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Der Stier von Ilsfeld

Der Stier von Ilsfeld

Er war groß, er war stark und er hatte, so man den mündlichen Überlieferungen Glauben schenkt, über dreihundert Männer erschlagen.

Wendel Stier, besser bekannt als der Stier von Ilsfeld, war schon zu Lebzeiten eine Legende.

Für mich Grund genug, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen, erst recht, als ich feststellen musste, dass es trotz seiner angeblichen hundertfachen Untaten selbst in den Weiten des www nur eine kümmerliche, vierspaltige Abhandlung über ihn gibt.

Also was tun?

Ein von Erik Raidt in der Stuttgarter Zeitung abgedruckter Artikel über diesen Mann, der vor knapp fünfhundert Jahren den Südwesten Deutschlands in Angst und Schrecken versetzte, brachte mich schließlich auf die richtige Spur.

Nach dem Lesen dieser Zeilen kann ich jedem interessierten Leser nur empfehlen, sich einmal in Stuttgart das Baden-Württembergische Landesmuseum anzusehen. Wer dort das Glück hat, Matthias Ohm, dem Experten für Münzen und Waffen zu begegnen, erfährt Dinge, die sonst kaum auf irgendwelchen Portalen zu finden sind.

So auch über Wendel Stier.

 

*

 

Gleich hinter dem Eingang des Museums, vorbei an Schwertern und Rüstungen, gibt es eine Vitrine, in der eines der letzten Zeugnisse von Stier zu sehen ist. Eine eiserne Maske mit Öffnungen für Augen, Nase und Mund. Man sieht ihr an, dass sie von einem Dorfschmied gefertigt wurde, sie ist ziemlich grob gearbeitet.

Diese und eine weitere Maske sind die beiden letzten noch verbliebenen Erinnerungsstücke an Stiers bewegte Leben. Zwar gab es in der Stuttgarter Rüstkammer, wie in einer 1736 erschienenen Beschreibung der Stadt erwähnt, noch sieben weitere solcher Stücke, ein halber Brustpanzer, zwei Oberschenkelschützer und vier Büchsen, aber diese sind aus unerfindlichen Gründen verloren gegangen.

Doch genug der Ausschweifungen, kehren wir zurück zum eigentlichen Thema.

Wendel Stier wurde um 1535 im Schefflenzer Tal, im heutigen Neckar-Odenwald-Kreis geboren. Sein Vater, ein Schäfer, wanderte fünf Jahre später nach Ilsfeld aus, einem Ort nahe Heilbronn. Wie Wendel aufwuchs, wer seine Mutter war oder ob er Geschwister hatte, bleibt bis heute im Dunkeln.

Als im Dreißigjährigen Krieg Soldaten brandschatzend und mordend durch das Land zogen, fielen viele Familienbücher dem Feuer zum Opfer.

Die nächsten Zeugnisse über Wendel Stier finden sich in Gerichtsakten wieder, wo nachzulesen ist, dass er bereits in jungen Jahren auf die schiefe Bahn geriet.

Warum, lag wahrscheinlich in der Hauptsache an der materiellen Not seiner Familie. Laut Ohms Fachwissen litten die Menschen, die im 16. Jahrhundert im Süden Deutschlands lebten, unter einer kleinen Eiszeit. Kalte Sommer und schlechte Ernten waren für viele Jahre die Regel. In der Unterschicht, also beim einfachen Landvolk, kam selten Fleisch auf den Teller. Die Menschen ernährten sich von Getreidebrei, Nüssen und Wildbeeren. Dazu tranken sie Wasser, das mit Alkohol versetzt wurde, weil es völlig verkeimt war.

In dieser Not scharte Wendel eine kleine Gruppe Gleichgesinnter um sich und ließ sich eben jene besagte Maske anfertigen, mit deren Hilfe er den Reichen und Adligen zwischen Stuttgart und Heilbronn binnen kürzester Zeit das Fürchten lehrte.

Für Matthias Ohm nicht weiter verwunderlich.

Wendel war schon von Natur aus für damalige Verhältnisse eine riesenhafte Erscheinung.

Zusammen mit seiner Eisenmaske, die zu seinem Markenzeichen wurde, und seinen Bärenkräften wurden er und seine Bande schnell zum Schrecken der Obrigkeit.

Im Nachhinein muss man allerdings sagen, dass Wendels Treiben ohne gewisse Umstände nicht möglich gewesen wäre.

Zum einen profitierte die Bande davon, dass das Land politisch völlig zersplittert war, was eine Strafverfolgung schwierig machte, weil die Räuber nach ihrer Tat sogleich in ein Gebiet flohen, wo ein anderer Lehnsherr und damit andere Gesetze herrschten. Zum anderen von der teilweise fast menschenleeren Gegend, die meistenteils von dichten, scheinbar undurchdringlichen Wäldern überzogen war.

Wer sich hier auskannte, hatte keine Verfolger zu fürchten.

Ein weiterer Grundpfeiler für Wendels erfolgreiches Treiben war, dass man die Straßenverhältnisse in seinem Wirkungskreis gelinde gesagt als katastrophal bezeichnen konnte. Die Räuber mussten nur so lange ausharren, bis es derart regnete, dass sich die Wege in Morast verwandelten, und dann warten, bis eine Kutsche vorbeikam.

Wenn dann noch ein Rad brach, gab es keine leichtere Beute.

Wenn die Räuber siegten, wurde das Diebesgut verteilt.

Traf es bei dem Überfall dann noch einen Adligen, war ihnen die Unterstützung der einfachen Leute gewiss. Die Schadenfreude dieser Menschen kannte keine Grenzen, wenn es wieder mal einen von da oben erwischt hatte.

Bedingt durch das harte, entbehrungsreiche Leben der Landbevölkerung mutierten solche kleinen, realen Ereignisse schnell zum Fundament der Legendenbildung. Das schillernde Leben Wendels fasziniert die Menschen noch heute. Seine Geschichte wurde über Generationen hinweg mündlich überliefert und seine Taten derart dämonisiert, dass noch im 18. Jahrhundert Notizen auftauchten, die ihn bezichtigten, mehr als dreihundert Menschen umgebracht zu haben.

Der Faktenlage entspricht das allerdings nicht, wie ich feststellen musste.

Trotz aller Schauergeschichten ist nur ein Mord Wendels aktenkundig, den dieser im Jahr 1565 im Landkreis Ludwigsburg in Großbottwar beging.

Sieben Jahre später wurde er gefasst und im Dezember 1572 in Gemmingen hingerichtet.

Also nichts mit Schlächter und vermeintlichem Massenmörder.

 

*

 

Summa summarum wieder einmal die Bestätigung, dass die Wirklichkeit weitaus unspektakulärer und nüchterner ist, als es uns die Überlieferungen und Legenden weismachen wollen.

Trotz aller Enttäuschung konnte ich dem Ganzen dennoch einen positiven Aspekt abgewinnen. Eine Sache, die vor allem für Familien mit Kindern interessant ist.

Seit dem 22. Oktober findet im Landesmuseum eine Mitmachausstellung über den wohl berühmtesten Ganoven im deutschsprachigen Raum statt.

Aber keine Angst, hierbeigeht es nicht um einen Gesellen, der es durch Mord und Totschlag zu zweifelhaftem Ruhm gebracht hat, sondern um einen Räuber, der mit einer Pistole, die mit Pfefferkörnern geladen ist, Kaffeemühlen stiehlt.

Sein Name ist Hotzenplotz!

Quellenhinweis:

  • Stuttgarter Zeitung, Ausgabe vom 6. Oktober 2018, Artikel von Erik Raidt in der Rubrik Geschichte
  • Matthias Ohm, Experte für Münzen und Waffenkunde im Landesmuseum Stuttgart
  • (gs)

2 Antworten auf Der Stier von Ilsfeld