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Gerhard Bauer: Das unsichtbare Land

Hessische Sagen – neu erzählt

Gerd Bauer listet in seiner Sagensammlung nach verschiedenen Landstrichen des alten Landes Hessen geordnet eine große Zahl von Sagen auf, die die »unsichtbare« Seite Hessens zeigen. Ist das alltägliche, sichtbare Hessen mit seinen reizvollen Landschaften, Dörfern und Städten, Flüssen und Bergen allseits bekannt, so wird im unsichtbaren Land gebannt, besprochen, verwünscht, gehext und gezaubert, zum Beispiel von Teufeln, Geistern, Wichteln, Nixen und wilden Jägern.

Der Autor greift auf alte und neuere Sagensammlungen von bekannten und weniger bekannten Sammlern zurück und bemüht sich sehr, Sagen, die in ähnlicher Form in mehreren Landstrichen beheimatet sind, nur einmal zu erzählen, um Dopplungen zu vermeiden. Dabei benutzt er eine durchaus angemessene, aber auch ein wenig modernisierte Sprache, sodass auch Leser von heute meistens in der Lage sind, die Inhalte mühelos nachzuvollziehen. Wenn dennoch einmal eine Wort- oder Begriffsklärung vonnöten erscheint, so ist sie meist in den angefügten Anmerkungen enthalten.

Gerd Bauers Sprache enthält zudem eine große Portion Witz, die den Charme dieses Buches ausmacht. So muss man dem Autor eine nicht unerhebliche Erzählkunst bescheinigen. Er achtet die alten Texte sehr und zieht sie nicht ins Lächerliche, kitzelt aber ihre lustigen Seiten heraus und entlockt dem Leser oft ein Schmunzeln, ohne seinen Respekt vor den Geschichten zu schmälern.

Alles in allem ist also zu sagen, dass der Autor den Leser mit einem Augenzwinkern wunderbar unterhält und ihm außerdem ein nicht unerhebliches Wissen um die unsichtbare Seite der hessischen Landschaften vermittelt.

Im Anschluss soll nun der Inhalt von drei hessischen Sagen aus dem Buch dargestellt werden:

Wie Karl der Große einmal Fersengeld gab

Karl der Große, der Frankenkönig, beherrschte die Hessen. Er hatte überall in diesem Land Garnisonen errichten lassen, und der Missionar Bonifatius wirkte zusammen mit den Kommandeuren der Burgen in Nordhessen und bekehrte dessen Bewohner. Nur die heidnischen Sachsen, deren Stammesgebiet bis weit nach Hessen hineinreichte – zum Beispiel gehörte ganz Waldeck dazu – schlugen sich mit den Franken herum. Als einmal die Sachsen gegenüber Karls Truppen übermächtig waren, flüchteten diese mit ihrem Herrn zum Main. Der Fluss führte jedoch Hochwasser und schien unüberwindlich. Da aber schickte Gott eine Hirschkuh, die an der einzigen Furt weit und breit den Fluss überquerte, sodass Karls Truppen ihr folgen und sich so vor den Sachsen retten konnten. Seither heißt diese Stelle im Main die Frankenfurt. Am Ufer entstand dort die gleichnamige Stadt.

Der Lindwurm von Worms

Vor langer Zeit kam einmal ein Lindwurm aus der Wüste über die Alpen an den Rhein und schließlich zur Stadt Garmisa. Dort wurde er den Bewohnern bald lästig, denn er zerstörte Felder, riss Häuser ein und tötete Menschen. In Garmisa wohnten in dieser Zeit drei Brüder, denen eine Schlosserei gehörte. Der jüngste Bruder verliebte sich in die schöne Königin. Die Brüder bauten nun eine Rüstung, die auf der Außenseite aus Hunderten scharfer Messer bestand. Als die Rüstung fertig war, bot der jüngste Bruder der Königin an, für ihre Hand den Drachen aus der Welt zu schaffen. Die Königin sagte zu, und der Jüngling wurde in der neuen Rüstung dem Lindwurm vorgeworfen, der ihn sofort verschlang. Da aber zerschnitten die Messer auf der Außenseite der Rüstung den Leib des Drachen, und dieser starb. Der Jüngling aber entstieg unversehrt dem zerschnittenen Leib und wurde König. Er legte fest, dass Garmisa fortan zur Erinnerung an den Lindwurm »Wurms« heißen sollte. Später wurde daraus »Worms«.

Yszap oder die wundersame Vaterschaft

Als ein Händler aus Fulda nach Jahr und Tag von einer Geschäftsreise zurückkam, fand er neben dem Bett seiner Frau eine Wiege mit einem Säugling. Die Frau erklärte ihm, die Sehnsucht nach ihm habe sie so erhitzt, dass sie zur Kühlung einen Eiszapfen vom Dach gebrochen und gierig daran gelutscht habe. So sei das Kind in sie gekommen. Ein junger Kaplan sagte dem erstaunten Mann, es gebe in den Werken der Heiligen sehr viele ähnliche Wunder. Da fügte sich der Händler in sein Schicksal und nannte den Jungen Yszap, den Eiszapfen. Als Yszap herangewachsen war, ging er mit dem Vater auf Handelsreise nach Amsterdam. Unterwegs übergab ihn der Vater dann einem Soldatenwerber. Als ihn bei der Rückkehr seine Frau nach dem Jungen fragte, entgegnete er, unterwegs auf einem Rheinschiff habe die Sonne stark geschienen. Er habe deshalb den Jungen angehalten, im Schatten zu bleiben und den Kopf zu bedecken. Dieser aber habe nicht auf ihn gehört, und so sei er kurz hinter Mainz geschmolzen. Er bat dann seine Frau, sich zu fassen, und sprach: »Der Winter hat ihn beschert, der Sommer verzehrt; ergeben wir uns in die Wunder des Herrn!«

Der Autor

Gerd Bauer, Jahrgang 1949, geboren in Mainz, ist Chef vom Dienst, Planer und Reporter bei der Hessenschau und lebt heute in Wiesbaden. Er studierte in Marburg Politik und Germanistik. Nach dem Examen (1977) war er 1978/79 Redakteur der Berliner Zentralredaktion der taz und machte 1980 bis 1982 ein Fernseh-Volontariat beim Sender Freies Berlin.

Er schrieb das Reisehandbuch Geheimnisvolles Hessen und die Sagensammlung Das unsichtbare Land und ist Mitautor des Großen Hessenlexikons und der Geschichte Hessens, die als Hessenbuch des Jahres prämiert wurde.

Textquellen:

  • Gerd Bauer, Das unsichtbare Land/ Hessische Sagen – neu erzählt, 2. überarbeitete Auflage, Societäts Verlag, Frankfurt, 2005.
  • www.hr-online.de /Bauer, Gerd

Bildquellen:

  • Cover von Das unsichtbare Land, mit freundlicher Genehmigung des Autors.
  • Foto von Gerd Bauer, mit freundlicher Genehmigung des Hessischen Fernsehens.

Copyright © 2012 by Wolfgang Wiekert