf

Als der guten Frau Martha zu Schattendorf der Gemahl weggestorben war, da legte sie ein schwarzes Gewand an und deckte ihr schönes Gesicht mit einem dunklen Schleier. Nur bei ihrem Büblein Franz streifte sie den Schleier über die Stirn. Denn der Junge war ein lustig Ding und mochte das schwarze Tuch nicht leiden.

Es wohnte noch ein Mädchen im Haus, Berta, halb Magd, halb Tochter. Das hatte ein frisches Wesen an sich, helles Haar, eine laute Stimme, flinke Hände und Füße. Aber am flinksten war seine Zunge. Wenn Berta lachte, so ging es im Mäulchen wie ein Rädchen herum.

Frau Marthas Haus hatte einen hohen, grauen Giebel und sah recht finster aus. Dahinter standen dicke Tannen und warfen einen schweren Schatten in die Stube. Hinter den Bäumen sah man Berge voll Wald und Fels. Auf ihrem Kopf lag immer eine Nebelmütze. Das ganze Dorf machte sie schattig. Nur am Mittag guckte die Sonne ein, zwei Stunden lang über das Gebirge und rief: »Grüß euch, liebe Schattendörfler!« Dann musste sie schon wieder Ade sagen.

Aber es war dennoch schön in diesem schattigen Tal. Das Dorf lag rechts und links an einem Waldwasser, und es gab hier keine armen Leute. Die Mädchen trugen blonde Zöpfe, und die Buben zeigten beim Lachen ihre blitzblanken Zähne. Gelbe Pflaumen und blaue Zwetschen wuchsen in den Gärten. Das Schulhaus war zu klein, aber es hatte einen guten, alten Lehrer, der nie den Stecken in die Hand nahm. Er tupfte dem Faulenzer nur ein wenig mit der Kreide auf die Backe und sagte: »Sei brav und wisch das nicht ab, bis es Vater und Mutter gesehen haben!« Aber auf dem Heimweg rieben Knaben und Mädchen einander den Fleck ab.

Man war zufrieden in diesem Dorf. Die alten Leute saßen am Fenster, wenn die Sonne kam, und sprachen: »Was ist doch das für ein Glück – so viel Sonne!« Die Männer wirkten fleißig auf der Wiese oder in der Werkstatt, und nur wenn die Sonne kam, legten sie die Schaufel oder den Hobel ein wenig ab und stupften ihren Kameraden: »Schau die Sonne! Wie brav ist das von ihr!« Dann hobelten und schaufelten sie weiter.

Und erst die Frauen daheim! Potztausend, welche Frauen! Sie nähten wunderhübsche Kleider und flickten die Hosen der Buben so fein, dass man mit der besten Brille nicht sah, wo das Loch gewesen war. Aber zu Mittag und am Abend ging ein blauer Rauch aus dem Schornstein und es duftete so gut von Gebratenen und Gebackenen in die Gasse hinaus, dass man hätte meinen sollen, es wäre Kirchweih oder sonst ein großes Fest.

Nachher saßen die Mädchen unter der Tür und sangen mit den Amseln ihre Lieder in den stillen Feierabend. Die Buben hockten gegenüber auf dem Hag und pfiffen dazu oder sprangen einander um den Dorfbrunnen herum nach. Unter dem Fenster aber standen Vater und Mutter, gaben einander eine Prise Schnupftabak, niesten und sagten: »Wohl bekomm’s!« Ja es war schön in Schattendorf! Und wenn der Nachtwächter um elf Uhr durch die Straße ging, hörte er von allen Kammerfenstern her ein leises fröhliches Schnaufen. Alles schlief, alle Lichter waren gelöscht. Nur im hintersten Haus brannte noch eine Lampe. Dort wohnte ganz allein Zachar, der Zauberer. Niemand wusste, woher er kam oder wie alt er war. Bald hüpfte er wie ein Jüngling, bald kroch er dahin wie ein Greis. Einmal hatte er frische, rote Backen, ein andermal Runzeln wie ein Apfel im April. Was er in seinem Haus trieb, wusste niemand. Man nannte ihn nur den Zauberer. Sein Garten und der Garten von Frau Martha stießen zusammen. Daher sahen ihn Franz und Berta oft und fürchteten ihn nicht wie die anderen Kinder. Warf er dem Fränzel doch manchmal saftige Äpfel und gelbe Butterbirnen über den Zaun.

Dennoch war er ein böser Mann. Er hatte es draußen in der Welt so wild und grausam getrieben, dass ihn kein Wein mehr erquickte, kein Tanz mehr erfreute, kein Lied fröhlich machte. So viele Menschen hatte er zum Narren gehalten, dass ihn niemand mehr liebte und man ihn von Stadt zu Stadt jagte. Keine Ruhe fand er mehr. Da ging er in den Wald zum bösen Geist und fragte: »Was muss ich tun, dass ich Ruhe bekomme?«

»Ruhe kann ich dir nicht geben«, sagte darauf der Teufel, »aber ich gebe dir so viel Zauber, wie du willst, damit du den anderen Menschen auch die Ruhe nehmen kannst. Sie sollen es nicht besser haben als du.«

Damit war Zachar zufrieden. Er ging zu den Menschen zurück, und überall, wohin er kam, gab es Zank und blutige Köpfe.

Eines Tages kam er auch in das stille Schattendorf und kaufte das Haus neben Frau Marthas Garten. Ärgerlich sah er zu, wie am Dorfbrunnen zwei Kinder einen Apfel teilten. Sie hatten kein Messer. Da biss zuerst Fränzel, dann wieder Berta einen Mundvoll Apfel, bis nur noch die Kerne übrig blieben.

»Wartet nur!«, sagte Zachar, »in einem Jahr werdet ihr euch um den Apfel totprügeln.«

Er ging ins Wirtshaus und zahlte den Leuten Wein, soviel sie trinken wollten, um sie hitzig zu machen. Aber die Schattendorfer standen nach dem dritten Glas auf und sagten: »Es ist genug.«

Er warf Äpfel und Birnen unter die Schulkinder, und es ist wahr, die Knaben schlugen und die Mädchen kratzten einander. Aber nach einer halben Stunde waren sie wieder wie Bruder und Schwester. Er gab dem Lehrer Bücher zu lesen, worin wildes gefährliches Zeug stand. Aber der Lehrer verstand nicht einmal den ersten Satz und warf die Schriften ungelesen ins Feuer. Es verging ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre, zehn Jahre, und immer noch war es Zachar nicht gelungen, den Unfrieden ins Dorf zu werfen.

Die ganze Nacht studierte er über grauen Büchern, was er am Morgen für einen neuen Zauber probieren solle. Daher sah der Nachtwächter in jeder Nacht Licht in Zachars Haus. Der Zauberer schenkte den Mädchen schöne Kleider und glaubte, jede wolle das schönere haben. Aber nein! Jedes Mädchen glaubte, es habe das schönste, und jedes war zufrieden.

Als man ein neues Schulhaus bauen wollte, sagte er den Leuten links am Bach: »Ihr müsst sorgen, dass das Schulhaus auf eure Seite kommt. Die Nachbarn über dem Bach wollen alles haben: die Kirche, das Gemeindehaus und die Schule!«

Dann lief er zu den Schattendorfern am rechten Ufer und reizte sie: »Ich höre, dass man euch drüben das Schulhaus nicht lassen will, und doch habt ihr den größeren und schöneren Platz dazu. Lasst euch nicht übertölpeln!«

Jetzt gibt’s sicher Krieg, dachte er, und rieb sich munter die Hände. Aber siehe da, am Sonntag entschieden die Männer in der Gemeinde: »Wir wollen lieber den Frieden als ein neues Schulhaus, und so behalten wir das alte. Sobald wir genug Geld haben, bauen wir dann gleich zwei Schulhäuser, eins rechts für die Knaben, das andere links für die Mädchen.«

Da lief Zachar voll Verdruss in den Wald zum bösen Zaubervater zurück und sagte: »Siehe, ich kann den Schattendorfern nichts anhaben, dein Zauber ist zu schwach!«

Da runzelte der Teufel seine heiße Stirn und sprach: »Mein Zauber ist stark genug, aber du bist zu schwach! Ich gebe dir noch ein Jahr Zeit. Kannst du bis dahin das Dorf noch immer nicht verwirren, so nehme ich dir den Zauber, und du musst sterben!«

»Wie soll ich es denn anfangen, mit diesen Dummköpfen in Schattendorf?«, fragte Zachar verzweifelt.

»Du hast die Sache falsch angefangen«, antwortete der Teufel. »Gleich willst du das ganze Netz voll Fische fangen. Zuerst muss man nur nach einem Fische angeln, und zwar nach einem jungen, kleinen, unerfahrenen. Fang also bei einem Kind an! In deiner Nachbarschaft ist ja so ein toller Bube. Den packe! Er ist hübsch und reich, die anderen schauen auf ihn. Male ihm die Fremde so prächtig vor, dass er nicht mehr im Dorfe bleiben will. Begleite ihn dann und wirf ihn in den wildesten Rausch der Welt! Dann lass ihn heimkehren! Es gefällt ihm hier nicht mehr, und er wird Dutzende von Schattendorfern mit sich in die weite Welt hinaus reißen. So kommt die Unruhe, der Unfriede ins Tal!«

Darauf ging Zachar nach Schattendorf zurück und versuchte mit Frau Martha bekannt zu werden. Aber Frau Martha trug noch immer den Schleier über dem Gesicht und ging fast nie aus. Sie trauerte noch immer über ihren toten Gemahl und wollte, dass auch Fränzel und ihr Mägdlein nicht so lustig seien. Wenn der Knabe über die Stiegenlehne herunterritt und dazu pfiff, so tadelte sie ihn. Stand er im Rasen auf dem Kopf und musste lachen, weil er nun alles umgekehrt sah, so schimpfte sie wieder. Ja, sie sperrte die Laden zu, wenn die Sonne schien, und ließ die Tannen hoch über das Haus hinauswachsen, damit es immer dunkler in den Zimmern würde. »Wenn man lustig ist«, sagte sie oft, »so wird man gestraft! Hätte ich früher nicht so viel gelacht, so müsste ich jetzt nicht so viel weinen, mein Mann wäre noch am Leben.«

»Nein, Muhme«, versetzte Berta frischweg, »er wäre noch früher gestorben. Da drüben der Duckmäuser, der lacht nie, dem traut man darum auch nicht. Wir Schattendorfer aber lachen!« Und sooft auch Franz gescholten wurde, ging sie zu ihm und sagte: »Pfeife nur! Singe nur! Stehe nur auf dem Kopf! Das ist lustig!« Darum hatte Fränzel das Bäschen so lieb oder noch lieber als ein Schwesterlein.

Zachar dachte: Ich muss mit diesem Mägdlein anfangen! Ich sehe, es gilt viel im Haus! Und als Berta im Garten Stangen in die Bohnenbeete steckte, da trat er an die Hecke und fragte bescheiden: »Jungfer Berta, was haben Sie gesät, Böhnchen oder Zuckererbsen?«

»Das kann der Herr im Herbst erfahren, wenn er so viel Geduld hat zu warten«, antwortete sie.

Welch ein grobes Ding!, dachte Zachar. Aber laut sagte er ganz höflich: »Will mir das hübsche Fräulein vielleicht im Herbst davon, wenn ich recht verstehe, eine Probe zu versuchen geben?«

»Von der Stange kann er zwanzig auf den Buckel haben, aber von den Bohnen gebe ich ihm keine Erbse«, sagte Berta und kehrte ihm den Rücken. Dann fing sie so laut an zu singen, dass Zachar sich die Ohren zuhalten und davonlaufen musste.

Mit der frechen Magd ist nichts anzufangen!, dachte er. Gut, ich probiere es mit der Frau!

Er besuchte sonst nie die Kirche. Denn das fromme, fröhliche Singen und Orgelspielen der Schattendorfer schmerzte seine schlechte Seele. Aber am Sonntag legte er nun doch ein feines, graues Kleid an mit seidenen Säumen am Ärmel, eine rotgeblümte Samtweste und eine schneeweiße Krawatte auf dem frischen Hemd. Er trug einen sehr hohen Kragen, Handschuhe aus feinstem Leder und schwang in der Hand einen Stock mit elfenbeinernen Knopf. Unter dem Arm trug er ein dickes Kirchenbuch mit Goldschnitt und silbernen Schlösschen.

So ging er in die Kirche und setzte sich gerade neben Frau Martha und ihren Sohn. Niemand sang so laut die heiligen Lieder und schloss so andächtig die Augen dazu wie Zachar.

Frau Martha dachte: Welch’ ein frommer Mann!

Als ihr ein dürres Veilchen aus dem Gesangbuch fiel, bückte er sich schnell und hob es auf. Mit einer tiefen Verbeugung reichte er ihr das Blümchen.

Frau Martha dachte wieder: Welch’ ein höflicher Mann!

Danach wartete er vor der Kirche und begleitete sie heim. Dabei tat er so artig und verneigte sich jedes Mal, wenn er »Frau Martha« sagte, so zierlich, dass die Witwe ihm zuliebe gern ein wenig den Schleier gelüftet hätte. Den Knaben fragte er, ob er schon reite und mit der Flinte umzugehen wisse.

»Nein«, klagte Fränzel, »die Mutter hat unser Pferd verkauft, und die Flinte des Vaters ist verrostet.

Da bat Zachar Frau Martha, den Jungen zu ihm hinüberzuschicken, er wolle dem Burschen auf dem Schimmel reiten und mit dem Jagdgewehr schießen lassen, das müsse ein tüchtiger Jüngling verstehen.

»Ist das nicht zu lustig?«, fragte die Witwe ängstlich.

»Frau Martha«, versetzte Zachar und verneigte sich wieder tief, »das Spielen mit hölzernen Rösslein und Papierkapseln ist freilich lustig, aber das Reiten auf einem lebendigen Pferd und das Schießen auf Hühner, Geier und Füchse ist was ganz Ernstes und hat schon manchen Tollkopf zum ruhigen Mann gemacht.«

»O bitte, da nehmen Sie, bitte Franz, so oft Sie wollen, hinüber!«, bat Frau Martha. Sie lüftete nun wirklich den Schleier ein wenig und lächelte Herrn Zachar lieblich an.

»Sie sollen es nicht bereuen!«, antwortete der Zauberer.

Berta ließ zwei Tassen und einen Teller fallen, als sie hörte, Franz wolle zum Nachbarn hinüber. »Das kommt nicht gut heraus«, meinte sie, »aber ich habe nichts zu sagen! Ich bin ja nur ein Mägdlein, wer hört auf mich?«

So begann Fränzels Kameradschaft mit dem Zauberer. Der Bube lernte reiten, zuerst um das Haus, dann über die Wiese, endlich durch das kleine Tal hinunter. Zachar ritt auf einem Rappen mit. Immer wenn sie unten im Tal umkehren mussten, sagte er: »Das ist eben nicht weit, ein Kindersprung! Du bist aber schon ein junger Mann! Man müsste aus diesem Loch hinausreiten. Du würdest große Augen machen! Welch eine Welt! Welche lange Straßen, welche Ströme und Brücken, welche Weite der Landschaft! Tagelang könnte man galoppieren und käme doch an kein Ende.«

»Ach, ich möchte wohl dort reiten!«, sagte dann Franz eifrig.

Wenn sie im Wald einen Hasen schossen, brummte Zachar, so ein Hase sei gar nichts. Draußen in der Welt jage man nach Hirschen und Ebern. Da zittere die Au von dem Getrappe der Rosse, die Hörner schallen Tralali und die Wälder seien voll süßer Quellen und blauer Beeren.

Und wieder seufzte Franz: »Ach, ich möchte wohl dort einmal jagen!«

Dann zeigte Zachar Muschelkästlein, in denen man durch ein farbiges Glas Städte und blaue Seen, Eisenbahnen, ein ganzes Heer von schöngekleideten Menschen und Militär mit Mützen und Helmen und fliegender Fahne sah. Wenn Franz das Ohr an die Muschel hielt, so hörte er deutlich das Musizieren, das Rauschen der seidenen Kleider und das Kommandieren der Generäle.

Von nun an gefiel ihm das Dorf nicht mehr. »Wie langweilig ist es hier!« jammerte er. »Selbst der Sonne ist es zu langweilig, und darum geht sie so schnell von uns weg. Hier ist zu wenig Sonne!« Er mochte nicht mehr mit den Kameraden arbeiten und spazieren gehen, dafür las er in Zachars Büchern, aus welchen es lockte und rief: »Fahr in die Welt, Franz, die Welt ist schön, die Welt ist groß, und du bist jung, hübsch, flink und reich. Drum fahre in die Welt! Hier versauerst und vertrauerst du.«

»Mutter, lass mich fort, Zachar wird mich begleiten!«, bat er.

»Ja, liebe Frau«, unterstützte Zachar den Jüngling, »lassen Sie ihn fort, er hat die Unruhe in den Sohlen, die lassen Sie ihn ausstampfen.«

Aber Frau Martha wollte nichts davon wissen. »Das ist zu lustig für Franz«, sagte sie.

»Ei was, zu lustig?«, fragte Zachar. »Hier im Dorf ist es zu lustig, hier weiß man nichts von Not und Plage, aber die Welt, Sapperlot, das ist eine furchtbar ernste Sache. Da sähe Franz, wie die Menschen sich schinden müssen und leiden und seufzen. Da haben Tausende das Lachen verloren.«

»Sagt lieber den Frieden«, sagte Berta, die gerade den Mittagstisch deckte. »Die Ruhe haben sie verloren und dafür die Unruhe heimgebracht.«

»Du hast da nichts hineinzureden«, gebot Frau Martha und lud den Nachbar ein, mit ihnen zu Mittag zu essen. Als man die Suppe mit den Knödeln ausgelöffelt hatte, widersprach die Witwe den Bitten der Abreise nur noch halb, nach dem Gänsebraten nickte sie schon ein wenig, und als sie gar noch ein Spitzglas Wein getrunken hatte, sagte sie: »Ja, ja, Herr Zachar, ich sehe, Sie meinen es gut mit Franzel. So reisen Sie denn und bringen sie mir den Jungen als einen ernsten Burschen mit!«

»Wie eine Mutter will ich für ihn sorgen«, versprach der Zauberer ernst. Aber seine Schadenfreude, dass er Franz endlich in die wilde Welt werfen und so das Dorf langsam verderben könne, war so groß, dass er ein böses Lächeln in den Augenwinkeln nicht verstecken konnte.

Das sah Berta. Ihr war Franz so lieb! Traurig ging sie in die Küche und weinte. Sobald aber Zachar mit Franz aus dem Tal geritten war, stand sie hin vor Frau Martha und sprach: »Ihr seid eine schlechte Mutter und Euren Sohn habt Ihr dem Teufel gegeben!«

Da wurde die Witwe zornig. »Du willst klüger sein als ich, so eine gescheite Magd kann ich nicht brauchen!«

Da packte Berta ihr Bündel zusammen und ging zu ihrer Base, einer Kräuterfrau im Wald, die viel Geheimnisse für Leib und Seele kannte. Ihr erzählte sie die Geschichte von Franz und Zachar. »Hilf mir, gute Frau!«, schloss sie.

»Du musst ihnen nachjagen«, meinte diese, »sonst kommt es schief heraus.«

»Aber ich bin arm und ungeschickt«, jammerte das Mägdlein.

Da steckte ihr die Base einen goldenen Ring an den Finger und sprach: »Das ist ein Zauberring. Küsse ihn und sogleich werden deine Wünsche erfüllt. Probiere nur!«

»Ich möchte ein schmucker Reiter sein«, wünschte Berta und küsste den Ring.

Sogleich war sie in einen prächtigen Jüngling verwandelt, mit kurzem Haar, weißen engen Reithosen, mit Sporen und Gurt und Federhut wie ein Ritter. Vor der Tür wieherte ungeduldig ein Ross.

»Nun reite den zwei nach!«, befahl die Base und stieß Berta hinaus. »Gott mit dir!«

Darauf galoppierte der junge Ritter von dannen. Er küsste den Ring und siehe, da war er schon weit draußen auf einer staubigen Straße und sah vorn zwei Reiter, den Zachar auf dem Rappen, Franz auf dem Schimmel. Er holte sie ein, grüßte und fragte höflich, ob er in ihrer Gesellschaft reiten dürfe.

Zachar runzelte mürrisch die Stirn. Aber Franz sagte freundlich: »Ja.«

Die Reiter erkannten Berta nicht. Nur Zachar schnüffelte mit der Hakennase, als rieche er etwas. Die Sonne brannte, der Staub flog um Nase und Augen und die Rosse trabten müde und hingen ihre Zunge heraus.

»Wie heiß es ist!«, klagte Franz.

»Wir sind bald am Ziel!«, versprach Zachar. »Dort der blaue Streifen ist das Meer, und wo der graue Nebel liegt, da ist die Stadt. Dort gibt es schattige Hallen, und der Seewind fährt frisch vom Wasser her in die Gassen.«

»Auch ich bin müde«, sagte der verwandelte Reiter, »aber die Stadt liegt noch weit!«

»Bis Mittag sind wir dort!«, verhieß Zachar und murmelte leise einige Zauberworte. Da schienen die Bäume und Zaunstecken viel schneller am Weg vorbeizufliegen.

»Nein, vor Abend kommen wir nicht an«, widersprach Berta und küsste den Ring. Da war es, als ob jener blaue Streifen sich gar nicht näher bewege, die Sonne immer heißer, der Staub dicker und Mensch und Pferd müder wurde. Baum und Hag wollten gar nicht vorbei.

»Jetzt möchte ich hinter dem Berge liegen«, fuhr Berta fort, »dort ist es kühl und schattig. Daheim sitzen jetzt die Brüder im Dorf unter den Bäumen oder am Brunnen. Und wir verschmachten schier.«

Da seufzte Franz und blickte fast zornig auf Zachar. Zum ersten Mal dachte er leise, ob er nicht besser getan hätte, daheim zu bleiben.

Todmüde kamen sie abends spät in die große Stadt, und Berta verabschiedete sich. Einige Wochen lebte nun Franz in Saus und Braus. Nie dachte er an sein Dorf und Mütterlein zurück. Die Läden voll Schmuck und Süßigkeiten, die Brunnen mit Drachen und Geiern aus Marmor, die Paläste und Türme, das lärmende Volk, die wunderbaren Theater, das Meer mit seinen Schiffen und Muscheln, die Musik, das Militär und der Ball beim König, o wie schön war das alles, besonders der Ball. Da sah er verschiedene niedliche Jüngferchen, die trugen Schuhe, fast so klein wie Mandelschalen, und das Haar saß wie eine goldene Krone auf dem Haupt aufgebunden. Wie Morgengewölk flatterte es von Spitzen und Schleiern. Eine war besonders schön. Schneeweiß war ihr Gewand, und ihr Gesicht glich ganz dem Mägdlein zu Hause. Ihre Händchen waren wie aus Elfenbein und der Hals schoss wie ein Lilienstängel aus dem Kragen. Wenn sie lachte, knospete der Mund auf wie eine kleine dunkelrote Rose. Neben diesem Fräulein gefielen Franz die anderen Damen nicht mehr. Er tanzte nur noch mit ihr und fragte, als er sie hinter einige große Blumenstöcke gezogen hatte: »Bist du eine Tochter aus der Stadt?«

»Nein«, sagte sie traurig, »ich bin aus einem geringen Dorf.«

»Ach«, erwiderte er, »wo du daheim bist, muss es schöner sein als in diesem Königshaus.« »O, ja, ich möchte gern wieder heim, dort bin ich glücklich!«, sagte sie. Eine wasserhelle Träne blitzte aus ihrem Auge.

Da küsste er ihre Fingerspitzen und wollte schon sagen: »Befiehl, und ich führe dich heim.«

Zachar trat hinzu und befahl: »Komm, Franz, der König will dich sehen.«

Aber, als sich Franz an diesem Abend zu Bett legte, dachte er noch lange an seine Berta daheim, der das Fräulein so sehr glich. Draußen rumpelten die Wagen durch die Straßen und die frechen Laternen schienen ihm grell ins Zimmer. Da erinnerte er sich an sein ruhiges Dorf, an die liebe Mutter, an die dunklen Tannen hinter dem Haus, und wie er dort in seiner Kammer nur den Wald rauschen und den Brunnen schwatzen hörte. Viel seliger schlief er ein. Es war ihm, als müsse er wieder heim zur Mutter springen, ihr noch einen Kuss geben und ihr Gute Nacht sagen. Als er einschlief, da sah er im Traum die Mutter mit beiden Armen nach ihm langen. Sie trug nun einen noch längeren und dichteren Schleier.

In den nächsten Tagen verlor er das Heimweh wieder, denn Zachar fuhr mit ihm auf das Meer hinaus. Sie landeten auf einer grünen Insel und bestiegen dort einen Berg, an dem die blauesten Trauben bis an den Gipfel hinaufwuchsen. Dann jagten sie in großen Wäldern, machten manches Fest mit und kehrten nach einigen Monaten wieder in einer großen Stadt ein. Da speisten sie in einem Garten, wo Grafen und adlige Frauen an Marmortischen saßen und Torten und süße Früchte aßen. Hinter dem Laub der Zitronenbäume spielte eine Musikkapelle wunderbare Lieder. Zachar plauderte und spaßte köstlich, und Franz, der in den letzten Tagen wieder Heimweh gehabt hatte, lachte sich aus und sagte: »Hier ist gut sein.«

Aber plötzlich wurde er ganz bleich und machte Pst!

Die Musik schwieg und ein einzelner Trompeter blies nur noch. Aber welch ein Lied! So einfach, so süß und traut! Man bekam Heimweh, wenn man es hörte. Es war nichts von der Stadt darin, sondern man glaubte in diesem Lied das Dorf zu sehen, seine Glocken und Brunnen, seine Linden und Kinder zu hören. Franz kannte das Lied. Wie oft und wie schön hatte es daheim Berta gesungen:

Ich habe es nicht gern, es tut mir leid,
meine Heimat ist fern, meine Mutter ist weit,
schon lange Zeit, schon lange Zeit!

»Wer ist der Trompeter«, fragte Franz, »ich will ihn sehen!«

»Ein fremder Künstler«, antwortete der Kellner, »niemand kennt ihn.«

Zachar fasste Franz am Ärmel, aber der Jüngling riss sich los und stürzte durch die Bäume zur Musikkapelle. Dort stand der Bläser. Es war ein Jüngling, den er nicht kannte, und der ihm doch so bekannt vorkam. Man sollte meinen, es wäre Bertas Bruder, dachte der arme Franz, und sein Auge wurde nass.

»Gehen wir fort«, befahl er Zachar zornig, »hier mag ich nicht bleiben, ich habe genug von der Stadt!«

»Was willst du denn?«, fragte der Zauberer ärgerlich. »Auf die Jagd?«

»Die ist mir verleidet!«, sagte Franz.

»Aufs Meer?«

»Das kennen wir schon.«

»Ins Theater?«

»Das ist erlogenes Zeug! Heim möcht ich, Zachar, heim!«

Da blitzte es im Auge des Zauberers furchtbar. Doch gleich lächelte er wieder und spottete: »Heim? Dass dich die Leute auslachen und die Knaben rufen: Peter in der Fremde?«

An diesem Abend ging Franz noch trauriger als das erste Mal schlafen. Halb fürchtete er sich vor Zachar, halb schämte er sich vor seinem Dorf, schon heimzukehren. Aber im Traum sah er die Mutter wieder, wie sie die Arme nach ihm streckte und unter dem Schleier hervorrief: »So komme doch heim, Franz, komme!« Als er erwachte, war sein Kopfkissen ganz nass vom Weinen. Er kehrte es um und sah dabei, wie der Mond hell ins Zimmer sah. Schon wollte er sich wieder niederlegen, da hörte er vor der Tür ein heftiges Schluchzen. Was ist das, da weint noch jemand, dachte er, schlüpfte in die Hosen und trat auf den Gang hinaus. Hier saß an einem kleinen Tisch ein Kammermädchen mit weißem Häubchen und deckte mit ihren feinen Händen das Gesicht und weinte bitter. Die Kerze auf dem Tischchen war bis auf das Stümpfchen verbrannt. Aber der Mond leuchtete vom Gangfenster über ihr helles Haar und ihre weichen Finger.

»Was ist dir?«, fragte Franz mitleidig.

»Ach, du kannst mir doch nicht helfen!«, jammerte die Kleine durch die Finger hindurch.

»Vielleicht doch, wer weiß!«, ermutigte Franz das Mädchen.

»So gib mir meine Mutter, mein Dörfchen zurück!«

»Deine Mutter? Dein Dorf? Das hab ich beides ja selber auch verloren!«, rief Franz.

»So bist du auch so arm wie ich«, klagte das Mädchen und nahm die Hände vom Gesicht.

Franz sah das liebliche Köpfchen Bertas vor sich. »Berta, bist du es wirklich?«, rief er voll Freude, umarmte und herzte sie. Es war ihm, als habe er schon die halbe Heimat gefunden.

»Ja!«, gestand das Jungfräulein und wurde ganz rot. »Ich bin dir nachgelaufen, um dich dem Zauberer zu entreißen. Ich kam zu dir als Ritter, als Hoffräulein, als Musikant und jetzt als Zofe. Aber nun kann ich nicht mehr. Ich habe Heimweh. Ich muss zurück.«

»Ich auch«, sagte Franz schnell, »fliehen wir miteinander, jetzt sogleich!«

Sie kleideten sich um und schlichen leise, damit Zachar nicht erwache, aus dem Gasthof. Fest hielten sie einander an den Händen. Berta küsste den Ring. Da wich der Boden unter ihnen, es war, als wären sie Vögel. Sie schwebten hoch über den Türmen und Dächern der Stadt aufs Land hinaus. Bald lag die Stadt im Nachtnebel weit hinter ihnen. Tief unter ihnen gingen breite Ströme vorbei, gelbe Kornfelder, dunkle Wälder. Hier und da hörten sie einen Nachtwächter oder einen Stundenschlag von den Dörfern herauf. Endlich sah man die Berge. Immer deutlicher, immer größer wurden sie. Schon hatten die zwei ihren blauen Schatten erreicht.

»Jetzt ist’s nicht mehr weit«, flüsterten sich die beiden lustig zu.

In dieser Nach konnte Frau Martha nicht mehr schlafen. Schien der Mond zu hell? Oder fürchtete sie sich in ihrem öden Haus? Ach ja, ihr ist nicht wohl so allein. Wie oft hatte sie schon nach ihrem Knaben und nach dem Mägdlein geweint! Die Dorfleute haben ihr erzählt, welch ein Zauberer Zachar sei, wie er das Dorf mit dem Schulhaus in Zank bringen, den Lehrer mit giftigen Büchern verderben wollte und nun ihrem Franz nach und nach den Kopf verdreht habe. »Nun sieh zu, wie du das wieder in Ordnung bringst!« sagten sie. »Das brave Bertelchen hast du auch fortgejagt. Eigentlich geschieht dir recht, dass du jetzt allein bist und weinen musst!«

Frau Martha fiel fast zu Boden, als sie das hörte. Dann zog sie den Schleier vor Scham noch tiefer ins Gesicht hinunter und weinte heftiger als am Sarg ihres Mannes. Nachts stand sie bei jedem Glockenschlag auf, öffnete die Fenster und rief bald dem Mägdlein, bald dem Franzel. Wie gerne hätte sie die beiden wieder lachen gehört in ihrem einsamen Haus! Dann lief sie wieder die Treppen hinunter und tat die Haustür auf, als müssten ihre beiden Lieben hereinkommen.

Aber in dieser mondhellen Nacht hatte sie auch gar keine Ruhe. Immer wieder stand sie auf und lief im Zimmer herum. Jeden Augenblick meinte sie, es habe geläutet. Plötzlich sah sie ein Licht drüben im Haus des Zachar aufblitzen. Was ist das?, dachte sie erschrocken. Wer wohnt jetzt da drüben?

Inzwischen waren Franz und Berta leise in den Garten geschlichen und hatten sich auf das Bänklein unter dem Apfelbaum gesetzt. Sie wollten die Mutter nicht wecken. Da sie großen Durst von der Reise bekommen hatten, so schüttelte Franz einen runden Apfel herunter. Bald biss er, bald Berta ein Stück davon ab, gerade wie sie einst am Dorfbrunnen es gemacht hatten. In diesem Augenblick erblickte sie die schlaflose Witwe von ihrem Kammerfenster und stieß einen mächtigen Freudenschrei aus. Wie ein Bube rannte sie die Stiege hinunter, riegelte das Tor auf und fiel Berta und Franz um den Hals. Sie lachte und weinte vor Glück durcheinander.

»Daheim, daheim«, jubelte Franz, »jetzt ist mir wieder wohl.«

»Aber«, sprach Berta schelmisch, »ist hier nicht zu viel Schatten?«

Doch Franz hielt ihr das Mäulchen zu und rief: »Oh, wir haben schon genug Sonne, wenn du bei uns bleibst!«

In diesem Augenblick zuckte drüben bei Zachar das Licht grün und schwefelgelb wie ein Blitz auf und erlosch. Es war, als sei es in die Erde gefahren.

»Das ist Zachar, der Teufel«, sagte Franz ruhig. »Aber ich fürchte ihn nicht mehr. Ich bin ja daheim! Hier hat er keine Gewalt über uns.«

Von nun an lebten die drei im Frieden ihres Hauses und Dorfes glücklich beisammen. Frau Martha hatte den Schleier in die hinterste Ecke ihres Kleiderkastens gehängt und zeigte nun allen Leuten ihr noch immer hübsches Witwengesicht.

»So lacht doch wieder einmal!«, sagte sie oft zu Franz und Berta, wenn es ihr zu still im Hause wurde.

Lange war das Zacharhaus verödet und fing an abzubröckeln. Spinnen und Gedörn umzogen sein Gemäuer. Da rissen die Schattendorfer endlich das Gestrüpp aus, reinigten und bauten das große Haus um und machten ein schönes, helles Schulhaus daraus. Jeden Morgen und jeden Nachmittag sah man Bubenschöpfe und Mädchenzöpfe aus seinen vierundzwanzig blanken Fenstern gucken, bis die Hand des Lehrers ein Ohrläppchen oder eine Haarschleife packte und die vorwitzigen Leutchen zur Wandtafel kehrte.

»Daheim bleiben«, sagte er dann regelmäßig, »nicht immer in die Fremde schweifen.«

Ei, wie bekannt ist uns seine Stimme! Aha, das ist ja der Franzel! Schullehrer ist er geworden und eben lässt er seine Schüler singen: In der Heimat ist es schön! Da klopft es an der Tür. Sein Weibchen, die lustige Berta, steht draußen und fragt: »Willst du zu Mittag lieber Äpfelküchlein oder eine Mandeltorte, Männchen?«

»Äpfelküchlein«, sagt schnell Franz, »denn die Äpfel sind in unserem Dorf gewachsen.«

Nach einer Viertelstunde schmort und duftet es aus der Küche, dass einem das Wasser im Munde vor Appetit zusammenläuft. Aber auch aus den anderen Küchen riecht es nach würzigen Suppen und saftigen Fleischtöpfen. Und danach geht es wieder an ein fröhliches Arbeiten und abends wird auf den Gassen gesungen. So lebt man heute noch im Schattendorf und ist mit Sonne und Schatten gleich zufrieden.