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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Die Bruderschaft der Weißen Väter – Teil 3

Die Gedanken sind eine Horde wilder Affen. Zähme sie, sonst plündern sie dich, gehörte zu den wohlfeilen Weisheiten, die Jeremy Steele eingebläut worden waren. Er hatte diese Aussage verinnerlicht, sie in langen Stunden der Meditationen zu verwirklichen versucht, es geschafft und wieder verlernt, und nun erinnerte er sich an diese verlorene Fähigkeit. Steele überdachte seine Situation und stellte eine Liste von Tatsachen zusammen, deren Reihenfolge durch ihre abnehmende Bedeutung bestimmt wurde. Das für Jeremy Steele wichtigste Faktum: Er war einem Mann begegnet, der ihm völlig überlegen war. Famagusto würde vergeblich darauf warten müssen, dass sein Kunde die bestellte Waffe abholte. Es gab Dinge, die Steele vorher noch nicht einmal geahnt hatte, die aber seine Rache und vor allem deren Anlass in einem völlig neuen Licht erscheinen ließen. Pinazzi musste sterben, weil er diese Dinge ahnte. Steele hatte fürchterliche Fehler begangen. Er war gefangen. Sie würden ihn töten.

 

Steele sammelte seine Gedanken, fügte sie zusammen, machte sie fest und hart wie Diamanten und schliff sie dann, bis sie in allen Facetten glänzten. Er schuf sich einen Schatz in seinem Kopf, was allerdings wenig besagte angesichts eines Körpers, der auf dem geriffelten Gummiboden eines Wagens abgelegt war und dabei auf wenig elegante, aber dennoch effektive Weise mit textilverstärktem Klebeband an Händen und Füßen gefesselt war.

Zusätzlich hatten sie ihm die Augen und den Mund mit dem stark nach Klebstoff riechenden Band verschlossen. Steele lag auf dem Bauch, seine Arme waren in einer unnatürlichen Position auf seinem Rücken fixiert. Bis jetzt tat es nur weh, aber Steele wusste, dass nach einigen Stunden in dieser Position bleibende Schäden nicht ausbleiben würden. Zumindest in dieser Hinsicht konnte er jedoch optimistisch sein. Sie würden ihn vorher umbringen, sodass er die beginnende Nekrose in seinen oberen Extremitäten nicht mehr mit zu erleben brauchte.

Was hatte der Weißhaarige gesagt?

»Wir können jeden Kopf öffnen wie einen Müllcontainer und wir finden jeden kleinen Schmutz, der sich darin verbirgt.« Ohne Zweifel sprach dieser Mann, trotz seiner unzweifelhaften Eitelkeit – ein Geburtsfehler des Franzosen, dachte Steele sarkastisch – die vollkommene Wahrheit. Insofern erklärte das auch die Fahrt, die jetzt mit Steele unternommen wurde.

Wenn es nur darum ging, ihn töten und dann die Leiche zu beseitigen, hätte es elegantere Möglichkeiten gegeben. Nein, sie hatten noch etwas mit ihm vor. Aber dazu brauchten sie nicht viel von ihm. Ein Körper mit einem Hauch von Leben schien zu genügen.

Steele war auf seine verbliebenen Sinne angewiesen, um sich zu orientieren. Sie hatten ihn aus einem dunklen Raum geführt, ihn gefesselt und dann in dieses Automobil geschafft.

 

Nachdem er seine Gedanken beruhigt hatte, begann Steele zu horchen, zu fühlen und zu riechen.

Der Motor klang wieder nach einem schweren Achtzylinder vermutlich US-amerikanischer Herkunft. Aus der Art, wie sich der Wagen bewegte und aus den Vibrationen des Antriebsstrangs, die er durch den Boden fühlen konnte, schloss Steele, dass es sich um einen schweren Geländewagen handelte. Der Wagen war neu. Man roch das Gummi der Fußmatten und hindurch auch noch den Duft von Ledersitzen. Ein ziemlich luxuriöses Gefährt also. Der Duft kam von beiden Seiten. Steele war sich bald sicher, dass der Wagen drei Sitzreihen hatte, und dass man die mittlere herausgenommen war, um ihn zu transportieren. Dann mussten allerdings noch die Befestigungspunkte der mittleren Sitzreihe irgendwo zu finden sein. Er verschob dies auf später und konzentrierte sich auf die beiden Männer auf den Vordersitzen.

Ihren Stimmen nach waren sie ziemlich jung. Nicht älter als Mitte zwanzig. Geborene Italiener, ziemlich kräftig (sonst hätten sie Steele nicht so einfach in den Wagen werfen können), aber nicht besonders diszipliniert, weil sie beide rauchten und ein Getränk schluckten, das sie aus Dosen entnahmen, die sich wiederum mit einem deutlichen Zischen öffneten. Als die erste leere Dose von den Vordersitzen nach hinten flog und Steele am Kopf traf, wusste er, dass es sich um Bier handelte.

Der Fahrer kannte den Wagen nicht gut. Er verpasste immer wieder den richtigen Kupplungspunkt, ließ den Wagen holpern oder den Motor unnötig aufheulen. Einige Male fluchte er leise vor sich hin, als der Gang sich nicht einlegen ließ. Außerdem schien die Lenkung ihm Probleme zu machen. Wahrscheinlich war sie, wie bei solchen Wagen fast üblich, sehr indirekt und daher schaukelte der Wagen merklich unsicher durch einige engere Kurven.

Die beiden Männer vorne mochten sich nicht. Steele merkte es an der Art, wie der Fahrer seine Unsicherheit durch ständiges Gerede überspielen wollte und der andere sein Desinteresse dadurch zeigte, dass der den Redefluss seines Kollegen mit Bemerkungen wie Reicht der Sprit, da vorne kommt ‘ne Tankstelle unterbrach.

Diese beiden Männer bildeten keine eingespielte Mannschaft. Im Notfall würde sich keiner von ihnen auf den anderen verlassen oder gar etwas riskieren. Wahrscheinlich gehörten sie nicht einmal in die nähere Umgebung des Weißhaarigen, sondern waren nur als Spediteure einer etwas prekären Fracht eingesetzt.

Sie kümmerten sich nicht um ihre Fracht. Am Anfang der Fahrt knarzte das Leder des Beifahrersitzes einige Male, und Steele war sich darum sicher, dass sich der Mann darin nach ihm umgedreht hatte. Dann jedoch wurden die Armlehnen heruntergeklappt und ein paar Schuhe wurden krachend auf das Armaturenbrett gelegt.

»Nimm deine verdammten Käsemauken aus meinem Gesicht, du Penner.«

»Spiel dich nicht auf, das ist immer noch meine Seite. Wenn du dir mal die Mühe machen würdest, auf die verdammte Straße zu gucken, dann würden dich meine Treter auch nicht im geringsten stören.«

»Stören wohl.«

»Soll ich fahren?«

»Fahren ist mein Job.«

»Dann fahr, du Arsch und kümmer’ dich nicht um meine Schuhe, sonst hast du sie nämlich gleich in deiner sizilianischen Fresse.«

»Oho, das seh’ ich aber noch nicht.«

»Nee, jetzt siehst du’s noch nicht, aber noch eine blöde Bemerkung weiter, dann hast du sie zwischen Kinn und Brauen, und diese Schuhe sind das Beste, was deiner Visage je zustoßen kann. Außer der Guillotine natürlich.«

»Was ‘n Güllotinna?«

»Halt einfach mal die Klappe und versuch, die Scheißkupplung mal richtig kommen zu lassen, wir sind hier nicht beim Bullenreiten, auch wenn du die Karre immer hopsen lässt wie ein schwachsinniger Eselsbeschäler.«

»Machs doch besser.«

»Soll ich? Ja, soll ich? Dann halt an und dann machen wir mal die Gegenprobe.«

»Den Teufel werd ich tun. Ist ‘ne verdammte Scheißkupplung. Kann ich doch nix für, wenn die Karre noch nicht eingefahren ist.«

»Wenn du so weitermachst, is nix mit einfahren, dann ist besser Schrottpresse angesagt.«

»Halt du doch einfach die Merda-Schnauze. Klingst sowieso wie ‘n Dickdarm im Stimmbruch!«

Der Fahrer klapperte mit einem Handschuhfach, ließ dabei den Wagen wieder schlenkern, drückte eine Musikkassette ein und drehte die Lautstärke hoch. Countrymusik schallte durch den Wagen.

Im Gegenzug fuhr der Beifahrer sein Seitenfenster herunter, sodass sich pfeifende Windgeräusche in die Musik mischten. In geringen Abständen erklang das Dröhnen von Lastwagenmotoren, die in Gegenrichtung vorbeikamen.

 

Unterdessen arbeitete sich Steele zentimeterweise über den Wagenboden. Sein Ohr schrappte über die geriffelte Gummimatte, registrierte das Mahlen und Poltern des Antriebsstrangs, blendete aber diesen Lärm völlig aus. Nach einiger Zeit zuckte Steele zurück. Das Ohr war über eine Metallkante geratscht. Es war eine scharfe Kante, und er spürte warmes Blut, das aus einem Schnitt tropfte. Steele drehte den Kopf und nutzte seine aufgeklebte Augenbinde als Schutz, um die Stelle zu untersuchen. In seinen Gedanken formte sich ein Bild – ein massives, scharfkantiges Metallstück, das einige Millimeter aus dem Wagenboden ragte und als Befestigung für die mittlere Sitzbank diente. Jeder Automobilklub hätte in seinen Automobiltests über diese Konstruktion gemeckert, aber Jeremy Steele empfand sie in diesem Augenblick als außerordentlich praktisch und hilfreich.

Der Rest schien so leicht, dass Steele einen neuen Trick witterte. Einige Dinge in den letzten Tagen waren leichter gewesen als erwartet. Hinter jeder Frage wartete schon die Antwort, jede scheinbare Sackgasse zeigte am Ende noch die Abzweigung, die weiterführte. Das Prinzip der Thunfischfalle, bemerkte Steele. Zeige der Beute den Ausweg und sie wird deinem Fingerzeig folgen. Bis sie dort ist, wo du sie haben willst: in der Todeskammer, der salla de muerte. Reif zur Ernte, hilflos und ausgeliefert.

 

Die Überlegung lähmte Steele eine lange Zeit. Welche Gewissheit hatte er, dass er mit seinem Befreiungsversuch nicht begann, die letzte Wendung hin zu dieser letzten Kammer zu vollführen? Der Tod bedeutete Steele nichts. Aber es musste nicht unbedingt ein Abgang aus Unfähigkeit und Dummheit sein, begleitet von dem höhnischen Kichern eines weißhaarigen Franzosen und eines öligen Inders. Die Vorstellung, eine Marionette in einem Spiel zu sein, dessen Sinn und dessen Regeln er nicht kannte und vielleicht nie kennen würde, hinterließ bei Jeremy Steele einen bitteren Nachgeschmack. Eine Empfindung überkam ihn, als würde sich der Boden unter ihm auflösen und er schwebte – oder fiel – in einem endlosen leeren Raum.

Aber war diese Empfindung seine eigene? Oder implantiert von dem Weißhaarigen? Oder schauten sie jetzt, in diesem Moment schon in seinen Kopf, während er selbst sich wunderte, dass sich seine Bewacher nicht mehr um ihn kümmerten, als wäre er ein tiefgefrorenes Hähnchen?

Die Gedanken folgten einander, glitten ineinander über und formten einen Bannkreis, in dem Steele wie gelähmt verharren musste. Wie sollte er je aus dieser Gedankenfalle herausfinden, wenn schon der Gedanke zur Flucht ein Teil der Falle sein konnte?

 

Der Wagen verzögerte und bog mit quietschenden Reifen nach links ab. Das Signalhorn eines Lastwagens tönte, wütend und lang anhaltend. Das Leder des Beifahrersitzes knarrte nervös.

»So etwas nennt man Kurve. Und diese Dinger, die einem entgegen kommen, nennt man Lastwagen. Musse nich ärgern, sonst gibts Auaaua-Beulchen im Blech.«

»Halt dich geschlossen. Halt du dich doch bloß geschlossen. Dieser Arsch war viel zu schnell.«

»Natürlich war dieser Arsch viel zu schnell. Aber das kann man sehen. Mit den Augen! Und dann bremst man. Und wartet. Und macht hier nicht den Schumi und eiert noch mal schnell vorher um die Ecke.«

»Dann fahr du doch diese Scheißkarre. Ich hab sowieso die Faxen dicke. Ich leg mich zu dem Sack dahinten und schnarch ‘ne Runde.«

»Nichts da. Fahren ist dein Job. Hatten wir doch vorhin festgestellt.«

»Anscheinend kann ich es ja nicht.«

»Richtig. Endlich mal ‘ne wahre Erkenntnis. Du kannst es nicht, aber jetzt wirst du es machen. Ich hab nämlich null Bock, gleich ‘n Pass hochzueiern und dann über die Schotterwege da oben. Wie du schon völlig richtig sagtest. Fahren ist dein Job. Aber denk dran, dass auch mein Arsch im Wagen sitzt und den möchte ich noch was länger gebrauchsfertig halten.«

»Ach, möchten wir uns von hübschen Jungs verkorken lassen?«

»Nein, den lass ich mir von Typen wie dir lecken. Als Beitrag zur Jugendpädagogik, darum will ich meinen Arsch auch unbedingt behalten.«

»Dann tu was dafür und halt’s Maul.«

»Mach ich. Mach ich. Und du machst diese Ami-Rübenackermusik aus und konzentrierst dich auf die Straße. Und wenn du nicht fit bist, weil du’s gestern geschafft hast, die Schönheitskönigin vom Altenheim flach zu legen, dann machen wir ‘ne Pause.«

»Brauch’ keine verdammte Pause. Diese paar Kilometer rutsch ich auf der halben Backe runter.«

»Paar Kilometer? Das sind noch satte zwei Stunden. Natürlich nur, wenn man fahren kann. Bei dir schätze ich auf sechs Stunden bis ‘ne Ewigkeit.«

»Kannst ja die Zeit stoppen, Klugscheißer.«

 

Die Musik brach ab. Die Fahrgeräusche der breiten Geländereifen drangen nun laut durch das offene Fenster. Sie fuhren immer noch über Asphalt, allerdings polterte das Fahrwerk immer wieder über geflickte Stellen und durch Schlaglöcher. Felswände oder Gebüsch warfen den Motorenlärm zurück. Die Straße war kurvig, führte über Kuppen und durch Senken.

Jedes Mal aber schien der Anstieg länger als die Gefällestrecke. Schließlich war die Neigung des Wagens deutlich zu bemerken. Die Bierdosen, inzwischen war die gesamte Bruderschaft eines Sechserpacks bei Steele versammelt, rollte nach hinten und verschwand unter den Sitzen. Sie mussten sich der Passstraße nähern, von der der Mann gesprochen hatte. Steele registrierte es mit müdem Desinteresse. Sein Bewusstsein war wie ein Teich mit brackigem Wasser, in den mit mattem Plopp ein Stein fiel. Zugleich aber bemerkte Steele seine eigene Mattigkeit, und dieser Moment der Klarheit ließ die Lähmung von ihm abfallen.

Egal wer das Urheberrecht für die Gedanken in Steeles Kopf für sich beanspruchen mochte, der Besitzer des besagten Kopfes musste sich dringend um dessen Weiterbestand kümmern, andernfalls drohte eine nachhaltige Minderung der Besitzrechte an Schädel samt Inhalt und peripheren Organen. Steele drückte den Kopf auf den Boden und begann, das Klebeband, das ihm die Augen verschloss, an der Metallkante abzuschaben. Das Band endete jeweils an den Schläfen. Da er den Kopf nur minimal bewegen konnte, dauerte es eine Weile, bis Steele den ersten Erfolg verbuchen konnte. Die Vibrationen des Wagens übertrugen sich ungedämpft auf Steeles Schläfen. Jede Unebenheit der Straße wirkte nun wie ein Stiefeltritt gegen den Schädel. Bald konnte Steele sich keine Gedanken über seine Gedanken mehr machen, weil anstelle eines Gehirnes eine quallige Masse getreten war, in der dumpfes Dröhnen und pochender Schmerz enthalten waren. Halb unterbewusst registrierte er, dass der Wagen die Geschwindigkeit vermindert hatte, dass die Reifen über Schotter knirschten und der fade Geruch aufgewirbelten Staubes in den Wagen drang.

»War wohl nix mit sechs Stunden«, erklang es triumphierend von vorne.

»Das schwerste Stück haben wir noch. Und wenn du nicht aufpasst, kommen wir eher auf ‘ne Wolke als ans Ziel.«

»Kommt man durch Saufen und Rammeln in den Himmel?«

»Nein, aber wenn man Arschlöchern wie dir nicht die Fresse poliert.«

 

Der Fahrer setzte zu einer Antwort an, verstummte aber, als der Wagen ausbrach und mit heulendem Motor einige Meter hangabwärts rutschte. Das Getriebe krachte, als er hektisch die Gänge wechselte.

»Kupplung, rollen lassen, sachte bremsen, anhalten, gerade stellen, erster Gang, Allrad-Modus, Differenzialsperre und dann …« Der Beifahrer hatte die ölige Sanftheit eines Fahrlehrers in der Stimme. Der Fahrer verzichtete auf eine konkrete Antwort und schrie nur noch abgehackte Flüche, die im Motorengeräusch untergingen. Schließlich hielt der Wagen an. Der Fahrer atmete hörbar auf.

»Jetzt stell doch wenigstens wieder auf Allradantrieb, du Penner.«

»Versuch du doch den Hebel reinzukriegen. Klug rumschwafeln kann ich auch.«

Die beiden Männer machten sich an dem Hebel zu schaffen. Wieder krachte das Getriebe und ein Ruck lief durch den Wagen.

Dann ließ den Fahrer den Wagen vorsichtig ein weiteres Stück rückwärts rollen, stellte ihn gerade und beschleunigte. Der Weg schien wahrhaftig schlecht zu sein, denn sie setzten sich nur sehr mühsam in Bewegung. Steine polterten gegen die Türen und den Unterboden, der Motor heulte, wieder rutschte der Wagen zur Seite, das Stöhnen des Fahrers übertönte jetzt selbst diesen Lärm.

»Zieh durch«, rief der Beifahrer, als die Fahrt endlich zügiger und stabiler wurde. »Gas geben, durchziehen, nicht schalten, bloß nicht in die Fahrspuren, sonst setzt du mit dem Boden auf.«

 

Die Erschütterungen warfen Steele in die Luft und nahmen ihm den letzten Rest von Raumwahrnehmung. Er wusste nicht mehr, wo die Metallkante war. Wieder verlor er Zeit, in der er über den Boden schrabbte, suchte, zugleich horchte, ob sich der Vordermann zu ihm umdrehte.

Diese Gefahr war im Augenblick denkbar gering, denn die zwei Männer keiften sich an wie ein altes Ehepaar, bei dem die Frau am Sonntag kurzfristig ans Steuer gelassen worden war.

Endlich fand Steele das Metallstück wieder. Er wälzte sich in Position und presste den Kopf mit aller Kraft gegen die Kante. Dann schob er den Kopf zur Seite und hobelte Klebeband, Haare, Haut und Fleisch von der Ansatzstelle. Das Ende des Bandes wurde zu einem festen Klumpen. Schließlich musste Steele den Kopf in den Nacken legen und mit einigen heftigen Bewegungen das Gewicht dieses Klumpens ausnutzen, um zumindest ein Auge freizubekommen.

Bei der Vorstellung, wie lächerlich er aussehen mochte, durchfuhr eine Steele eine Welle von rotem Zorn. Und er begrüßte diesen Zorn wie einen alten Kameraden. Denn es war sein Zorn, sein eigener, dieses schuppige Reptil, das in den Höhlungen seiner Seele lebte und zu Zeiten nach dem Tageslicht schielte.

Gut, formten sich die Gedanken in Steeles Kopf. Mir geht es im Moment denkbar mies.

Ich kann nicht einmal aufzählen, an welchen Stellen ich Wunden und Prellungen habe. Aber das sollte niemanden zu der Ansicht verführen, Jeremy Steele wäre am Ende. Wann ich am Ende bin, entscheide immer noch ich.

 

Steele legte sich zur Seite, damit das freie Ende des Bandes über das weiterhin verklebte Stück baumelte und sah zu den Vordersitzen hin. Die beiden Männer hatten nichts bemerkt.

Der Fahrer klammerte sich am Lenkrad fest, als wäre es ein Rettungsring, der Beifahrer gestikulierte und bombardierte seinen Kollegen mit Serien von guten Ratschlägen und Schimpfworten.

Durch die Frontscheibe erkannte Steele lediglich grauen Himmel. Dann kippte der Wagen nach unten, eine Felswand füllte das Fenster, nur um wieder von Nebelschwaden und grauem Himmel verdrängt zu werden. Mehr war von der Landschaft nicht erkennbar. Aber die Art, wie der Beifahrer aus dem Seitenfenster schaute, machte Steele sicher, dass dort die Gefahr war. Und eine solche Gefahr konnte in dieser Umgebung nur Tiefe heißen. Kurve folgte auf Kurve. Plötzlich waren sie ganz nahe an einer Felswand, die auf den Wagen zu stürzen schien.

Der Außenspiegel auf der Fahrerseite schrammte hörbar am Gestein entlang.

Steeles Instinkt sagte ihm, dass er nicht lange zögern durfte. Er brachte sich mit hastigen, clownhaften Bewegungen in Position, drehte sich auf den Rücken und schlug die Beine über den Kopf. Er hatte nur eine einzige Chance, und die nutzte Steele. Seine Füße trafen den einen einsamen Hebel, der hinter Schaltknüppel, Hebel für Allradantrieb und Hebel für Reduziergetriebe aus der Mittelkonsole ragte wie ein Außenseiter, mit dem die anderen nichts zu tun haben wollten. Den Hebel, dessen Gefährlichkeit durch einen roten Knauf demonstriert wurde. Den Hebel, der die Differenzialsperre einschaltete.

 

Das Getriebe krachte. Der Beifahrer zuckte zusammen und fuhr herum. Der Fahrer versuchte den Wagen, den er gerade in eine weitere Kurve gelenkt hatte, unter Kontrolle zu behalten. Steele hatte unterdessen, eine müde, aber dennoch eindrucksvolle Imitation chinesischer Zirkusakrobatik, die Beine wieder zurückgeschwungen, war nach hinten gerollt und hatte sich unter der Bank verkeilt, so gut er es konnte. Der Beifahrer machte noch den Versuch, aus dem Sessel zu kommen und aus der Tür zu springen, aber da bockte der Wagen schon und schlitterte über den Wegrand hinaus und rutschte die Halde herab. Ein Stein krachte gegen die Scheibe und ließ die Splitter regnen. Der Wagen hüpfte und sprang. Und beschleunigte zugleich. Für einige Sekunden folgte er der Falllinie, dann prallte er gegen einen Felsblock und kippte zur Seite. Die Airbags zündeten mit einem ohrenbetäubenden Knall. Der Beifahrer, der sich immer noch bemühte, aus der Tür zu kommen, wurde von dem herausschnellenden Luftsack von der Seite getroffen. Sein Kopf wurde zur Seite geschleudert und verharrte in einer unnatürlichen Position, bis der ganze Körper im Umkippen des Wagens nach unten und auf den Fahrer stürzte. Blech zerriss mit schrillem Kreischen, das Wageninnere füllte sich mit Staub und Sand.

Dann trieb eine weitere Kollision den Wagen quer zum Hang und er begann sich zu überschlagen.

Jeder Überschlag drückte das Wagendach mit der Gewalt eines Dampfhammers ein, verformte es und trieb es tiefer in den Innenraum.

 

Steele drückte sich mit aller Kraft, die er noch hatte, gegen ein Stahlrohr und in die Sitzfläche der Rückbank. Seine Muskeln begannen unter der Anstrengung zu zittern. Eine Ader an der Stirn schwoll an und begann wieder zu bluten. Die Gewalt des Absturzes riss an ihm, zerrte an seinen Muskeln, schob ihn aus seiner Position, bis er hin und her schlug wie schlecht ausgebautes Bauteil. Den Rest des Unfalls registrierte Steele nur noch als eine Art von Film, der mit ihm selbst nichts mehr zu tun hatte. Er lag eine Weile unbeweglich und stellte dann fest, dass es sehr still war. Von vorne ertönte ein leises Wimmern, irgendeine Flüssigkeit tropfte auf irgendeine Metallfläche und fern ertönte ein zischendes Geräusch.

Benzingestank machte das Atmen schwer.

Es bedurfte einiger Mühe seitens Steele, um sich wieder in diese Realität einzufinden.

Vielleicht war er jetzt in einem Schockzustand, stellte er selbst fest, nur um dann in der folgenden Überlegung zu dem Schluss zu kommen, du Schock, du kannst mich mal am Hobel packen oder was dergleichen männlich markante Sprüche sind, die ein Mensch absondert, wenn er jenseits der Baumgrenze in einem Autowrack liegt.

 

Steele robbte unter dem Sitz hervor und fiel ein Stück in die Tiefe, weil der Wagen auf dem Dach lag. Den Rest der Angelegenheit behandelte Steele als Routine. Er zwängte sich aus einem Fenster, fand ein Metallstück, an dem er seine Fußfessel durchschneiden konnte, rappelte sich auf, befreite seine Hände, riss sich das Klebeband vom Mund und erfüllte die einsame Berglandschaft mit seinem löwenartigen Wutgeschrei. Als er sich heiser geschrien hatte, humpelte er zum Vorderteil des Wagens und beugte sich ächzend herab. Die starren Augen des Beifahrers und die Art, wie sein Kopf auf der Schulter lag, machten eine weitere Untersuchung überflüssig. Der Fahrer lebte noch. Zum ersten Mal sah Steele sein Gesicht. Er war viel jünger als Steele vermutet hatte. Gerade mal achtzehn mochte er sein, mit glatter Haut, die jetzt fahl und schweißbedeckt war, mit Pickeln, auf die er eine rosa Paste geschmiert hatte und schwarzem Flaum über dem Mund. Steele schaute den Jungen eine Weile an und bemerkte den Widerschein eines Erkennens in dessen Augen. Er atmete noch, eine kleine rote Blase schwoll und verschwand im unruhigen Rhythmus vor einem Nasenloch. Aber der Schädel, Steele bemerkte es nicht sofort, wirkte wie eine Knetplastik, die eine unkundige, aber kräftige Hand leicht verdreht hatte. Durch die struppigen Haare lief eine gezackte Spur, die den grauen Staubbelag rot färbte, und eine zähe Masse rann aus dem Haaransatz über das Ohr.

Steele richtete sich mühsam auf. Dieser Junge brauchte seine Hilfe nicht. Er würde von alleine sterben.

 

Nachdem Steele einige Schritte zwischen sich und das Wrack gelegt hatte, ergriff er einen Stein und schleuderte ihn. Er brauchte einige Versuche, dann traf einer der kantigen Felsbrocken, schlug auf dem Blech einen Funken, der in das ausgelaufene Benzin taumelte und die Explosion auslöste. Die Druckwelle schmiss Steele auf den Rücken und die Hitze raubte ihm den Atem. Ihm blieb nichts, als auf allen vieren fort zu kriechen, bis er sich ungefährdet aufrappeln konnte.

Aus dem Wrack stieg eine schwarze Rauchwolke in die windstille Luft. Das war ein Signal, das zumindest allen Personen, die den Wagen erwarteten, einen kurzen, aber ausreichenden Abriss der letzten Geschehnisse geben würde. Was Steele anging, so musste er möglichst schnell Deckung finden.

Hier auf der Schutthalde war er wie auf dem Präsentierteller. Aber diese Halde lief in einen flachen Hang aus, in den sich krüppelige Nadelbäume klammerten und etwas weiter unten waren im Nebel die ersten Ausläufer des Waldes erkennbar. Mit unsicheren Schritten, immer wieder stolpernd oder in kleinen Lawinen rutschend, näherte sich Steele den Bäumen.

Als er im Schutz der ersten Stämme war und sich auf den weichen, nadelbedeckten Boden warf, erklang zwischen den Felsen das Hämmern eines Hubschraubers. Eine Bell UH oder eine Lizenzfertigung, das war am unverwechselbaren Hämmern zu hören, mit dem sich der Helikopter näherte.

Vielleicht konnten sie Steeles Position jederzeit feststellen. Vielleicht trug er in seinem Körper einen Sender, den sie in diesem Moment anpeilten. Er raffte sich wieder auf und stieg weiter zu Tal. Der Hubschrauber kreiste und entfernte sich.

Während Steele einen Schritt vor den anderen setzte, sich an harzig klebrigen Stämmen festhielt und versuchte, in dem weichen, steil abfallenden Boden vorwärtszukommen, hatte er die Zeit, die Ereignisse der letzten Tage noch einmal zu überdenken.

Jetzt wusste er natürlich, dass vieles zu einfach gewesen war. Der Mann im Motorboot hatte sich gewunden, hatte gewimmert und geflennt und sein Leben gerettet, indem er den Namen eines Geschäftes für Marinebedarf in Genua nannte.

 

Steeles Weg hatte ihn von der Umgebung Genuas in die Nähe Mailands geführt. Er bemerkte, dass eine Person ähnliche Nachforschungen anstellte, geradezu parallel zu ihm selbst. Steele fand diese Person, eine schwarzhaarige Frau, deren Anblick etwas in ihm bewegte, ohne dass er festmachen konnte, was es war und an wen sie ihn erinnerte. Obwohl sich Steele den Kopf zerbrach, entwischte ihm die Erkenntnis immer wieder im letzten Moment und er blieb verwirrt und zornig zurück. Steele hatte sich an die Frau gehängt, forschte, stellte fest, dass sie als Stewardess arbeitete. Außerdem hatte sie besondere Eigenschaft, die Steele etwas irritierte, ihm aber bestätigte, dass sein erster Impuls, Abstand von dieser Frau zu halten, durchaus richtig war. Er beobachtete nämlich eine Szene, in der zwei Männer diese Frau in einen Wagen zerrten. Egal was diese Männer mit der Frau vorhatten, es wurde nichts damit, denn kurze Zeit später fand Steele die beiden. Der eine starrte ihn aus glasigen Augen an und atmete pfeifend durch ein Loch in der Kehle. Der andere starrte überhaupt nicht, weil ein besonders scharfer Gegenstand, der mit außerordentlicher Geschicklichkeit eingesetzt worden sein musste, seine beiden Augen mit einem Schnitt zerschlitzt hatte, und nun lagen unter seiner Stirn leere blutige Höhlen, unter denen ein Rand von schleimig blutiger Masse klebte. Der Mann lallte und ruckte kniend vor und zurück, als würde er ein obskures Gebetsritual durchführen. Um ihn zu beruhigen, musste Steele ihn an den Haaren packen und hochreißen. Dann hatte er den Mann so weit, dass er sich auf ein Geschäft einließ. Den Namen des Auftraggebers gegen einen Anruf beim Notarzt.

Für Steele war es ein gutes Geschäft, für den Mann ohne Augen wahrscheinlich auch, nur der Auftraggeber hätte einige Kritikpunkte gehabt, die er aber nicht mehr äußern konnte, weil Steele seinen Hinterkopf an die Wand nagelte, und zwar mittels eines an dieser Stelle praktischerweise schon vorhandenen Drahtstiftes, dessen Hilfe beim Beenden unnützer Debatten Steele dankbar in Anspruch nahm. Der Auftraggeber trat dann nur noch einmal in Erscheinung, als er nach einiger Zeit, nach vorne kippte und lautstark auf den Boden schlug, wobei er Steele, als eine Art von später Revanche, etwas erschreckte und zur Verschwendung dreier Spezialpatronen verführte, die den Auftraggeber sozusagen post mortem noch einmal zerfetzten, was sowohl der Raumpflegerin Arbeit beschert wie auch dem später damit befassten Leichenbestatter arge Probleme bei der appetitlichen Zubereitung des teuren Verblichenen bereitet haben dürfte, jedoch die Umwelt nicht weiter belästigte, weil Jeremy Steele in seiner bekannt zurückhaltenden Art einen Schalldämpfer benutzt hatte.

 

Steeles Aufmerksamkeit war durch die Lektüre verschiedener Papiere abgelenkt gewesen.

Er war sich sicher, dass es die Originaldokumente aus dem Koffer Pinazzis waren, die er aus dem Tresor des Auftraggebers geholt hatte. Es handelte sich um ein Sammelsurium von Zeitungsausrissen, handschriftlichen Notizen, Briefkopien und Originaldokumenten. In der Kürze der Zeit, die Steele diese Dokumente in der Hand hatte, konnte er sie nicht ausreichend durcharbeiten. Vielleicht war das der Kardinalfehler. Er hätte sich zurückziehen müssen und in Ruhe die Unterlagen studieren. Stattdessen ließ er sich von dem Schwung seines Erfolges mitreißen. Was hatte Steele aus den Dokumenten entnehmen können? Nicht viel mehr letztendlich, als wenn ihm in einer Kneipe ein Informant zugeflüstert hätte: Da ist ein absolut dickes Ding am Laufen. Ein Ding, sage ich dir, das hat die Welt noch nicht gesehen!

Flugpläne hatte Steele in der Hand gehabt. Handschriftliche Aufzeichnungen, die er mit der Frau in Verbindung brachte. Sie war Stewardess, das Fliegen war ihr Beruf. Aber was hatte das Kürzel SSI damit zu tun? Was war die Information wert, dass Scand Elektron mit Sitz in Stockholm zur Data Systems Holding mit Sitz in Zürich gehörte, die wiederum eine hundertprozentige Tochter mit Matanka Industries war? Warum hatte Pinazzi ein Foto, das Erwin F. Groning III. in eindeutiger Situation zwischen zwei halbwüchsigen, offensichtlich asiatischen Jungen zeigte? Wollte er damit auf die Notizen verweisen, die eine unfreundliche Übernahme von Gronings Firma, Iridom, dem weltgrößten Produzenten von elektronischen Bauteilen für Kommunikationssysteme, durch Tele Sys, Sitz New York, einer Tochter von Scand Elektron und Data Systems Holding, belegten? Was sollte der Zettel, auf dem in krakeliger Schrift – Pinazzi musste schon sehr krank gewesen sein – stand: Delmert fragen wegen Bauteil 77/2. Damit hängen sie sich an jedes Ohr. Big Brother, du warst eine Niete.

War dies ein Geschreibsel eines schon nicht mehr voll zurechnungsfähigen Schwerkranken, oder steckte viel mehr dahinter?

Steele hatte es nicht erfahren. Denn er war einem weißhaarigen Franzosen begegnet und fand seinen Meister.

 

Der Weg ins Tal dauerte Stunden. Steele überquerte einige Wege und eine Straße, wagte sich sogar ein Stück weit das Asphaltband entlang, nur um dann wieder in den Wald einzutauchen, weil er zu sehr fürchtete, aus der Luft entdeckt zu werden. Aus der Ferne erklang immer noch das Hämmern des Hubschraubers, einige Male war ein anderer Helikopter im Tiefflug über die Tannenspitzen geflogen und hatte mit dem Druck seiner Rotoren einen Regen von Zapfen, braunen Nadeln und trockenem Gezweig losgeschlagen.

Steele konnte den Hubschrauber nicht erkennen. Vielleicht war es die Polizei, die hier suchte, weil sie das Wrack gefunden hatte, oder die Alpini waren um Hilfe gebeten worden. Vielleicht waren es aber auch die anderen, und bei diesem Gedanken fragte sich Steele wieder, ob sie ihn nicht tatsächlich genau verfolgen konnten. Verfolgen anhand eines Senders, den sie ihm eingepflanzt hatten und von dem er nichts wusste. Die Vorstellung machte ihn wütend und verwirrte ihn aufs Neue. Bisher hatte Steele die Spitze einer solchen Waffe nie gespürt – die Waffe der Verunsicherung, der Unklarheit und des Selbstzweifels.

Inzwischen begann es zu dämmern, und zwischen den Stämmen schwand das Licht schon fast vollständig. Auf einem Absatz im Hang richtete sich Steele ein Lager ein. Er sammelte trockene Zweige und verteilte sie rund um seinen Schlafplatz. Sollte sich jemand anschleichen, dann würde er Steele zumindest nicht schlafend antreffen. Das Knacken der Zweige reichte als Warnsignal. Könnte es ein Vorteil sein, nicht im Schlaf überrascht zu werden?

 

Steele überlegte und zuckte die Schultern. Man konnte an den Punkt kommen, an dem man nicht mehr rational entscheiden brauchte, sondern nur versuchen musste, ein wenig Würde zu bewahren. Und für Steele gehörte es dazu, sich nicht im Schlaf überfallen zu lassen. Er kratzte mit den Fingernägeln eine Mulde in die Erde und legte sich hinein. Dann bedeckte er sich mit Tannennadeln und dem weichen Mulm, der den Boden bedeckte. Die Luft war inzwischen schon schneidend kalt geworden, aber unter dieser Decke und zusammengekauert wie ein Embryo ließ sie sich ganz gut ertragen. Ruhig stellte Steele den Plan der nächsten Tage zusammen.

Er musste am nächsten Tag etwas zu trinken finden, er musste in den nächsten drei Tagen etwas essen, sonst würde sein an sich schon angeschlagener Zustand gefährlich. Das alles sollte kein Problem sein. Steele bettete den Kopf auf einen Arm, spürte seinen eigenen Bizeps unter dem Ohr, stellte fest, dass dieser Muskel immer noch stahlhart war und grunzte in einem Anfall von Selbstironie. Da lag dieser Trottel Jeremy Steele irgendwo im europäischen Zentralgebirge, hatte nichts zu trinken und zu essen und nur noch ein paar Fetzen am Körper und stellte sich schon wieder die Frage, was er machen sollte, nachdem er seinen Kopf aus dieser Schlinge gezogen haben würde.

 

Die Nacht kam mit einer undurchdringlichen Schwärze. Einmal hörte er das ferne Dröhnen eines Fugzeugs, dann fiel erneut die Stille ein, in der der leichte Wind in den Bäumen winselte, in der irgendein Tier bei seinen nächtlichen Aktivitäten durch das Unterholz raschelte und eine Eule schrie. Während ihn der Schlaf langsam übermannte, durchdachte Steele die letzten Tage und versuchte, den Kardinalfehler zu finden. Die Müdigkeit erleichterte es, Abstand zu sich selbst zu gewinnen, bis sich vor dem inneren Augen Steeles ein Film abspulte, dessen Hauptperson seinen eigenen Namen trug. Die Erinnerungen an die vergangenen Tage tauchten vor seinem geistigen Auge auf und spielten sich noch einmal in einer sonnenhellen Klarheit, die ihn neugierig und erschrocken zugleich machte, ab.

***

Er hatte mit der gewohnten Aggressivität seine Nachforschungen begonnen. Die Flugpläne waren es gewesen, die ihm als Ansatzpunkt dienten. Bald stellte er fest, dass es sich weder um Linien- noch um Charterflüge handeln konnte. Wenn er die Flugpläne nahm und in Zusammenhang mit den Flügen brachte, die auf den großen Flughäfen an- und abflogen, dann passte nichts überein. Keine Angabe, bei der Stelle sagen konnte, das muss Flug soundso der Soundso-Airline sein. Zusätzlich stellte er fest, dass die angegebenen Zeiten oft derart eng zwischen den regulären Flugplänen lagen, dass es unmöglich gewesen wäre, diese Maschine in den überfüllten Warteschleifen und Anflugkorridoren unterzubringen. Also konnten die Flugzeuge nur auf kleineren oder kleinsten Plätzen gelandet sein. Entsprechend groß oder eher klein konnten die Maschinen dann nur gewesen sein. Der Verdacht, dass Pinazzi auf einer falschen Fährte gewesen war oder vielleicht nur völlig wertlose Informationen gesammelt hatte, überkam Steele. Dann begann er, die Flugpläne aus dem Koffer Pinazzis mit anderen Daten in Verbindung zu bringen. Mit Wetterinformationen, politischen Skandalen und sportlichen Großereignissen. Das Naheliegende fand er zuletzt. Die Flüge fanden bei abnehmendem Mond statt, mit einer gewissen Häufung um den Neumond herum. Hier war Steele klar, um was es sich handeln musste. Schmuggel. Kleine Flugzeuge, die in der Dunkelheit der Nacht, wenn nicht einmal der Mond eine Beleuchtung darstellte, über die Adria huschten. Voll beladen mit all den guten Sachen, die die Bevölkerung Italiens erfreut. Waffen, Drogen und vielleicht hin und wieder auch ein Mensch, der es sich mit albanischen oder sonstigen Behörden verdorben hatte und für einige Zeit Erholung in der gesunden Luft des freiheitlichen Italiens brauchte. Menschenschmuggel war ansonsten eher unwahrscheinlich – eine derart profane Ware wie Menschen wurde mit Seelenverkäufern über das Meer gebracht und nicht mit schnellen Kleinflugzeugen eingeflogen.

 

Steele filterte die möglichen Landeplätze an der Ostküste aus. Es erarbeitete sich ein Raster, in das er alle möglichen Faktoren einbezog: Entfernung zur kroatischen oder albanischen Küste, Militärflugplätze, Radarstationen, Häfen der Küstenwache, Geländebeschaffenheit, Hauptwindrichtungen, Ortschaften in der Nähe, Straßenverbindungen. Steele arbeitete lange und intensiv, war sich seiner Sache sicher und brauchte überflüssig lange, um zu erkennen, dass er auf dem Holzweg war. Es stimmte alles.

Die Theorie hatte keine Mängel, nur die Wirklichkeit beugte sich den Berechnungen nicht.

Dann tauchte ein Faktor auf, mit dem Steele nicht gerechnet hatte. Er stieß darauf, als er zur Entspannung eine Zeitung durchblätterte und ihm von einer Innenseite das Gesicht eines Fußballers entgegen grinste. Der pickelige Zwanzigjährige, der im Monat mehr verdiente als zwölf Dutzend Landarbeiter in einem Jahr, interessierte Steele wenig. Aber im Hintergrund, halb verdeckt von der ölig schimmernden Haarpracht des kickenden Jungidols war das Flugzeug einer Regionalgesellschaft erkennbar. Der Zufall wollte es, dass Steele bei seinen Flugplanstudien auch auf diese Gesellschaft gestoßen war. Er prüfte noch einmal seine Unterlagen und war sich dann sicher, dass entweder seine Unterlagen falsch waren oder der Jubeltext unter dem Foto, der die Ankunft zu einer ganz bestimmten Zeit an einem ganz bestimmten Ort beschrieb. Die Nachforschung bei der Zeitung ergab, dass der Redakteur zwar peinlichste Speichelleckerei betriebe hatte, als er seine Bildunterzeilen in den Textcomputer hackte, die Zeiten waren aber auf jeden Fall richtig wiedergegeben.

Als nächsten Schritt hatte sich Steele an die Fluggesellschaft gewandt. Er hatte mit den üblichen Schwierigkeiten gerechnet – Das ist unser Betriebsgeheimnis, Kommen Sie morgen wieder, Der entsprechende Mitarbeiter ist gerade in Urlaub / krank / schwanger / hat in der Staatslotterie gewonnen / wurde als Kinderschänder verhaftet/ ist gerade auf der Toilette.

Er geriet stattdessen erstaunlich schnell an eine nicht mehr ganz jugendfrische, aber dennoch ansehnliche Dame, die ihm etwas vom Handel mit Slots erzählte. Slots waren Start- und Landerechte, die die Gesellschaften für viel Geld bei den Flughäfen einkaufen mussten. Diese Rechte konnten zwischen den Gesellschaften gehandelt werden.

»Es gibt Zeiten, in denen das Geschäft schlecht läuft«, erklärte die Dame und tippte zerstreut mit den Spitzen ihrer schwarzen Pumps gegen den Schreibtisch. Sie hatte eine Art, die Beine übereinanderzuschlagen, die prinzipiell etwas irritierend wirken konnte, zumal diese Beine nicht nur als Gehgeräte brauchbar zu sein schienen, sondern auch unter ästhetischen Gesichtspunkten als hoch befriedigend anzusprechen waren. Dazu kam ein ganz leises knisterndes Geräusch, das die Strümpfe verursachten, wenn ihre Schenkel aneinanderrieben. Es war wie eine akustische Enthüllung intimster Regionen, ein Strip für die geneigten Ohren eines genießerischen Publikums. Das übliche weibliche Verhaltensmuster, knurrte Steele in Gedanken, die Weiber laden dich ein und sorgen zugleich dafür, dass du dich als Schwein fühlen musst, weil du dich eingeladen fühlst.

»Was habe ich mir darunter vorzustellen«, fragte er dann ungerührt.

Sie betrachtete ihre Schuhspitze, streckte ein wenig das eine Bein – wieder mit diesem elektrisierenden Knistern – und trommelte zerstreut gegen die blecherne Schreibtischwand. »Ferienzeit, Feiertage, Zeiten, in denen das Wetter so schlecht ist, dass keiner Lust auf einen Kurzurlaub hat.«

»Aber diese Zeiten, zum Beispiel Ferienzeiten, sind doch bekannt?«

»Sind sie.«

»Und warum hat Ihre Gesellschaft dann die Start- beziehungsweise Landerechte für Zeiten erworben, zu denen es sich geschäftlich nicht lohnt?«

»Aus zwei Gründen. Erstens sind das Erfahrungswerte, aber keine wissenschaftlichen Tatsachen. Zweitens werden diese Rechte im Paket verkauft, schließlich will die Flughafengesellschaft auch ihr Geschäft machen. Und dazu braucht sie durchgängigen Verkehr.« »Ich verstehe. Was bedeutet das für Ihre Gesellschaft?«

»Wieder zwei Dinge. Zum einen haben wir die Möglichkeit, den Verkehr mit kleineren Flugzeugen aufrechtzuerhalten. Wenn sich also herausstellt, dass nur eine geringe Zahl von Flugkarten für einen bestimmten Flug verkauft wurde, disponieren wir um und nehmen eine kleinere Maschine, die dann allerdings von einer Nebenpiste starten kann oder wir bringen die Passagiere gleich per Bus zu einem Regionalflughafen, wo die Probleme mit der Überfüllung gar nicht auftreten. Zum anderen können wir unsere Slots verkaufen. Für einen Tag oder für eine Woche, manchmal auch zwei. Das ist ein äußerst lukratives Geschäft, mit dem wir die Verluste durch Unterbuchung mehr als ausgleichen.«

»Das klingt so, als würde es sich lohnen, eine Fluggesellschaft zu betreiben, nur um die Rechte weiter zu verkaufen?«

Auf Steeles Frage wurde nur zustimmend genickt.

»Was ich nicht verstehe«, fuhr Steele fort, »wir reden doch über sehr kurze Zeiträume. Ich meine, Ihre Gesellschaft stellt fest, dass sich ein bestimmter Flug am nächsten Tag nicht lohnt. Können Sie trotzdem die Rechte für diesen Tag verkaufen?«

»Wir leben im Zeitalter von Telefon, Telefax und Internet. Natürlich geht das. Nicht unbedingt an die großen Gesellschaften, die an ihre Pläne gebunden sind. Aber nehmen wir ein Beispiel: Eine US-Charterfirma bringt einhundert Pilger nach Rom. Die sind froh, wenn sie die Möglichkeit haben, zur günstigsten Tageszeit in Rom zu landen, statt irgendwo in Posemuckel runterzugehen und ihre Passagiere an andere Gesellschaften weitergeben zu müssen oder andere Transportmöglichkeiten zu organisieren. Es gibt übrigens einige Agenturen, die so etwas organisieren. Teils sogar schon, wenn die Flieger über dem Atlantik sind.«

Steele setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. »Nun brauchen Sie mir nur noch zu verraten, mit welcher Agentur Ihre Gesellschaft zusammenarbeitet, und ich werde Sie nicht mehr belästigen.«

»Aber Sie belästigen mich doch nicht. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil -« Ihr Augenaufschlag war ebenso perfekt wie ihre Fähigkeit, unauffällig-auffällig ihr hübsches Gehzeug zu präsentieren. Und dann dieser Nimm mich-Blick unter samtweichen Lidern.

Um ein Haar verspürte Steele Bedauern, dass sie ihr Können an einem untauglichen Objekt einsetzte.

Das, was sich etwas hochtrabend Agentur nannte, waren zwei schwitzende, leicht dickliche Männer in Hemdsärmeln, die in einem Büro in einem Mailänder Hinterhof wirkten. Beim Betreten des Raumes hatte Steele den Eindruck, dass irgendwo in der Nähe eine Telefon-Zuchtfarm sein musste, deren Erzeugnisse ausgebrochen waren, nun überall lauerten und die Menschen mit ihrem Läuten terrorisierten. Es gab fünf Schreibtische, denen man ansah, dass sie den größten Teil ihres Lebens in irgendeiner Amtsstube verbracht hatten, bevor sie bei einer Ramsch-Auktion den Besitzer gewechselt hatten. Jeder Schreibtisch war mit Telefonen, Faxgeräten und flimmernden Computermonitoren be- und überladen und wo sich ein kleiner freier Fleck aufgetan hatte, hatten zerfledderte Flugpläne, Telefonbücher und Aktenordner ihren Nistplatz gefunden. Pizzareste, Kaffeetassen, vertrocknetes, angebissenes Backwerk und überquellende Aschenbecher schafften es, in diesem Chaos noch weitere Glanzlichter zu setzen.

 

Steele blieb in der Tür stehen und wartete, dass man seine Anwesenheit zumindest registrieren würde. Nichts dergleichen geschah. Zwischen den Geräten, die ständig irgendein Geräusch abgaben, huschten die beiden Männer eifrig hin und her. Da sie kein System zu haben schienen, nach dem sie die Anrufe entgegen nahmen, sprangen sie meist gleichzeitig zu einem Apparat, prallten zusammen, entschuldigten sich mit der ausschweifenden Höflichkeit zweier Fremder, die sich auf einem Bahnsteig in die Quere kamen, ignorierten daraufhin ihr ursprüngliches Ziel und eilten zu einem der anderen scheppernden Telefone.

Dort schrien sie heftig gestikulierend gegen den Bürolärm an, notierten Zahlen auf Notizblocks, rissen nach Beendigung des Gespräches den Zettel ab und nagelten ihn mittels eines Dartpfeils an die Wand. Zwischendurch hämmerten sie mit affenartiger Geschwindigkeit Nachrichten in ihre Rechner oder kritzelten Faxe, die sie abschickten, wobei das Gerät, dem sie sich zuerst zuwandten, meist durch ankommende Nachrichten belegt war.

Dann, als wäre irgendein geheimes Signal durchgegeben worden, stürzten sie sich erneut auf die Telefone, klemmten sich je eins zwischen linke und rechte Schulter, sodass sie dastanden, als würde der Glöckner von Notre Dame gerade resignierend die Schultern heben und brüllten Zahlen in die Hörer. Untereinander verständigten sie sich mit wedelnden Armen und Fingerzeichen. (Diese Fingerzeichen, dachte sich Steele, würden jedem Autofahrer im Mittagsverkehr südlich von Neapel sofort das Leben kosten.) Es gab, wie Steele nach einer Weile feststellte, tatsächlich zwei Stühle, die demselben Stall zu entstammen schienen wie die Schreibtische. Da sich keiner der beiden Männer aber je zu setzen schien, standen die Stühle ständig im Weg, wurden zur Seite gestoßen, wo sie sich meist unfallträchtig in den Weg des anderen schoben und wanderten so innerhalb kurzer Zeit einmal durch das Büro.

 

In Steele wuchs der Verdacht, dass hier lediglich ein Stromausfall die Möglichkeit eröffnen könnte, die Aufmerksamkeit und Zeit der Beiden zu gewinnen. Die Pausen der Männer bestanden in den kurzen Momenten, in denen sie zur Kaffeemaschine stürmten, die in einer Ecke vor sich hinbrutzelte – auch dieses ansonsten dezente Gerät hatte sich an die Lautstärke der Umgebung angepasst – sich den schwarzen Bräu in eine Tasse schütteten, einen Schluck nahmen und dann gleich wieder zum nächsten Telefon stürzten, wobei sie sich entweder mit dem Kaffee vollschlabberten oder, als geschicktere Alternative, die Tasse bis zum Telefon brachten, dann aber ihre Krawatte hineintunkten, was dazu führte, dass aus dem Binder noch einige Zeit Kaffeetropfen auf Hemd und Hose quollen. Für einen Moment spielte Steele mit dem Plan, eine Hauptsicherung herauszudrehen, dann entschied er sich für die einfachere Möglichkeit und schnappte sich unter Beachtung der Regeln der Höflichkeit einen der Männer und drängte ihn in eine Ecke. Der Mann roch nach einer Mischung aus Kaffee, Schweiß und übermäßigen Deodorantmengen und schaute Steele verwirrt an, als hätte er ihn eben erst gemerkt. Mit Hilfe eines seiner falschen Ausweise und einer erklecklichen Menge italienischer Währung versicherte sich Steele der fortwährenden Aufmerksamkeit des Mannes und bekam dann sehr schnell seine Information. Manchmal tauschten Gesellschaften ihre Slots einfach aus, erfuhr Steele. Was ihn aber mehr interessierte war, dass ein Logistikunternehmen es sich zum Prinzip gemacht hatte, bestimmte Rechte nach Bedarf zu kaufen.

»Russische Antonows mit russischer Crew in Fremdauftrag.«

»Wissen Sie, woher die Russen ihre Aufträge bekommen?«

»Ich hab’ mal gehört, dass der Auftraggeber in Bombay sitzt. Weiß ich aber nicht genau.«

»Und mit wem verhandeln Sie?«

»Mit der SSI.«

»Was ist die SSI«

»Security Systems International.«

»Also Frachtflüge.«

»Keine Ahnung. Für uns ist das egal. Ob die Mühle zum Frachtbereich fährt oder zum Passagierbereich ist gleich. Erst mal muss sie runter kommen. Dafür sorgen wir. Der Rest ist Sache der Gesellschaft und der Flughafenverwaltung.«

Als Steele über den Hinterhof schritt, klang ihm das Schrillen der Telefone noch immer in den Ohren.

SSI, das Kürzel kannte er aus Pinazzis Unterlagen. Der Kreis schien sich zu schließen.

Statt sich sofort an die Niederlassung der SSI heranzumachen, entschied sich Steele, den Frachtbereich des Flughafens unter die Lupe zu nehmen. Dort fand er das erwartete Bild: Ein hoher Maschendrahtzaun, von vier Reihen NATO-Draht gekrönt, Verbotsschilder, ein Rasenstreifen, dahinter eine Asphaltfläche, auf der Container lagerten. Kein Mensch war zu sehen, nur weit im Hintergrund, vor der großen Frachthalle, jaulte der Gasmotor eines Gabelstaplers.

Der Frachtbereich hatte eine Ausfahrt, neben der Ausfahrt stand ein Pförtnerhaus, in dem Pförtnerhaus war ein Pförtner und dieser erzählte, nachdem ihn Steele ein wenig in Laune gebracht hatte, was er wusste. Es war nicht viel, aber es reichte. SSI war ihm ein Begriff, einfach deswegen, weil sich diese Firma eine Reihe von Privilegien erkauft hatte. Sie besaß einen eigenen Sektor innerhalb des Frachtbereiches, hatte dort auch ein Büro in einem Container und sorgte mit einem eigenen Wachdienst dafür, dass kein Unbefugter an ihre Waren heranging.

»Was für Waren«, fragte Steele.

Der Pförtner, ein ausgetrockneter Invalide, der pfeifend atmete und sich immer wieder durch ein trockenes Hüsteln die Kehle freimachte, öffnete mit Knopfdruck den Schlagbaum, grüßte den Fahrer und ließ die Sperre wieder herabsinken.

»Was für Waren? Keine Ahnung. Ist auch nicht unbedingt gesagt, dass die SSI selbst das weiß. Die sorgen für Transport und Sicherheit. Soweit ich das verstanden habe, wenigstens.

Und die sorgen für viel Sicherheit, sage ich Ihnen. Schwarze Uniformen, schwarze Barette und immer zackig, aber Hallo. Da muss man nicht böswillig sein, um sich was zu denken.«

»Was könnte man sich denn denken?«

»Dass die Jungs verteufelt scharf sind. Und das die SSI eine Privatarmee hat. Ich sag’ mal so – den normalen Wachdienst macht ein Opa mit seinem Schäferhund. Wenn die Ausrüstung Spitze ist, hat er ein Funkgerät und irgendwo schnarchen ein paar Heinis, die mal beim Militär waren und kommen, wenn per Funk Hilfe angefordert wird. Ist doch so! So, und nun haben wir diese Typen vom SSI, denen sieht man von hinten an, dass sie fit sind bis in die Haarspitzen, und wenn man die Typen erlebt, ich sage Ihnen, die fressen bei ihrem Training noch ganz andere Sachen als die Frösche, auf die die Iwans so stolz sind. Oder die Amis, was weiß ich.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, dann gibt es entweder enorm wichtige Dinge zu bewachen oder die Wachleute sind eigentlich für ganz andere Aufgaben ausgebildet.«

»Genau so ist es.«

 

Ein Lastwagen fuhr heran und hielt quietschend vor der Schranke. Es war ein Scania- Fronthauber, jedenfalls war es einer, als er die Fabrik verließ. Jetzt war es eher als rollendes Kunstwerk anzusprechen, verziert mit Chromleisten, Büffelhörnern und aufgespritzten Pinup-Bildern.

Steeles zweite Instanz lobte sich, dass er solche Bilder so genau imaginieren konnte. Es nahm sich vor, diesen Traum nicht zu vergessen, die Bilder zu bewahren, sie irgendwann mit der Wirklichkeit zu vergleichen, um festzustellen, dass sie alle wahr waren.

»Diese Blonde da, mit dem tollen Quadratarsch, soll angeblich mal die Freundin von Tino gewesen sein. Behauptet er immer. Glaub ich aber nicht. An so ein Weib kommt so ‘n Kerl wie Tino gar nicht erst ran. Und außerdem« – der Pförtner hüstelte ausführlich, tauschte mit dem Fahrer Winkzeichen aus und ließ ihn dann passieren – wo war ich? Ja, außerdem poliert er viel lieber an seiner Kiste herum als an einer Alten, da bin ich mir sicher. Er hat übrigens auch schon mal für die SSI gefahren.«

»Das hätte ich früher wissen müssen.«

»Kein Problem. Er fährt jetzt nur drei Kilometer, da ist eine Raststätte für Lastwagen mit großem Parkplatz. Da macht er immer Pause und isst was. Übrigens, für welches Magazin schreiben Sie eigentlich?«

»Oggi. Normalerweise. Aber vielleicht verkauf ich die Story auch anderweitig. Mal sehen, wer am meisten löhnt. Bis dann also.«

 

Steele hatte von dem Fahrer nur einen bärtigen Kopf, Sonnengläser, Pferdeschwanz und speckige, tätowierte Arme gesehen. Als er jedoch die Raststätte betrat und zur Theke schaute, bestand kein Zweifel, dass der Rücken im Format eines ostpreußischen Kaltblüterhinterteiles dem bewussten Tino gehörte. Steele stellte sich in einiger Entfernung an einen freien Platz und bestellte ein Bier. Tatsächlich, das musste Tino sein. Jetzt erkannte Steele die Tätowierungen wieder. Das Besondere an der Körperkunst waren weniger die Bilder, als die Art, in der die Totenköpfe und andere kriegerische Symbole zwischen der schwarzen Behaarung durchschimmerten, als wären sie am Rande eines Urwaldes und schauten aus der Deckung des Gebüsches in die Welt. Tino stand in einigem Abstand vom Tresen, was durch den Platzbedarf seines Bierbauches bedingt war, der sich unter dem T-Shirt ausbreitete und zwischen Hemdsaum und Hosenbund als breiter Streifen weißer, schwarz behaarter Haut zutage trat. Tino trug Cowboystiefel, eine Jeans mit Schlangenledergürtel, dessen Schnalle mit einer Südstaatenflagge verziert war, und seine Frisur bestand aus einer Reihe von dünnen und recht spärlichen Kopfhaaren, die mithilfe eines Bürogummis im Nacken zusammengebunden waren. Der Bart dieses wandelnden Museums der Behaarung bestand aus einigen fadendicken Borsten, die unter dem Kinn zu einem Knebel zusammengedreht worden waren.

 

Steele zögerte nicht lange, rückte unauffällig an den Dicken heran und stellte sein Bier derart in Position, dass Tinos Ellenbogen geradezu zwangläufig gegen das Glas rempeln musste. Es stellte sich heraus, dass Tino in seinem Dinosaurier-Äußeren eine zarte Seele und ein freundliches Herz verbarg, sodass Steele sofort ein neues Bier spendiert bekam, was er aber nur unter der Bedingung anzunehmen bereit war, dass er Tino seinerseits noch eine Erfrischung spendieren durfte.

»SSI, kenn ich«, bekannte Tino, nachdem sie die übliche Reihenfolge der Themen durchgehechelt hatten, die aus Fußball, Autos, Politik und Frauen bestand.

»Haben die keine eigenen Fahrer?«

»Doch. Aber es ist so …« Tino trank einen Schluck Bier und wischte sich den Schaum aus dem Schnurrbart. »Also pass auf. Die haben eigenen Fahrer, aber die lassen sie nicht alle Strecken fahren.«

»Kapier ich nicht.«

»Hab ich mir gedacht. Is’ auch nich’ einfach. Es ist so, aber ich brauch’ ers’ noch mal ‘n Bier.«

»Klar, noch zwei bitte.«

»Danke, Kumpel, sehr großzügig. Also, stell’ dir das so vor. Du kriegst also den Auftrag von SSI, hängst dir den Hänger an deine Maschine und gleich steigt so ein Fuzzi in Uniform ein. Der sagt dir dann, wo es lang geht. Manchmal wird während der Fahrt umdisponiert, dann gibts Telefonate oder Funkverkehr und dann fährst du vielleicht auch noch mal hundert Kilometer zurück. Mir scheißegal, solange es Knete gibt dafür.«

»Gibt’s die?«

»Klar, Mann. Ich lass’ mich doch nicht verarschen. Was meinste, was ich für monatliche Zahlungen habe. Die Banken, das sind nämlich Schweine. Ich sag’s wie’s is’. Schweine. Geldgeile Schweine, die …«

»Also bezahlen tut SSI gut?«

»Die zahlen gut. Sind arrogante Spinner, aber geschäftlich kann ich nix gegen die sagen. Na ja, also du gurkst da durch die Gegend, in den Süden, nach Norden, was weiß ich, und dann hältst du irgendwo an, koppelst ab und einer von denen fährt seine Maschine unter den Hänger. Das war’s dann.«

»Irgendwie seltsam.«

»Muss was mit der Sicherheit zu tun haben.«

»Was fahren die denn?«

»Das erfährst du nie. Die Papiere hat der Typ auf dem Beifahrersitz.«

»Na gut, aber wenn du eine Ladung Ziegen fährst, dann würdest du es ja merken.«

»Es sind Container. Manchmal sind es solche Dinger, die einen Rahmen haben und darüber ist dann nur eine Plastikplane gespannt, damit man nich’ seh’n kann, was drin ist. Ja und dann – die tricksen auch.«

»Was heißt hier tricksen.«

Tino kicherte wie über einen guten Witz. »Also die schicken dich mit leeren Containern los.«

»Woher merkst du das?«

»Na, das werd’ ich wohl noch spitzkriegen, wenn ich ein paar Tonnen weniger zu ziehen habe. Nimm mal die gleiche Steigung und plötzlich bist du zehn Kilometer schneller als beim letzten Mal, da wird dir doch was klar, mal abgesehen davon, dass du es schon früher merkst, sonst kannst ‘e Pizza ausfahren mit dem Fahrrad, wennste den Unterschied nich’ mitkriegst. Prost.«

 

Nun schien ein Besuch der SSI-Niederlassung in Mailand angebracht, aber als Steele die Videokameras bemerkte, die den gesamten Straßenbereich vor dem Gebäude erfassten, entschloss er sich, auf ein persönliches Erscheinen zu verzichten. Er beobachtete aus sicherer Entfernung, versuchte herauszufinden, welcher Besucher des Hauses zum SSI wollte und welcher zu den Arztpraxen, den Anwaltskanzleien und er Vermögensverwaltung, die im selben Gebäude residierten. Es war ein fast ständiger Fluss von Besuchern, meistens Männer in Anzügen, die durch die Eingangstüre eingewedelt oder auf die Straße zurück geschoben wurden.

Keiner trug jene spezifischen Züge, auf die Steele gehofft hatte. Ein Mann fiel ihm auf, instinktiv, ohne dass Steele genau den Grund angeben konnte. Er trug einen blauen Anzug, mithin die Geschäftsuniform, die 90 Prozent aller Männer trugen, die das Gebäude betraten oder verließen. Er mochte Anfang fünfzig sein, mittelgroß, schlank, glatt rasiert, mit vollem weißem Haar. Vielleicht lag in seinen Bewegungen etwas, das ihn von allen anderen unterschied.

Hier hätte Steele aufmerksam werden müssen, aber er patzte. Er registrierte den Mann, fragte sich, ob es vielleicht etwas Militärisches sein mochte oder doch lediglich die Straffheit eines Büromenschen, der sich die Zeit für ein Fitnessstudio nimmt, und vergaß ihn dann.

Niemals hätte Steele erwartet, dass er den Mann so bald wiedersehen würde.

 

Die Umstände waren etwas absonderlich, denn Steele stand über einer Leiche. Es handelte sich um den noch warmen Körper eines Wachmannes in Diensten der SSI. Es war nie und nimmer Steeles Absicht gewesen, die Gesundheitsstatistik Italiens durch vorzeitiges Ablebenlassen tatkräftiger Jungmänner zu verderben. Was er wollte, war ganz einfach: Sich ein wenig umschauen. Deswegen war er über den Zaun geklettert, hatte sich auf das Frachtgelände geschlichen und den Bereich der SSI aufgesucht. Deswegen hatte er sich an einen der Container herangemacht. Der Behälter ähnelte, wie er bald feststellte, einem Zwischending aus Klein-U-Boot, Dekompressionskammer und Laborgerät. Als er eine kleine Sichtluke entdeckte, schob sich Steele zwischen Abdeckplane und Behälter vorwärts, musste aufpassen, nicht an einer der Leitungen, Hebel und Handräder hängen zu bleiben, und leuchtete in das Innere des Behälters. Zuerst erkannte er nichts außer den nackten Wänden einer Kammer.

Dann schien sich in einer Ecke etwas zu regen und Steele drückte das Gesicht gegen das Glas und hielt seine Lampe so, dass sie gerade noch diesen Winkel erfasste. In dieser Kammer war etwas. Vielmehr es schien etwas zu sein. Etwas, das lebte oder das zu leben schien, das sich regte oder das sich zu regen schien. Angestrengt verzog Steele das Gesicht und versuchte, einem Verdacht die Gewissheit folgen zu lassen. Seine Hand begann vor Anstrengung zu zittern und teilte diese Bewegung der Lampe mit. Der Lichtstrahl verwischte. Steele stellte ihn ab, ruhte sich für einen Moment aus und erstarrte. Deutlich hatte er ein Geräusch gehört. Ein Schleifen, das aus dem Behälter kam. Er stellte sich wieder in Position, luchste durch das Glas, erkannte nichts und schaltete wieder die Lampe an. Dann durchfuhr ihn ein eisiger Schrecken, eine Reaktion, die unterhalb jedes bewussten Willens ablief, ihn zu einer hektischen Flucht zwang, bei der er die Lampe verlor. Als Steele um den Behälter herumging, vielmehr lief, denn es trieb ihn immer noch zur Flucht, sprang der Wächter aus dem Schatten und griff mit einem Messer an. Steele blieb nichts anderes übrig, als den Messerarm des Angreifers zu unterlaufen, zu packen und nach hinten zu schwingen. Das Gelenk zersprang mit lautem Krachen, für Steele das Signal die Aktion fortzusetzen, indem er das Knie des Gegners mit einem wuchtigen Tritt zertrümmerte. Der Mann schrie auf und kippte nach hinten und hier wäre die Sache erledigt gewesen, aber nun fuhr die linke Hand des Angreifers zum Stiefel und kehrte mit einem Dolch bewaffnet zurück. Dem Stich konnte Steele mit knapper Not ausweichen, er war völlig überrascht, dass nun die nächste Runde eingeläutet werden sollte. Der Mann musste irrsinnige Schmerzen haben, dennoch agierte er mit kalter Berechnung und etwas, das bei einem Soldaten als Selbstaufopferung bezeichnet worden wäre. Als der nächste Angriff Steeles Jacke durchstach und die Haut über den Rippen ritzte, blieb keine andere Wahl. Er warf sich auf den Gegner, fixierte ihn für eine Sekunde auf dem Rücken und schmetterte den Ellenbogen auf dessen Herzgegend. Ein Stöhnen, die Hand mit dem Dolch klatschte kraftlos auf den Asphalt und es war vorbei. Steele erhob sich. Der Kampf hatte die Panik aus seinem Geist weggewischt und er konnte sich einen Moment Zeit nehmen, um zu überlegen, was er gesehen hatte. Es ließ sich nicht in Worte fassen. Es war etwas.

 

Wenn er es zeichnen sollte, hätte Steele ein Auge gezeichnet. Ja, nach einiger Zeit war er sich sicher, dass er ein Auge gesehen hatte. Oder etwas, dass er Auge nennen musste, weil es keinen anderen Begriff dafür gab. Nicht nur er hatte gesehen. Er war gesehen worden. Das Etwas hatte ihn angeschaut und wie der Stachel eines Insekts war etwas in seine Seele oder in sein Bewusstsein gefahren und hatte mit unglaublicher Geschwindigkeit sein Gift hineingepumpt.

Ein Gift, das aus den geheimsten Kammern seines Wesens Ängste, Befürchtungen, Frustrationen herauslöste und sie lebendig machte. In diesem Moment, so glaubte sich Steele zu erinnern, war es gewesen, als wäre in seinem Kopf eine tausendköpfige Menschenmenge und jeder Kopf hatte ein Gesicht mit Augen, die ihn fixierten und einen Mund, der auf ihn einschrie. Und sie waren nicht nur in seinem Kopf, sondern auch draußen, waren körperlich und real, schoben sich über seine Schulter und berührten sein Ohr, während sie schrien und keiften und schimpften. Steele blieb nur die Flucht.

Während er nun darüber nachdachte und den Mann vor seinen Füßen betrachtete, wurde ihm etwas anderes deutlich. Sie hatten auf ihn gewartet. Sie wollten ihn lebendig, sonst hätte dieser Mann Lärm geschlagen oder ihn aus der Deckung heraus einfach niedergeschossen. Als Steele in seinen Überlegungen zu diesem Punkt gekommen war, hörte er hinter sich ein Geräusch. Er fuhr herum, erkannte einen weißhaarigen Kopf in der Dunkelheit, hörte ein Zischen und wurde von einem Gasstrahl getroffen. Er hat irgendein Ventil an diesem Behälter geöffnet, konnte Steele noch denken, dann wollte er sich zur Flucht wenden. Sein Kopf gab die Befehle an den Körper weiter, Steele war sich sicher, dass er sich umwendete, aber es schien, als hätte sich sein Körper verdoppelt, sich gespalten in eine immaterielle innere Schicht, die wie üblich gehorchte und eine äußere Hülle, die starr wie Metall geworden war und ihn wie eine Rüstung einzwängte. Steele kippte nach hinten. Starke Hände hielten ihn auf.

Der Weißhaarige trat heran. »Gestatten Sie, Herr Steele, das ich mich vorstelle – mein Name ist Francois de Montalban.«

 

Steele hörte sich selbst zornig knurren, als diese frische Erinnerung an ihm vorbeizog.

Steele kuschelte sich in seine Erdmulde und ließ die Ereignisse weiter Revue passieren.

Du bist wie ein Paarhufer, dachte er, musst alles wiederkäuen. Aber vielleicht fällt dir dabei noch etwas auf, dem du zu wenig Bedeutung beigemessen hast.

Die Männer hatten ihn aufgehoben und zwischen den Containern hindurch zu einem Büro geschafft. Dieses befand sich seinerseits in einem der genormten Plastikkästen, wie man sie auf jeder Großbaustelle gestapelt als Unterkünfte findet. Steele war inzwischen steif gewesen wie eine Schaufensterpuppe, seine Arm- und Beinmuskeln hatten sich zusammengekrümmt und zwangen seine Glieder in eine Haltung, die ganz entfernt an die Position erinnerte, in der sich Großwildjäger ihren ersten Bären präparieren lassen: mit weit auseinandergestellten Beinen und erhobenen Pranken. Das Atmen wurde mühsam. Steele schnappte keuchend nach Luft, seine Organe kämpften gegen das Gewicht einer Haut, die sich in eine Eisenpanzerung zu verwandeln schien.

Das Büro bestand aus zwei Räumen. Sie brachten Steele in den hinteren Raum und legten ihn in einen Bürostuhl. Dann gingen alle, bis auf den Mann, der sich als Francois de Montalban vorgestellt hatte. Steele hing quer über der Sitzfläche, sein steifer rechter Arm klemmte zwischen Rückenlehne und Armstütze und bewahrte ihn davor, zu Boden zu gleiten.

»Es ist wirklich erstaunlich, dass Sie noch leben.« Montalban setzte sich auf den Schreibtisch und drehte mit den Füßen den Stuhl, sodass er Steele in das Gesicht schauen konnte. »Sehen Sie, dieses Gas ist je nach eingeatmeter Menge lähmend oder tödlich. Sie haben die Menge mitbekommen, die eine Herde Blauwale auf der Stelle umbringen müsste. Nun ja, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Warten wir die Entwicklung einfach ab.«

In Steeles Ohren klang ein heulendes, gurgelndes Geräusch, das sich in einem hastigen Rhythmus wiederholte. Es war ganz nahe bei ihm, dennoch brauchte er eine unendliche Weile, um zu verstehen, dass es sich um seine eigenen Atemzüge handelte. Seine Pupillen blickten starr in eine Richtung, fest auf einen Punkt in der Ferne fixiert. Die Augen begannen ihm zu tränen, weil der Lidschlag ausgesetzt hatte. Nur das Herz polterte noch und die Lunge saugte zwischen den starren Kiefern weiterhin Luft ein. Steele hatte jegliches Gefühl für den eigenen Körper verloren. Sein Bewusstsein schien in einer wattigen Masse zu schweben; nicht frei, aber auch nicht mehr an die körperliche Gestalt gebunden. Da er die Pupillen nicht mehr fokussieren konnte, wurde das Gesicht seines Gegenübers zu einer fleischfarbenen Fläche, die von Silberfarbe bekrönt und von zwei Punkten durchbrochen wurde. Sein Geschmackssinn funktionierte noch, und er schmeckte den bitteren Speichel, der sich in seinem Mund sammelte, ihm in den Rachen rann und dort für quälende Sekunden das Atmen unterbrach.

 

Die Tür war aufgemacht. Eine Person trat ein, ging an Steele vor bei und stellte sich hinter den Schreibtisch. Für einen Moment war der Abstand so, dass Steele den Mann scharf sehen konnte. Einen wohlgenährten Pakistani oder Inder mit auffallend schwarzen Augen.

»Er lebt immer noch.« Das war die Stimme Montalbans.

Der andere antwortete in einem Englisch, das deutlich die Herkunft des Mannes vom indischen Subkontinent bestätigte. »Es ist unüberhörbar. Wie lange noch?«

Schweigen. Ein Geräusch von einem teuren Seidenjackett. Montalban hatte die Schultern gezuckt.

»Überlebt er?«

»Unwahrscheinlich. Aber er ist erstaunlich zäh. Vielleicht überlebt er tatsächlich.«

»Wer ist er?« Das war wieder der Inder oder Pakistani.

»Der Nachname lautet Steele. Vorname beginnt mit J.«

»Nicht allzu viel, wenn ich vorsichtig formuliere.«

»Er ist raffiniert. Benutzt falsche Identitäten und ändert sein Aussehen. Jedenfalls müssen wir das annehmen. Bisher war er uns noch nicht aufgefallen. Vielleicht unser Fehler. Vielleicht auch sein Verdienst. Vielleicht kam er uns bisher noch nicht in den Weg.«

»Dafür ist er uns und unseren Auftraggebern sehr plötzlich sehr nahe gekommen.«

»Was solls? Er hatte nie eine Chance. Ah, da kommt Jean mit den Papieren.«

Das Öffnen einer Tür, Schritte, Papiergeraschel, Schritte, das Schließen einer Tür. Es blieb eine Weile still, als Montalban die Unterlage studierte. Dann trat er wütend gegen den Stuhl.

»Was bildet sich dieser Idiot eigentlich ein. Was glaubt er eigentlich, wer er ist und wer wir sind?«

»Vielleicht sagen Sie mir wenigstens, was Sie glauben, wer er ist.«

»Journaille. Ein Extremjournalist. Schnüffelt doch tatsächlich hinter uns her.«

In Steeles Nase stieg der Geruch von Aqua di Parma, und die fleischfarbene Fläche füllte das Blickfeld aus.

»Was bildet sich dieser Idiot eigentlich ein, sich mit uns anzulegen?«

»Sind Sie sicher, dass er ein Journalist ist, Montalban?«

»Nein, verdammt, bin ich nicht. Ein Journalist hätte sich nie so weit vorgewagt. Dieses Gesocks ist feige. Schreibt lieber Gerüchte und Vermutungen, als die Wahrheit zu riskieren.«

»Welche Wahrheit?«

»Ich bin nicht in Stimmung für akademische Diskussionen.«

»Dann sind Sie vielleicht in Stimmung, mir zu berichten, was der Pariser Untersuchungsrichter über den Unfall zu sagen hat.«

»Den Unfall? Ach so …« Montalban brach in ein boshaftes Lachen aus. »In der letzten Zeit hatten wir eine Menge Unfälle. Sie meinen die Bereinigung der Angelegenheit Henri Paul?«

»Was sonst?«

»Meine Güte, die Sache ist wahrhaftig lange genug her, was soll da ein kleiner Pariser Untersuchungsrichter noch groß sagen, außer, dass es keine neuen Befunde gibt und die Akte abgeschlossen wird. Warum also diese Aufregung?«

»Wenn Sie am Tag der Beisetzung in London gewesen wären, dann wüssten Sie, warum bei mir diese Aufregung herrscht.«

Jetzt, wo sich der Mann mit den dunklen Augen tatsächlich aufregte, schlug sein Akzent deutlicher durch. Er musste ein Inder sein. Steele lauschte und vergaß darüber das rasselnde Geräusch seines eigenen Luftschnappens. Worüber redeten diese Männer?

»Sie werden lachen, ich war in London an diesem denkwürdigen Tag einer weibischen Massenhysterie«, bekannte Montalban ungnädig. »Ich habe die Weiber ihre Schnupftücher vollrotzen gesehen vor lauter sahniger Trauer. Und dann erst, als die Queen den Kopf neigte.

Welches Ereignis. Was schert uns der Zusammenbruch des Empires, wenn wir der Queen beim Kopfnicken zuschauen dürfen? Es lebe der Tod eines Medienereignisses. Wir haben diese Hochglanzprinzessin zur Heiligen gemacht. Die erste Heilige mit Gucchi-Schuhen. Sie sollte uns dankbar sein, Matanka.«

»Ich kann Ihren Frohsinn nicht teilen. Wir sind ein unnötiges Risiko eingegangen. Wir hätten die Sache an Asmodin weitergeben sollen.«

»Ach, und Sie glauben, das Loch in der Stirne oder die aufgeschlitzte Kehle, die dieser Experte hinterlassen hätte, wären weniger auffällig gewesen?«

»Zumindest hätte Asmodin nicht halb Großbritannien in gefühlsmäßige Raserei versetzt.«

Mit einem geschmeidigen Sprung entfernte sich Montalban von Steele und nahm wieder seinen Platz auf dem Schreibtisch ein.

»Gefühlsmäßige Raserei, was? Hübsch gesagt. Ihnen sollte klar sein, dass wie damit einen schönen Nebeneffekt erzielt haben, der uns unserem Enderfolg näher gebracht hat.«

»Zu einem hohen Preis.«

Montalban schnalzte ironisch mit der Zunge. »Lassen Sie uns eines klarstellen. Wir haben klare Vorgaben und eindeutige Kompetenzen. Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Sache bisher gut gelungen ist. Es ist meine Aufgabe …«

»Es ist jedenfalls nicht Ihre Aufgabe, die Ex-Frau des britischen Thronfolgers umzubringen.«

»Wir haben die ganze Angelegenheit, glaube ich mich erinnern zu können, schon mehrmals durchgesprochen. Fräulein Diana Spencer, geschiedene Windsor Mountbatten, interessierte mich weniger als das Schwarze unter meinen Nägeln. Aber Henri Paul war einer, der etwas wissen konnte, weil er sich … ich spreche immer im Konjunktiv … die Überwachungsbänder des Ritz einmal in ihrer ganzen Herrlichkeit hätte anschauen können und dann, er war ja nicht blöde, gewisse Schlussfolgerungen hätte ziehen können. Können Sie mir folgen?«

»Durchaus.«

»Fein, ich bemühe mich ja auch, nicht zu schnell zu sprechen. Henri Paul war also ein Liquidationsobjekt. Hätten wir ihn, so wie Sie es mit Ihrem geschätzten Könner Asmodin vorgeschlagen haben, auf die übliche Weise kaltgestellt oder ihn verschwinden lassen, was wäre dann wohl passiert? Ich will es Ihnen sagen. Alle hätten sich gefragt, warum der gute alte Henri, dieser nette Kerl, auf so fürchterliche Weise et cetera et cetera. Und dann hätte das Geschnüffel begonnen. Und ich will es Ihnen deutlich sagen, bloß weil einer bei der Kriminalpolizei arbeitet, ist er nicht naturnotwendig auch blöde. Nein, es gibt intelligente Kriminalisten und einige sind sogar weder erpressbar noch bestechlich. Widerliche Exemplare. Und mit denen hätten wir ein Problem am Hals gehabt, nicht mit heulenden britischen Hausfrauen. Was macht man also? Man beseitigt Henri Paul und lässt es so aussehen, als hätte dieser widerliche Alkoholiker diese seltsame Medienheilige, Prinzessin von Wales genannt und ihren Lover, den wohlsituierten und sanftäugigen Herrn Dodi Dingenskirchen auf dem Kerbholz. DAS IST GENIAL. Es ist einfach ein Geniestreich. Kein Mensch wird je auf den absurden Gedanken kommen, dass dieser tragische Unfall in einem Pariser Tunnel nicht auf die Unachtsamkeit eines betrunkenen Fahrers zurückzuführen ist, sondern dass es die Liquidation, oder nennen wir es einfach Ermordung, des Fahrers war. Die geniale Nebelkerze. Die Medien, die Menschen – alle hassen den armen Kerl, der am Lenkrad saß und keiner versteht die Wahrheit. Keiner wird sie je erfahren. Höchst befriedigend!«

»Und wie haben Sie es mit dem Alkohol hingekriegt?«

»Ein Klacks. Eine chemische Substanz mit einem Namen, den ich jetzt nicht ausspreche, sonst habe ich einen Knoten in der Zunge. Aufgebracht auf die Bürsten des Schuhputzautomaten, den Paul kurz vorher benutzte.«

»Durch das Leder der Schuhe?«

»Durch das Leder der Schuhe. Übrigens gar nicht mal so originell. Der Trick steht auch im Homicide Manual, ein nicht uninteressantes zweibändiges Werk, das sich mit den besten Methoden beschäftigt, unauffällig einen Menschen vom Leben zum Tode zu bringen. Es ist natürlich in den USA erschienen und nur über das Internet zu bestellen. Vermutlich hängen sich die Dienste schon an die Namen der Besteller dran. Werden wohl zu neunzig Prozent hoch motivierte Kriminalschriftsteller sein, die dem geneigten Leser einmal eine Spezialität bieten wollen.«

»Und was war Ihre Spezialität?«

»Wie meinen? Ach so … die Substanz blockiert kurzzeitig die Leber und wirkt auf den Darm. Man wird dann schon betrunken von einem trockenen Brötchen, Sie verstehen?«

»Und das können Sie zeitlich steuern?«

»Da haben Sie einen schwachen Punkt erwischt. Wir wussten nicht, wann unser verliebtes Paar geruhen würde, das Restaurant des Ritz zu verlassen. Wir saßen wie auf heißen Kohlen, aber dann entschloss sich der Herr Lafayette sehr plötzlich zum Aufbruch. Und wir setzten dann auf die Fotografen. Die bringen ja jeden zum Wahnsinn.«

»Es sind zumindest die Buhmänner.«

»Richtig. Es braucht ja keiner zu wissen, dass unsereins als Sonderservice für Ihre Hoheit unterwegs waren.«

»Der ominöse weiße Fiat, nehme ich mal an.«

»Selbiger, allerdings war es ein Renault Alpine im Kleid eines Fiat – damit die Lackspezialisten auch etwas hatten, um sich auszumären. Ein wirklich hübsches Auto.

Schwer genug, um selbst eine Panzerlimousine zu irritieren, wenn man nur am richtigen Hebelpunkt ansetzte. Nur schade, dass es am Tag danach schon in einem Hochofen landete.«

»Trotzdem, ich bleibe dabei. Die Aktion war es Risiko.«

»Ich hatte nicht erwartet, dass Argumente Ihre Meinung ändern können. Ich bleibe übrigens bei meiner Meinung, wenn Sie erlauben. Wir werden auch weiterhin ein Flugzeug auf ein Hotel knallen lassen, falls wir einen Hotelgast loswerden wollen. Wir leben im Medienzeitalter. Im Zeitalter der Infantilität auf allen Ebenen, der Hysterie, der Gefühlsduselei und der Suche nach der nächsten Nachricht. Das müssen wir nutzen.

Nebelkerzen. Die großen Tragödien und die herzzerreißenden Bilder für das Zuschauervieh – und hinter dem Geschwafel machen wir das, was wir tun wollen.«

»Ich glaube, er stirbt.« Die schwarzen Augen des Inders waren jetzt nahe an Steeles Gesicht. Ihre Schwärze war so intensiv, dass sie wie ein Energiestrahl durch die Lähmung Steeles hindurchfuhr. Jetzt war das Geräusch verschwunden. Steele lauschte. Da, es gurgelte wieder. Seine Lunge hatte erneut angesetzt und saugte wie eine müde Maschine Luft an.

»Ganz erstaunlich«, sagte der Inder.

»Ein Einzelfall. Ein Spiel der Natur.«

»Und wenn nicht?«

»Was dann?«

»Woher soll ich es wissen. Aber nehmen wir an, es gibt einige wie ihn, Montalban. Sollte uns das nicht misstrauisch machen?«

»Sollte es. Aber wir können in seinen Kopf schauen. Wenn er weiterlebt, werden wir herausfinden, wer er ist, was er will und ob er Teil eines Planes ist.«

»Der Gedanke gefällt mir nicht. Teil eines Planes. Wir sollten das nicht einmal aussprechen. Da bin ich abergläubisch, Montalban.«

»Nicht nur da. Wir lassen ihn hier, bis wir ihn sicher abtransportieren können. Dann sehen wir weiter.«

Steele lag in dem dunklen Büro und lauschte auf sein Atemholen. Ein hässliches Geräusch nach Krankheit und Verfall, das über sein Leben entschied. Einmal Luft holen und der Moment des Erlöschens war für einige Sekunden zurückgedrängt. Noch einmal Luft holen, und der Tod wich eine Handbreit zurück …

Fortsetzung folgt …