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Der Welt-Detektiv Band 6

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Geisternächte

I

Die Glöck­chen klirr­ten hell in der Nacht, als Spin, kei­nen Stein­wurf von uns ent­fernt, end­lich auf­tauch­te und – um sei­ne An­kunft zu be­kun­den – ei­nen Sal­to in der Luft schlug. Als er wie­der lan­de­te, ver­san­ken sei­ne Füße in den spit­zen lan­gen Schu­hen bis über die Wa­den im fri­schen spur­lo­sen Schnee. Sein Grin­sen schien noch blö­der als sonst.

»Dann wä­ren wir wohl voll­zäh­lig«, ließ sich Ig­na­ti­us ver­neh­men.

Wir – das war eine An­samm­lung von drei­zehn Ge­stal­ten, de­ren Ge­sich­ter so bleich wa­ren wie der kürz­lich ge­fal­le­ne Schnee. Die Auf­merk­sam­keit al­ler war nun auf Spin ge­rich­tet: Sein Ge­sicht war so lang wie sei­ne Ge­stalt, das Kinn her­vor­ste­chend und eckig, an eine Ka­ri­ka­tur des Mon­des er­in­nernd. Sein ewig la­chen­des Ge­sicht er­weck­te be­reits jetzt wie­der den Drang, ihm die Faust zwi­schen die Zäh­ne zu set­zen – ob­wohl ich Spin ei­gent­lich ganz gut lei­den moch­te. Mit sei­ner lan­gen Ha­ken­na­se er­in­ner­te er (zu­sätz­lich zu sei­ner Art, sich zu klei­den) noch mehr an ei­nen Har­le­kin.

»Tut mir leid. Ich wur­de auf­ge­hal­ten. Ein paar Kin­der hiel­ten mich wohl für den Weih­nachts­mann. Ich konn­te nicht an­ders, als ih­nen den ei­nen oder an­dern Wunsch zu er­fül­len.«

Plock und Wha­cker ki­cher­ten, wäh­rend der Rest schwieg und so den Miss­mut über Spins Ver­hal­ten zum Aus­druck brach­te. Wir wuss­ten alle, was er un­ter Wunsch­er­fül­lung ver­stand, und wie schwer es ihm fiel, sich in sol­chen Sa­chen im Zaum zu hal­ten. Trotz­dem war es nicht ge­ra­de die fei­ne Art, bei ei­nem sol­chen An­lass wie heu­te nicht pünkt­lich zu sein.

»Du bist spät«, sag­te Kau­sus mit dunk­ler, ru­hi­ger Stim­me. Sei­ne Mi­mik blieb un­ge­rührt, aber sei­ne Wor­te hat­ten ei­nen un­heil­schwan­ge­ren Un­ter­ton. Er war ein Per­fek­ti­o­nist, schlim­mer noch als Pri­mus. Kau­sus hat­te sich in ei­nen al­ten grau­en An­zug ge­klei­det, sei­ne dunk­len Haa­re wa­ren zu­rück­ge­kämmt und sa­hen ge­leckt aus; als wür­den sie mit Gel an ih­rem Platz ge­hal­ten. Sei­ne Wan­gen hat­ten nicht nur die Far­be ei­nes wei­ßen Lei­nen­tuchs, son­dern auch de­ren Glät­te. Nur ein sorg­fäl­tig zu­recht­ge­stutz­ter Ober­lip­pen­bart zier­te sein Ge­sicht, wel­ches mit den wei­chen Li­ni­en zu we­nig mar­kant war, um auf­zu­fal­len, aber zu we­nig rund, um fett oder auf­ge­dun­sen zu wir­ken. Sein Ver­hal­ten war das ei­nes schlei­mi­gen, al­les wis­sen­den Ab­tei­lungs­chefs, und sei­ne Hal­tung und Er­schei­nung dem ge­mäß an­ge­passt. Fast wie aus ei­nem Bil­der­buch ge­schnit­ten.

»Ich sag­te doch, es tut mir leid.« Spin gab sich pi­kiert, aber das nicht aus sei­nem Ge­sicht zu brin­gen­de Grin­sen sprach sei­ner Wor­te Hohn. Die Ant­wort der an­de­ren An­we­sen­den be­gnüg­te sich in ei­nem un­freund­li­chen Mur­ren.

»Kön­nen wir nun los le­gen?« Plock sprang im Schnee auf und ab – Wol­ken des pulv­ri­gen Ele­ments sto­ben um ihn he­rum auf. Plock war ku­gel­rund, ohne jeg­li­che Über­trei­bung, und der Kleins­te von uns al­len, mit Aus­nah­me von Wha­cker. Sei­ne – im Ver­gleich zum Kör­per klei­nen – feis­ten Ärm­chen stan­den zu bei­den Sei­ten hin ab und wur­den ge­ra­de durch die Luft ge­schleu­dert wie gum­mi­ar­ti­ge Ten­ta­kel. Er hat­te sich in ein oran­ge­far­be­nen en­gen Dress ge­zwängt und ei­nen wein­ro­ten Man­tel um­ge­hängt. Sei­ne Füße steck­ten in schwar­zen Stul­pen­stie­feln. Sein Ge­sicht mit dem Mond zu ver­glei­chen, hät­te dem Erd­tra­ban­ten zur Schan­de ge­reicht; eher glich Plocks Kopf ei­nem Ball Moz­za­rel­la. Selbst sei­ne Haut hat­te eine tei­gi­ge, kä­si­ge Kon­sis­tenz. Ich weiß nicht, was Pri­mus an die­ser ab­so­lut lä­cher­li­chen Ge­stalt ge­fun­den ha­ben moch­te, und ich ver­ste­he auch nicht, war­um Kau­sus ihn noch wei­ter zu­lässt, nach­dem Pri­mus nicht mehr ist. Alte Ge­wohn­hei­ten las­sen sich schlecht ab­le­gen, neh­me ich an.

Pri­mus. Er war der Ini­ti­ant die­ser Sa­che ge­we­sen. Wenn man Kau­sus mit dem Ty­pus des aal­glat­ten Ver­tre­ters oder Händ­lers er­fas­sen kann, so hat­te auf Pri­mus das We­sen des Gen­tle­mans par ex­cel­lence zu­ge­trof­fen. Er hat­te im­mer wei­ße Hand­schu­he ge­tra­gen, zu je­der Ge­le­gen­heit, und war stän­dig in ei­nem dunk­len An­zug er­schie­nen, mit wei­ßem Hemd und ei­nem Zy­lin­der. Auch er hat­te sich, wie Kau­sus, stän­dig ge­pflegt ge­zeigt, wenn ihm auch die un­an­ge­neh­me und über­le­ge­ne Aus­strah­lung Kau­sus’ fehl­te, durch die sich je­der in die Ecke ge­drängt fühl­te, der mit Kau­sus an­ei­nan­der­ge­riet. Pri­mus war ein groß­ar­ti­ger und fei­ner Mann ge­we­sen, ein Mann mit Geist und Vers­tand, aber auch mit Vi­si­o­nen. Dum­mer­wei­se aber auch je­mand, der He­raus­for­de­run­gen nicht wi­derste­hen konn­te. So war ihm seit dem letz­ten Tref­fen ein Schach­spiel zum Ver­häng­nis ge­wor­den. Und der Hir­te war nie­mand ge­we­sen, der mit sich spa­ßen (oder han­deln) ließ. Au­ßer­dem war Pri­mus im­mer ein fai­rer Spie­ler ge­we­sen – Kau­sus hät­te viel­leicht ver­sucht, sich aus der Mi­se­re raus zu win­den, aber Pri­mus’ Art war aus dem Holz ge­schnitzt, die zu ih­rem Wor­te stand.

»Haaaaal­lo! Sind wir wach?«

Spin hat­te sich zu mir ge­sellt, den Dau­men hin­ter den Schel­len­gurt um sei­ne Hüf­ten ge­hakt, des­sen Glöck­chen nun zu­sam­men mit de­nen an den bei­den Bänd­chen um sei­ne Knö­chel um die Wet­te klin­gel­ten, wäh­rend er auf­ge­regt und über­dreht auf und ab wipp­te. Er trug ei­nen gelb­lich wei­ßen wat­tier­ten Geh­rock und grü­ne, eng an­lie­gen­de Ho­sen. Auf sei­nem Kopf wa­ckel­te eine schnee­wei­ße Kap­pe, die in drei Zip­feln en­de­te, von de­nen je­der eben­falls mit je­weils ei­ner Schel­le be­stückt war. Er grins­te wei­ter­hin; et­was, wor­an ich mich nie ge­wöh­nen wer­de. Sei­ne Au­gen wa­ren groß und rund und di­rekt auf die un­te­re Par­tie mei­nes Ge­sichts ge­rich­tet. Sein Ge­bim­mel und die Wor­te hat­ten mich aus den Ge­dan­ken ge­ris­sen, und ich wand­te mich an ihn.

»Wir sind.«

Die knur­ren­de Stim­me des Tie­res ant­wor­te­te syn­chron mit mei­ner, ver­misch­te sich mit ihr und gab ihr die­sen hal­len­den Klang, den die an­de­ren so be­wun­der­ten.

Wir stan­den auf ei­nem lich­ten Platz im Wald, auf dem sich, ein­ge­schlos­sen von ih­ren Art­ge­nos­sen in ei­nem Kreis mit ei­nem Ra­di­us von etwa hun­dert Me­tern, vier ver­ein­sam­te Tan­nen aus der Schnee­de­cke gen Him­mel reck­ten. Es war Nacht, und der wei­ße Schnee re­flek­tier­te und streu­te das fah­le Licht des Mon­des über den Ort. Wol­ken zo­gen ei­lig über den Him­mel, so schnell, als wür­den sie wie Scha­fe von ei­nem Hir­ten (oder des­sen Hund) ge­trie­ben. Ab und zu schaff­te es der dunk­le Fels von gro­ßen Stein­klöt­zen, aus dem glit­zern­den Tuch aus Eis­kris­tal­len zu gu­cken. Sie ka­men mir vor wie Wür­fel, die ein Gott über die Wie­se ge­wor­fen und dann acht­los lie­gen ge­las­sen hat­te.

Cyr­rhus Rho und Cyr­rhus Mu sa­ßen auf sol­chem Ge­stein, die Arme eng um­ei­nan­der ge­schlun­gen, und sa­hen zum Rest der Grup­pe hi­nü­ber, der sich in der Mit­te des Plat­zes in ei­ner klei­nen Kuh­le kreis­för­mig ver­sam­melt hat­te. Die bei­den Zwil­lin­ge hat­ten sich in wei­ße To­gen ge­klei­det, und da­run­ter tru­gen sie nichts, wie ich ver­mu­te­te. Cyr­rhus Rhos Hand ver­schwand un­ter dem Stoff, der sich über Mus Ober­kör­per spann­te. Ich frag­te mich ein­mal mehr, ob die Be­zie­hung der bei­den nicht ein we­nig tie­fer ging als bloß ge­schwis­ter­lich zu sein. Ihre blas­sen, kränk­li­chen Ge­sich­ter mit den dunk­len tie­fen Au­gen und den schma­len Lip­pen, um die ein ge­heim­nis­vol­les Lä­cheln spiel­te, gli­chen wie ein Ei dem an­de­ren.

Wie­der be­wun­der­te ich Pri­mus’ Aus­wahl der Meu­te so grund­ver­schie­de­ner Geis­ter, die er um sich ge­scharrt hat­te. Und noch mehr sei­ne Ge­duld und das Ta­lent, mit der er jede Es­ka­la­ti­on schon im Vo­raus ver­ei­telt hat­te. Ich frag­te mich, wie sich Kau­sus als neu­er Füh­rer ma­chen wür­de. Ich woll­te mei­nen Vor­ah­nun­gen kei­nen Vor­schub leis­ten, aber das Tier zerr­te an sei­nen Fes­seln und woll­te mich zur Flucht ver­lei­ten. Wä­ren mei­ne In­stink­te nicht von Vers­tand und Ver­nunft un­ter­drückt wor­den, hät­te ich ih­nen wohl nach­ge­ge­ben. Welch Iro­nie! Der Mensch siegt über die Bes­tie und un­ter­drückt sie, nur um zwi­schen den Mahlstei­nen gött­li­cher Ge­rech­tig­keit zer­rie­ben zu wer­den.

»Mir ist kalt«, mel­de­te sich La­via zu Wort, ih­ren Blick, mit lei­den­schaft­li­cher Glut er­füllt, auf Ig­na­ti­us ge­rich­tet. Ihr dunk­les Haar, wel­ches ihr tief in den Rü­cken fiel, be­ton­te die Bläs­se ih­res Ge­sich­tes noch. Ihre Au­gen wa­ren so dun­kel wie die von Cyr­rhus Rho und Cyr­rhus Mu, aber sie schim­mer­ten viel le­ben­di­ger und ver­rie­ten ihr feu­ri­ges Tem­pe­ra­ment. Ihr Ge­sicht war grob wie das ei­ner Bau­ern­toch­ter, und ihre Ge­stalt bot sich drall den Bli­cken der Män­ner dar. Sie hat­te sich ganz in Grün ge­klei­det – hät­te sie sich für Rot ent­schie­den, hät­te man sie für die rei­fe­re Ver­si­on von Rot­käpp­chen hal­ten kön­nen.

Ig­na­ti­us, der ihre Auf­merk­sam­keit mit ei­nem Blick er­wi­der­te, der ihr an­deu­ten soll­te, er kön­ne ihre ge­heims­ten Wün­sche le­sen, hat­te sich da­ge­gen an die Far­be des Feu­ers und der Lie­be ge­hal­ten und sich in eine Robe die­ser Cou­leur ge­wor­fen. Sein Bart war sau­ber aus­ra­siert und zog sich in ei­ner dün­nen Li­nie über die Li­nie sei­nes Un­ter­kie­fers hin zum Kinn, wo er in ei­nem Spitz­bärt­chen en­de­te. Sein hell­brau­nes Haar, wenn auch ge­kämmt, streb­te nach ver­schie­de­nen Sei­ten.

»Dann lass uns et­was da­ge­gen un­ter­neh­men.«

La­via ki­cher­te ent­zückt ob sei­ner Ant­wort und zog ihre Hau­be vom Kopf, die sie acht­los in den Schnee fal­len ließ. Sie nestel­te an ih­rem Jäck­chen rum, wäh­rend Ig­na­ti­us sie am Arm fass­te und von der Grup­pe weg führ­te, je­doch nicht un­serm Blick­feld ent­zog.

Spin seufz­te.

»Kön­nen wir end­lich an­fan­gen?«

Kau­sus sah zu uns rü­ber, und er ver­dreh­te leicht die Au­gen; aber selbst in die­ser Mi­mik blieb das über­heb­li­che, wis­sen­de Lä­cheln auf sei­nem Ge­sicht bes­te­hen.

»Du weißt ge­nau, dass dies nicht in un­se­rem Er­mes­sen liegt. Wir müs­sen war­ten.«


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