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Im Goldlande Kalifornien 12

Sophie Wörishöffer
Im Goldlande Kalifornien
Fahrten und Schicksale Gold suchender Auswanderer
Zeitgemäß gekürzt von A. Flügel um 1930

Kapitel 6

Unsere Freunde hielten treulich Wacht an Felsings Schmerzenslager.

Schon nach wenigen Tagen erzählte Paul: »Ich lebte, wie Sie alle wissen, in Höllenfreude. Auch O’Flannagan mit feinen Gesinnungsgenossen hauste dort, sehr zum Ärger der Goldwäscher, die durch die Gegenwart dieses Gesindels fortwährend beunruhigt und in Aufregung gehalten wurden. Bald war hier ein Diebstahl verübt worden, bald dort. Um geringfügiger Ursachen willen gab es Mord auf offener Straße, Überfälle und Verfolgungen. Dabei arbeiteten O’Flannagan und seine Freunde nie wirklich. Sie wussten sich im Gegenteil immer durch Brandschatzungen aller Art, durch Raub und Plünderung über Wasser zu halten. Ich beobachtete sie ununterbrochen. Mir war die Warnung des Schlangenjägers im Gedächtnis geblieben. Ich konnte mich von der Furcht, dass O’Flannagan Böses im Schilde führe, nicht befreien. Zuweilen war dieser Anführer der Hound für mehrere Tage verschwunden. Ich schlich ihm einmal nach und fand, dass er im Haus des alten Davidoff verschwand.«

»O’Flannagan – unser Todfeind? Er, der geschworen hatte, Räuberstadt und seine Bewohner zugrunde zu richten?«

»Er selbst.«

Felsing seufzte.

Semen beugte sich freundlich über den Liegenden. »Regen Sie sich nicht auf, Sir«, bat er. »Das Sprechen greift Sie an.«

»Und gewiss könnten auch unsere freundlichen Helfer aus Höllenfreude statt deiner weiter erzählen, Paul.«

Vom Eingang her tönte die Stimme eines blonden, gutmütig aussehenden Mannes. »Sicherlich kann ich alles erzählen«, sagte dieser, »und vielleicht besser als Mister Felsing, der wohl kaum selbst berichten wird, wie sehr er sich für die Rettung dieser Stadt aufgeopfert hat.«

Felsing schloss die Augen. Er fühlte sich schwächer, als er zugeben wollte, jedenfalls aber ließ er es geschehen, dass jetzt statt seiner der Goldgräber aus Höllenfreude das Wort ergriff.

»Wir wohnten zusammen, Felsing und ich«, sagte dieser, »und wir konnten immer gut miteinander auskommen. An jenem Abend kam Paul in großer Unruhe nach Hause. ›O’Flannagan hat eine bedeutende Anzahl von Fackeln gekauft‹, sagte er. ›Das ist eine schlimme Geschichte. Ohne Zweifel soll Räuberstadt überfallen werden. Schlafen kann ich heute nicht, Brandt. Weißt du was? Ich lege mich in den Hinterhalt und beobachte diesen O’Flannagan?‹

›Schön‹, versetzte ich, ›so beobachten wir ihn zusammen.‹

Na, und was wir da sahen, das war wenig erfreulich. Das gesamte Lumpengesindel von Höllenfreude schlich auf Umwegen in die Baracke des Schotten, wohl an achtzig Kerle, die zu jeder Schandtat fähig waren, Mordgesellen und Banditen. Jeder von ihnen war bewaffnet. Sie marschierten denn richtig in der Richtung von Räuberstadt durch den Wald davon. Jeder Kerl trug ein halbes Dutzend Fackeln auf der Schulter. Wir schlichen ihnen nach. Als die Stadt erreicht war, sahen wir natürlich die Bescherung. Man entzündete die Fackeln, und das Verderben ging seinen Gang. Ich sage euch, Leute, ohne Felsings rasches Eingreifen wäre das Unglück zehnmal so groß geworden.«

Arsa jubelte laut. »weiter, Herr Brandt, weiter!«

»Na, ich denke, was nun folgt, das haben Sie ja zum größten Teil selbst mit durchlebt, junger Herr. Wir begaben uns zunächst zu den Rothäuten, Felsing und ich, um diese aufzurütteln, dann brachten wir die Frauen und Kinder hinauf zwischen die Berge. Felsing schrie immer laut, um alle Schlafenden zu wecken.«

»Das hörten wir!«, rief Arsa.

»Felsing zweifelte, ob es den Leuten von Räuberstadt möglich sein werde, gegen die Hound zu siegen«, fuhr der Goldgräber fort, »er war vor Unruhe fast außer sich. ›Ich habe einen Gedanken‹, sagte er endlich, ›es muss Hilfe aus Höllenfreude herbeigeschafft werden?‹

›Soll ich hinüberreiten‹, fragte ich.

Aber er schüttelte den Kopf. ›Ich tue es selbst – und Pataloc mit mir. Halte die elenden Hound eine Stunde lang in Schach, Brandt! Dann bin ich zurück.‹

Na – und so ist es denn auch geschehen. Wir haben alle unsere Schuldigkeit getan. Dann sah ich noch einen, der sich im Fluge mit dem jungen Herrn hier begrüßte. Ich kenne ihn nicht.«

»Prüfer!«, rief Arsa. »Er kam gerade im entscheidenden Augenblick von seiner großen Reise zurück.«

»Und hat tapfer mit zugeschlagen! Na, jetzt ist ja wohl der Feind für immer unschädlich gemacht.«

Noch an demselben Tag hielten die Väter der Stadt eine Beratung ab, wie den armen, unglücklichen Bewohnern am schnellsten in ihrer Not geholfen werden könnte.

Alle schauten auf König Semen in der Hoffnung, er werde als reicher Mann dem Elend am ersten und leichtesten steuern können. Semens braunes Gesicht hatte die letzte Farbe verloren. »Wollt ihr mich reden lassen, Leute?«, sagte er.

»Natürlich.«

»Nun, so wisst denn, dass ich arm bin wie einer unter euch. Mein Gold ist mir gestohlen worden.«

Eine Pause folgte diesen Worten. Es schien, als glaube niemand das eben Gehörte, ein Lächeln des Zweifels lag auf den Lippen aller,

Twain rauchte wie ein Schornstein. »Seit wann denn, Semen?«, fragte er endlich.

»Ich habe bei meiner Rückkehr nach Räuberstadt von dem größeren, eigentlichen Vorrat kein Körnchen wiedergefunden.«

»Und auf wen fällt in dieser Beziehung dein Verdacht?«

Semen zuckte die Achseln. »Ich hege keinen solchen.«

Das drückende Schweigen unter den Goldgräbern blieb dasselbe. Zwar flüsterten sie untereinander, aber laut sprach niemand, und als Semen gleich darauf fortging, folgten ihm grollende Blicke.

Und wie immer behielt die böse Nachrede den Sieg.

Unterdessen saß Semen mit gestütztem Kopf wie jemand, den ein schwerer Schlag getroffen hat. »Hörtest du es?«, fragte er seinen Bruder. »Sahst du es? Niemand glaubt mir. Ich kann den stummen Verdacht nicht ertragen. Lieber verlasse ich die Stadt.«

»Semen!«

»Das ist mein voller Ernst. Soll ich in den Augen meiner Mitbürger dastehen wie einer, der weder Herz noch Ehre besitzt?«

»Du überlegst dir wenigstens die Sache noch, Semen. Gehst du fort, dann wird erst recht über dich der Stab gebrochen.«

Er blieb allem ruhigen Zureden unzugänglich, und der Tag verstrich als einer der bösesten, die er durchlebt hatte.

Draußen arbeiteten die Goldgräber an der Trümmerstätte der Kirche. Halb verkohlte Bretter und Balken wurden aufgestapelt und das zerstörte Schnitzwerk des Altars stückweise hervorgezogen.

Da sah ein graues, spitzes Gesicht von der offenen Seite her in den inneren Raum der Kirche; eine kleine, gebückte Gestalt schob sich nach, und welke Hände rieben mit nervöser Unruhe gegeneinander.

»Nun, Leute, was macht ihr hier, he?«

»Das siehst du wohl, Davidoff«, antwortete einer der Arbeitenden. »Könntest immerhin mit anfassen, denke ich. Hast weder die Hound vertrieben noch das Feuer gelöscht oder dich bei der allgemeinen Not sonst irgendwo blicken lassen, Mann!«

Davidoff kam langsam näher. »Ich bin alt und krank, wie könnte ich fechten?«, sagte er.

»Nun, so nimm die Schaufel und hilf uns bei der Arbeit.«

Der Alte ergriff das Gerät und fing an, die Stelle des früheren Altars von Schutt und Asche zu säubern.

»Was treibst du denn da?«, fragte ihn einer der Arbeiter. »Du gräbst ja ein Loch in den Boden.«

Davidoff setzte sogleich die Schaufel ab. »Nur wenig«, antwortete er, »ganz wenig. Der neue Altar muss mehr Festigkeit erlangen.«

»Der ist närrisch geworden«, sagte einer.

Mittlerweile war es Abend geworden, und die Leute gingen fort, um sich neben den Trümmern ihrer niedergebrannten Häuser an die Asche zu legen.

Zwei Stunden mochten vergangen sein, als sich einer der Männer seufzend aufrichtete. »Schläfst du, Peter?«, flüsterte er.

»Bei diesem Wind? Das wäre ein Kunststück.«

Auch der andere schauderte. »Wie herbstlich es schon wird! Und man hat nicht einmal Dach und Fach!«

»Und wer weiß, auf wie lange hinaus! Wenn dieser Semen wollte, wie leicht könnte er den Abgebrannten helfen!«

»Das glaube ich auch, doch lass uns da unten hinter die Hütte des Pastors kriechen. Dort haben wir mehr Schutz.« Peter lockerte in der Brusttasche die Pistole. »Na, komm nur!«

Die beiden Goldgräber eilten zu den Ruinen der ehemaligen Kirche. Auf einmal blieb Peter stehen. »Alle Wetter, ist das nicht der verrückte Davidoff?«

Der andere Goldgräber feuerte seine Pistole ab, den Alten zu erschrecken.

Ein gellender Schrei ertönte. Mit einem Schrei stürzte Davidoff nieder. Die Kugel hatte ihn wider Willen des Schützen getroffen.

Der Lärm lockte viele Leute herbei. Auch Semen und dessen Bruder. Im Nu war der enge Raum von aufgeregten Menschen angefüllt.

»Mein Gott, Davidoff!«, rief Semen. »Was ist hier geschehen?«

»Ich … diese Leute … man hat mich überfallen. Was gafft ihr denn? Fort! Fort! Nikita! Nikita!«

»Hole einer von euch den jungen Menschen herbei!«, gebot Semem »Aber verliert keine Zeit!«

Zwei jüngere Leute eilten fort, um den Sohn des Sterbenden herbeizuholen.

Jemand hatte Fackeln entzündet, und nun trugen die Brüder Kinski den Alten hinüber in sein Haus. Er ließ alles mit sich geschehen. Seine Kraft war offenbar erschöpft.

»Was wolltest du denn in der leeren Kirche?«, fragte Semen, indem er sich über den Unglücklichen herabneigte.

Davidoff ächzte. »In der leeren Kirche?«, wiederholte er mit schwacher Stimme. »Leer! Ja, leer! Ich hatte meine Pfeife vergessen … das Schnitzwerk … und …«

Nikita kam herbei. »Vater!«, sagte er leise, »Vater! Willst du mir nicht die Hand geben?«

Der Alte blinzelte. Er konnte die Augen nicht mehr öffnen. »Ich sterbe«, murmelte er. »Ich sterbe … und du bist schuld daran.«

»Aber Vater!«

Nikita trocknete ihm den Todesschweiß von der Stirn. »Lass die Vergangenheit ruhen«, bat er im gepressten Ton. »Sprich nicht so böse Worte, Vater!«

Davidoffs Hand irrte im Todeskampfe ziellos über die Bettdecke. »Alles verloren! Ach, Nikita, mein Gold liegt … liegt … hier unten …«

»Ich weiß, Vater, ich weiß.«

»Nimm es an dich. Sie steh…«

Das Wort erstarb auf seinen Lippen. Er atmete nicht mehr. Mit dem Gedanken an das Gold, das einzig geliebte, war seine Seele dahingegangen.

Nikita stand tief gebeugt an der Leiche des Alten, dem selbst die Todesstunde keine Versöhnung, keine Umkehr bringen konnte.

»Er ist tot!«, sagte er leise.

Semen drückte dem Gestorbenen die Augen zu, dann zog er mitleidig den jungen Menschen von der Leiche fort.

»Komm, Nikita! Dein Vater bedarf deiner nicht mehr.«

»Nein, nein, lasst mich nur ruhig allein!« Dabei blieb es.

Als alle davongegangen waren, versperrte er die Tür, löschte die Lampe aus und nahm den Vorhang des Fensters herab. Dann setzte er sich in die gewohnte Ecke des Verstorbenen und stützte den Kopf schwer in die Hand.

Es war totenstill um ihn herum. Seine Gedanken arbeiteten unruhig und ziellos. »Fort aus Kalifornien!« Dies Einzige stand fest im Wirrsal alles anderen. Aber wie viel blieb nicht noch zu tun übrig, ehe er das Schiff besteigen und dem fremden Strand auf ewig Lebewohl sagen konnte. Er ging zu dem armseligen Lager, sah im Licht des dämmernden Morgens auf das stille Totenantlitz und zog die Decke über das Haupt des toten Vaters. Wenn auch der Alte mit den Hound gemeinsame Sache gemacht hatte, wenn er um die Brandstiftung und den nächtlichen Überfall gewusst hatte – sein Vater war er doch.

Nikita setzte sich wieder an das Fenster und sah schaudernd hinüber zu den Trümmern des Gotteshauses.

Am anderen Morgen, als Davidoff zu Grabe getragen war, konnte es Nikita nicht mehr aushalten. Eiligst begab er sich zu König Semen, um dort sein stark beschwertes Gewissen durch ein offenes Bekenntnis zu entlasten.

Semen bot ihm einen Stuhl und legte beruhigend die Hand auf des jungen Mannes Schulter.

»Nikita, mein guter Junge«, sagte er, »ich fürchte, dass es etwas Trauriges, Böses ist, was du mir sagen willst.«

Der Sohn des Geizigen zuckte zusammen. »Sehr, sehr traurig, Sir«, antwortete er mit versagender Stimme, »aber Sie müssen es erfahren, Sir, ich darf nicht zögern. Es handelt sich um Ihr … verlorenes Vermögen.«

»Um meine Goldkörner?«

Und Semen war plötzlich aufgesprungen. Seine Augen glänzten, sein Gesicht hatte eine lebhafte Färbung angenommen. Er konnte vor Aufregung kaum sprechen.

»Um meine Goldkörner, Nikita?«

»Ja. Ich weiß, wo sich der Schatz befindet. Unberührt, unverkürzt. Es fehlt kein einziges Körnchen.«

»Ach!«

Nikita sah auf, traurig und von der heißen Röte der Beschämung übergossen. »Ich will Ihnen alles erzählen, Sir«, fügte er hinzu. »Ganz zufällig hat mein Vater den Schatz in der Felsenkammer entdeckt. Wir suchten die Eier fremder Vögel und fanden das Gold. Ich war mit dabei. ›König Semens Schatz‹, sagte mein Vater. ›Nikita, was beginnen wir mit dem vielen Gold?‹ Ich riet ihm, es unberührt liegen zu lassen, und das geschah auch, aber die Gedanken des alten Mannes waren fortan nur oben in der Felsenhöhle. Er hatte alle Lust zur Arbeit verloren, und wenn einmal ein Tag eine sehr geringe Ausbeute brachte, sagte er seufzend: ›Was ist das ärmliche Bisschen gegen Semens Millionen? Warum kommt zu uns nicht ein gleiches Glück?‹ Täglich ging der unglückliche Mann hinauf, und dann kam eine Zeit, in der er immer eine Ladung Gold mitbrachte. ›Ich habe es gefunden‹, antwortete er auf meine Frage. ›Ist das etwa eine Unwahrheit?‹ Seitdem schleppte er den Schatz ruhelos hin und her, von einem Versteck ins andere, bis er zuletzt alles in ganz geringer Tiefe vergrub, um später damit nach San Francisco zu gelangen. Er hat das Gold eingenäht in Büffelfelle. Dem Himmel sei Dank, es ist kein Körnchen abhandengekommen.«

»Und wie wurde er an der Flucht verhindert?«

»Durch das Erscheinen der Indianer und die Niederlage der Hound. Es war unmöglich, zu dem vergrabenen Schatz zu gelangen. Sie finden den Schatz unter dem zerstörten Altar der Kirche.«

Semen bot Nikita mitleidig die Rechte. »Ich will keinem Menschen von der Sache erzählen«, sagte er, »und will aus dem Vermögen, das jetzt wieder in meinen Besitz gelangt, zunächst dein Schicksal sicherstellen, mein armer Junge. Du sollst haben, was …«

Nikita hob abwehrend die Hand. »Ich danke Ihnen tausendmal, Sir, aber von diesem Gold möchte ich keinen Cent besitzen. Nicht um die Welt, Mister Kinski. Helfen Sie mir nur meine Goldkörner in San Francisco verkaufen, und dann einen Schiffsplatz nach Europa zu erlangen. Das ist alles, was ich von Ihrer Güte erbitte.«

Und als Semen ihn noch festhalten wollte, schüttelte er traurig den Kopf. »Mir brennt der Boden unter den Füßen, Sir.«

Dann war der Goldgräber allein mit seinen erregten Gedanken.

Semen eilte zu den seinen. »Arsa, Kasimir und du, Prüfer, kommt alle mit mir! Mein Gold ist wiedergefunden!«

Sie glaubten, er sei närrisch geworden, solche Seligkeit leuchtete aus seinen Augen.

Und dann ging man daran, den Schatz zu heben. Neugierige Blicke beobachteten jede Einzelheit. Leise flüsternde Stimmen tauschten Bemerkungen über alles.

Bald war das Gold zutage gefördert und wurde vorläufig in Semens Wohnung gebracht worden. Dieser selbst fand Zeit, auch an Felsings Lager zu treten und mit ihm von dem großen Ereignis des Tages zu sprechen.

»Was denken Sie, Mister Felsing, sollen jetzt Ihre Verpflichtungen daheim in Europa getilgt werden, sodass ich Ihr einziger Gläubiger bin? Wäre es nicht so am besten?«

Aber der Hamburger schüttelte den Kopf. »Ich danke Ihnen, Sir, tausend-, tausendmal, aber wir wollen doch die Sache lieber unterlassen. Es darf mir, glaube ich, nicht allzu wohl ergehen, sonst könnte der kaum besiegte Dämon wieder sein Haupt in mir erheben. In acht Tagen marschiere ich – so Gott will – nach Höllenfreude und fange wieder an zu arbeiten.«

Semen reichte ihm die Hand. »Mister Felsing«, sagte er, »ich glaube, Sie sind auf dem rechten Wege.«

»Das glaube ich auch, Sir.«

Am nächstfolgenden Tag rüsteten sich zwanzig bewaffnete Männer, um den Wagen mit dem Gold und den Heimkehrenden nach San Francisco zu geleiten. Die vier jungen Indianer waren natürlich mit dabei, aber auch die beiden Brüder Kinski, Boris und verschiedene andere gingen eine Strecke weit mit, um den Scheidenden die letzten Beweise ihrer Freundschaft zu geben. Auch Dubois befand sich unter den Fortziehenden.

Und dann tauchten die Holzdächer der Stadt hervor aus den merklich kahler gewordenen, vom Herbstwind zerzausten Umgebungen. San Francisco hatte sich während des vergangenen halben Jahres sehr zu seinem Vorteil verändert. Es waren neue Straßen hinzugekommen und neue stattliche Gebäude errichtet. Der Hafen zeigte einen Wald von Masten, und Pferde und Wagen gab es in Menge.

Etwas entfernt von den Transportschiffen schaukelte an seinen Ankern ein schöner stattlicher Dreimaster, in dessen Takelage alles zur Abfahrt gerüstet wurde. Es war der »Nero«, das Schiff, das am nächsten Tag nach Europa unter Segel gehen sollte. Dubois seufzte, als er es sah.

»Oh, Arsa, wie schwer fällt mir die Trennung!«

Unser Freund empfand dasselbe.

»Aber nach dem Abschied kommt das Wiedersehen,« tröstete er. »Einmal in der Heimat Ihrer Kindheit werden Sie Kalifornien bald vergessen.«

Dubois schüttelte den Kopf. »Vergessen nie!«, beteuerte er. »Wäre das auch nicht undankbar? Der Boden dieses Landes hat mir doch die Mittel gegeben, mein Elternhaus zurückkaufen zu können. Dafür bleibe ich ewig sein Schuldner.«

Die Geschäfte waren bald geordnet, und am darauffolgenden Tag schlug die Abschiedsstunde. Dubois weinte und schluchzte wie ein Kind, als er allen die Hand reichte.

»Wenn du jemals nach Ladrin kommst, Nikita,« wandte sich Arsa an diesen, »so grüße mir das alte Dach, unter dem ich geboren bin – jeden Baum, jede Stätte!«

»Das will ich, Arsa. Und dich bitte ich, zuweilen nach dem Grab meines Vaters zu sehen.«

»Das verspreche ich dir gern, Nikita. Sobald ich wieder in Räuberstadt bin, soll die Stelle ein Kreuz erhalten und eingefriedigt werden.«

»Das vergelte dir Gott, Arsa! – Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«

Dann lichtete das Schiff die Anker, der Wind fiel in die Segel. Hüte schwenken vom Bord zum Ufer und wieder zurück. Dann war alles vorüber.

Die vier jungen Leute kehrten noch am selben Tag mit ihren Begleitern nach Räuberstadt zurück, um dort die Arbeit mit erneutem Eifer wieder aufzunehmen. Unter den Segnungen des Friedens sollte alles schöner und herrlicher aus der Asche erstehen.

Drei Jahre waren vergangen. Das große Goldgebiet Kaliforniens wurde mit Hacke und Pfanne bearbeitet. Aus den Tausenden von Einwanderern waren Hunderttausende und Millionen geworden. Minenstadt reihte sich an Minenstadt. Während hier die ersten Ansiedler unter freiem Himmel auf dem Erdboden schliefen, vollzog sich am entgegengesetzten Ende die Verwandlung der Blockhütten in feste Häuser.

Wer Räuberstadt bei seiner Entstehung gesehen hatte, würde den Ort jetzt nicht mehr wiedererkannt haben. Die hohen, durchweg mit Fenstern und Balkons versehenen Gebäude standen in geraden Linien. Jedes Einzelne besaß seinen grünen, blühenden Garten, jedes war von Weinstöcken umrankt. Durch die Straßen zogen sich Anpflanzungen von Bäumen. Semens wiedergefundener Schatz hatte Wunder gewirkt. Wie ein König von Gottes Gnaden war der Goldgräber seiner Heimat zum Segen geworden. Es gab jetzt keinen Bewohner des Ortes, der nicht seinen Namen mit Bewunderung und Ehrfurcht ausgesprochen hätte.

Von Räuberstadt nach San Francisco führte jetzt eine Straße, die im Wert wohl nicht höher stand als etwa unsere Feldwege mit ihren ausgefahrenen Gleisen und winterlichen Sümpfen, aber sie war doch klar erkennbar und von Gebüsch und Bäumen gesäubert. An vier verschiedenen Punkten hatte man Poststationen errichtet, hübsche, feste Blockhäuser, in denen Farmer und Viehzüchter lebten. Wenn die Einwandererzüge des Weges kamen, glänzte ihnen in der Wildnis ein gastlicher Lichtschimmer entgegen, Tauben gurrten auf dem Hausdach, und der Hahn krähte lustig. Mehr und mehr eroberte die Zivilisation den gesegneten Boden Kaliforniens.

Man hatte jetzt einen Friedensrichter, Polizisten in Uniform und sogar eine Apotheke. Es gab Feuerspritzen und die Verpflichtung für jedermann, bei öffentlicher Gefahr tätig einzugreifen. Tief im Tal blieb zur Rechten das Dorf Atafaus, und weiter hinauf zog sich der Pfad, bis zu jenen Höhen, auf denen die heißen Quellen sprudelten.

Eine gewaltige Veränderung war es, die dieser Punkt im Laufe der Jahre erfahren hatte. Ein weiter Säulengang umgab halbmondförmig den auf festem Boden liegenden großen Sprudel, der nicht, wie die kleineren, von Zeit zu Zeit auszusetzen pflegte. Ein Becken von weißem Marmor fing das Wasser auf und führte es in zahlreichen schmalen Röhren zu Tal. Rings um die Quellen lief eine bedeckte, mit Bänken versehene Galerie, hinter der sich ein stattliches Gebäude, zwei Stockwerke hoch, erhob. Neu-Ladrin stand in weithin sichtbaren, goldenen Buchstaben am vorderen Giebel, und das Haus war nichts anderes, als Semens Heilanstalt, die immer geplante, lang ersehnte und nun endlich erreichte.

Nun stand sie da, fix und fertig bis ins Kleinste hinein, und heute sollte sie eröffnet werden.

Es waren schon über fünfzig Kranke angemeldet. Eine Hausapotheke fand sich im Studierzimmer des Direktors, und ein größeres Pflegepersonal stand bereit.

Hinter dem Haus dehnten sich Garten und Wald bis in das unübersehbare Tal, aus dessen Tiefe rote Ziegeldächer hervorsahen. Zahlreiche Wirtschaftsgebäude umgaben ein hübsches, ländliches Anwesen – Kinskis Farm, auf der er seit Jahr und Tag eine Musterwirtschaft errichtet hatte.

Hier finden wir unsere Freunde aus Räuberstadt wieder vor. Jede Familie hatte ihr Häuschen, ihren Garten und ihren Viehstand, das weite Feld beackerten alle gemeinsam.

Die glücklichste Person der ganzen kleinen Niederlassung war Frau Kinski. Sie nahm verschiedene junge Indianermädchen in ihr Haus, und der Jubel war groß, wenn die roten Hände ein Gericht selbst gekocht oder ein goldgelbes Maisbrot gebacken hatten.

Heute freilich wurde an keinerlei Arbeit gedacht. Vor dem Wohnhaus erhob sich an hoher Stange eine weithin flatternde Fahne. Eine Anzahl Pferde stand gesattelt und gezäumt, und nun ging es vorwärts nach Neu-Ladrin. Semen wollte an dem Tag, der seinem höchsten Wunsch die Erfüllung brachte, nun auch seine Freunde und Vertrauten um sich sehen.

Von den Rothäuten wagte sich keiner zu ihm herauf. Selbst Atafau und Pataloc, als die »Gebildeten« des Stammes, hatten abwehrend ihre Hände erhoben. Die Geschichte mit den heißen Quellen war doch zu verdächtig, jedenfalls Meschekenabocks eigenstes Werk. Man hielt sich deshalb lieber in angemessener Entfernung.

Als Semen vom Berge herabsah, begrüßte er nur die Freunde aus seines Bruders Farm, aber kein rotes Antlitz.

»Kommt herein, Kinder!«

Ein Tisch war festlich gedeckt, und blinkende Weinflaschen standen darauf. »Von heute an beginnt meine eigentliche Mission«, sagte Semen, und seine Stimme bebte vor innerer Erregung. »Ich werde Kranke heilen und den Leidenden Segen spenden. Was gibt es Schöneres, Köstlicheres?«

Die Tafel bog sich unter den aufgetragenen Herrlichkeiten. Zunächst an Semens Seite saßen Kinski und Frau Anna, dann folgten Felsing und Prüfer, die beiden Getreuen, unter deren tatkräftigem Beistand Semen das große Werk glücklich zu Ende geführt hatte, seine Freunde und Gehilfen, die auch ferner bei ihm bleiben wollten, und denen er eine ehrenvolle, auskömmliche Stellung sichern konnte.

»Für heute Nachmittag sind mir über fünfzig Kranke angemeldet«, schloss er. »Einige Stunden des vergnügten Beisammenseins verbleiben uns bis dahin noch. Benutzen wir sie, um zuerst unserer Toten zu gedenken. Iwan, Hennecke, die treuen Rothäute – und auch der arme alte Davidoff. Möchte ihnen die Erde leicht sein, möchten sie Frieden gefunden haben!«

Die ganze Tischgesellschaft war aufgestanden, und jetzt erst fügte Semen hinzu, dass in Räuberstadt heute, seinem Auftrag gemäß, die teuren Gräber reich bekränzt würden. »Dem Andenken unserer Toten dies Glas!«, schloss er.

Da öffnete sich die Tür des Saales, und auf der Schwelle erschien ein Diener.

»Mister Kinski, draußen ist ein Mann, der Sie sprechen möchte.«

»So führt ihn herein!«

Der Diener ging hinaus und brachte dann in den eleganten, von Kristall und Silber glänzenden Saal einen Mann, dessen Aussehen bejammernswürdig genannt werden musste. Aus dem mageren Antlitz sprachen Sorge und Entbehrung, die Kleider waren Lumpen, die nackten Füße bluteten, als hätten sie einen weiten Weg über Dornen und scharfes Gestein zurückgelegt.

Semen ging dem Fremden entgegen. »Nun, mein Freund?«, sagte er, gütig die Hand ausstreckend, »was führt Sie zu mir?«

Die Antwort klang überraschend. Es waren polnische Laute, die Semen hörte. »Ich bitte dich um eine Vergünstigung, Herr!«

»Ah! Ein Pole.«

»Ja. Auch du, nicht wahr?«

»Freilich. Bitte, womit kann ich dir dienen?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht mir, Herr,« versetzte er. »Wir sind unser hundert und mehr Leute hierhergekommen, lauter Polen, und schon vor einigen Monaten, um uns als Goldgräber unser ehrliches Brot zu verdienen. Aber es wollte uns nichts gelingen, wir bekamen einen Grund, der nur dürftigen Ertrag gab. Andere, Stärkere, überfielen uns und plünderten uns aus. Zuletzt kam noch eine ansteckende Krankheit, die verheerend auftrat und mehr als die Hälfte unserer kleinen Schar dahinraffte. Ein böses Fieber, Herr, das auch einen alten Mann befiel, eben den, für den ich dein Mitleid anrufen möchte. Er scheint dich zu kennen.«

»Wie heißt er?«

Der Fremde zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Wir nannten ihn immer nur den Alten.«

»Nun gut«, versetzte Semen. »Wo ist denn der Kranke?«

»Bei dem überhängenden Felsen, der …«

»Schon gut, ich weiß es. Prüfer!«, wandte er sich dann zu dem ehemaligen Schlangenjäger, »Prüfer, du bist Verwalter auf Neu-Ladrin, willst du das Nötige veranlassen?«

»Gewiss,« war die Antwort, »sogleich!«

Zehn Minuten später fuhr ein Wagen den Berg hinab, und während sich die Zurückgebliebenen vergebens den Kopf zerbrachen, um herauszufinden, wer wohl der Kranke sei, wurde dieser selbst von gewandten Händen mit den nötigen Erquickungen versehen und in den Wagen gepackt, um mit seinen Gefährten nach Neu-Ladrin überführt zu werden.

Hier standen schon alle Anwesenden an den Fenstern. Als sich das Gefährt zeigte, gingen die Brüder Kinski hinab, um den geheimnisvollen Gast in Empfang zu nehmen. Einige Wärter hoben den Kranken vom Wagen und trugen ihn in ein Zimmer im Erdgeschoss.

Als Kinski an das Bett trat, schien er plötzlich lebhaft zu erschrecken. Er legte die Hand auf den Arm seines Bruders.

»Semen – ich bitte dich!«

»Kennst du den Unglücklichen, Kasimir?«

»Ach – sieh ihn doch genauer an!«

»Semen«, flüsterte der Kranke, »Semen, erkennst du mich?«

Wie ein Blitzstrahl das Dunkel der Gewittermacht erhellt, so zerriss da der Klang der matten Stimme die Nebel, die das Erinnerungsvermögen des Goldgräbers umschleierten.

»Raoul«, sagte er voll maßlosen Erstaunens, »Raoul Ladrin! Wie ist es möglich?«

»Ich erkannte den Herrn Grafen sogleich«, fügte Kinski hinzu.

Ein trübes Lächeln umspielte sekundenlang die Lippen des Kranken. »Den Grafen?« wiederholte er. »Den Herrn? Ach, wie weit liegt das alles hinter dem Bettler, der an eurer Tür um Erbarmen fleht! Werdet ihr mir unter eurem Dach ein ruhiges Sterbelager vergönnen, Kasimir und Semen Kinski?«

»Natürlich, Raoul, natürlich!«, rief Semen aus der Fülle seines guten Herzens. »Hoffentlich wirst du indessen nicht sterben, sondern unter meiner Pflege zu neuem Leben genesen.«

Der Kranke schüttelte den Kopf. »Nie«, flüsterte er. »Und noch eins«, bat er dann. »Es drückt mir das Herz ab, ich muss davon sprechen. Dich habe ich aus der Heimat vertrieben, Semen, und dich geprügelt, Kasimir. Das durfte ich den Gesetzen nach. Aber durfte es auch der Mensch, der Christ in mir? Auf dem Sterbebett lernt man so manches mit anderen Augen zu sehen … Und dann dein Sohn Arsa. Ist er bei dir, Kasimir? Es wäre der letzte Wunsch meines Lebens, alles Dazwischenliegende vergessen zu können.«

Kinski drückte ihm freundlich die Hand. »Möchtest du meinen Sohn sehen, Raoul?«, fragte er.

»Ja, ja! Ist er hier?«

»Gleich werde ich ihn holen.«

Nach wenigen Sekunden stand Arsa am Bett des Unglücklichen, der bei dem Anblick des hochgewachsenen jungen Mannes einen neuen, vielleicht brennenden Schmerz mit Mühe zu bekämpfen schien.

»Guten Tag, Arsa«, sagte er. »Gib mir die Hand, mein Junge. Ich möchte dir etwas sagen. Du entsinnst dich doch jener Fuchshetze in Ladrin?«

»Gewiss, Herr Graf!«

»Du wurdest beschuldigt, Anatol …«

»Bitte, bitte, Herr Graf, das alles ist längst vergessen.«

Der Kranke schüttelte den Kopf. »Einmal müssen wir von der Sache sprechen – dann nie wieder. Du warst schuldlos, es lastet auf deiner Vergangenheit kein Bubenstück. Freue dich dessen! Dritte Personen haben den ganzen Vorgang beobachtet und mir alle Einzelheiten erzählt.«

»Das ist gut, Herr Graf, das ist gut! Aber nun nichts weiter davon! Wie geht es Anatol?«

»Anatol ist tot.«

Arsa erschrak. »Tot?«, wiederholte er.

»Ja. Die Revolution brachte uns um den letzten Rest unseres Besitztums. Wir lebten eine Zeit lang bei Verwandten in Russland und dann in Frankreich. Aber auf die Dauer ist ein derartiges Dasein unerträglich, und so wanderten wir hierher aus. Ich habe den Boden durchwühlt, bis meine Kräfte mich verließen. Es war zu schwer für den Greis, der nie im Leben gelernt hatte, körperlich zu arbeiten. Anatol geriet in schlechte Gesellschaft. Man verleitete ihn zu Spiel und Trunk. Er wurde in einem wüsten Streit zwischen polnischen und fremden Goldgräbern erschlagen, und das warf mich um. Daran sterbe ich.«

Wenige Nächte später stand Semen allein an dem Sterbelager des Unglücklichen, dem er die letzte irdische Freistatt gewährt hatte.

Der Graf war ohne Bewusstsein. Er hielt die Augen weit geöffnet und sah starr vor sich hin. Nur einmal flüsterte er einige halblaute Worte.

»Der Quell versiegte – es war kein Segen dabei. Ach nein, kein Segen, weder damals noch später!«

Und Semen verstand sie, diese schwere Selbstanklage.

Noch in derselben Nacht drückte er dem sanft Entschlafenen die Augen zu, und dann folgten alle Ladriner, Männer und Frauen, mit Blumenkränzen dem Sarg des Machthabers, vor dessen tyrannischen Gelüsten sie einst über das Weltmeer geflohen waren.

Ihnen selbst ging es gut, auch Felsing war ein glücklicher Mensch geworden. Die harte Schule des Lebens hatte ihn von seinem Leichtsinn kuriert, wenn auch nicht von seinem fröhlichen Herzen, das immer noch gern Luftschlösser baute und der Sonnenseite des Daseins entschieden zugetan blieb. Er und Arsa waren und blieben die unzertrennlichsten Freunde.

Ende

 

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