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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Im Wettlauf mit der Zeit – Teil 1

Tony Tanners Tagebuch

Es gibt nichts Erhebenderes, als wenn du in dein Büro zurückkehrst und feststellst, dass keiner deine Abwesenheit irgendwie bemerkt zu haben scheint. Absolut motivierend. Inzwischen muss ich mir fast irgendwas abbrechen, um auch nur ein freundliches Lächeln von irgendeiner mittelalterlichen Sekretärin abzustauben. Muss wohl an meinem Alter liegen.

Oder ich bin noch nicht ganz im Alter für die Mädels mit den Vaterkomplexen und schon zu alt, um noch mütterliche Gefühle hervorzurufen? Wieso komme ich von mütterlichen Gefühlen auf Francine? (Immer zu Scherzen aufgelegt, unser kleiner Tony.) F. rief mich gestern im Büro an und wurde richtig patzig, weil ich mich in den letzten Wochen nicht um sie gekümmert hätte. Als sie merkte, dass diese Masche nicht zog, wurde sie elegisch und zog die Nummer mit den Schwangerschaftsdepressionen ab und dass der kleine Rabauke in ihrem Bauch Nachwuchs für die nationale Rugby-Liga bedeuten würde. Ich drückte ihr mein tiefstes Bedauern aus und sagte ihr, dass ich ganz wild darauf wäre, sie mal wieder zu sehen.

Das war eine Lüge. Wird mir nur Minuspunkte einbringen in der Endabrechnung meines chaotischen Lebens. Im Grunde bin ich inzwischen gegen Francine ziemlich immun, glaube ich zumindest, jedenfalls, solange sie nicht auf einen Kilometer an mich herankommt. Im Notfall denke ich an Lucille, die ab und zu anruft. Das ist ungefähr so praktisch, als würde ich Zahnschmerzen dadurch bekämpfen, dass ich mir mit dem Vorschlaghammer auf die Daumen haue. Kann auf mein blödes Privatleben im Moment wirklich bestens verzichten.

Ich versage als Trinker. Wenn ich jemals Enkel haben sollte, dann ist das wohl das Einzige an Lebenserkenntnis, was Opa Tony denen weitergeben kann: Jungs, benutzt ein Kondom nie zweimal, macht immer einen Doppelknoten und betrinkt euch nie mit Cognac. Lord – war mir vielleicht schlecht. Und dann Dorkas mit seinen Anfällen von Samaritertum.

Ihr Körper braucht Flüssigkeit. Sie müssen trinken. Aber die physiologischen Voraussetzungen eines Katers bin ich mir durchaus im Klaren, aber da trinke mal einer, wenn er sofort wieder alles ausspeien muss!

 

In dem Zustand bin ich ins Büro. Kommt mir dieses Arschgesicht Heathercroft direkt entgegen und muss mit mir unbedingt was bereden. Ich hab ihn abgewimmelt und bin dann erst mal zum Lokus, zwecks Abgabe von Gallen- und Magensaft in Großhandelsmengen.

Dorkas entwickelt einen ziemlich lästigen Sinn für Humor.

Entdeckte am Morgen im Badezimmer auf meinen Schulterblättern irgendwas Dunkles. Habe mir fast den Kopf verdreht, um es im Spiegel anschauen zu können. Es sieht aus wie einige große Punkte, die etwa im Dreieck angeordnet sind. Dachte natürlich sofort an Hautkrebs, die Ökomanen mit ihrem Ozonlochgerede haben mich anscheinend ziemlich gehirngewaschen.

Ich also zu Dorkas und der ist ganz begeistert von meinen Macken da hinten und sagt, ich brauchte mir keine Sorgen zu machen, das sei kein Melanom. Ich frage, was es dann sei und er sagt, wenn er mir’s sagt, glaube ich’s ihm doch nicht. Und ich sage, er soll mir die Entscheidung gefälligst selbst überlassen. Und Dorkas sagt, das wären Krallenspuren – vom Adler des Zeus! Halte inzwischen alles für möglich.

Fange an, mich wieder fit zu halten. Das heißt, ich versuche es, indem ich durch den Hydepark jogge. Die ersten Versuche waren kläglich. Du keuchst vor dich hin und plötzlich ziehen ganz locker zwei knackärschige Mädels an dir vorbei und unterhalten sich und du läufst in dieser Schleppe aus Schweißgeruch und Parfum, die sie hinter sich herziehen, irgendwie ganz appetitlich, und trittst dir dabei fast auf die Zunge vor Erschöpfung.

Bin dazu übergegangen, meinen Jogginganzug nass zu machen, bevor ich loslaufe, das sieht dann wenigstens so aus, als hätte ich schon die Marathondistanz hinter mir. Irgendwann halte ich die halbe Stunde bei mittlerem Tempo wohl durch.

Kenne ich einen Fritz Weiss? Absolut nicht, aber Dorkas fragte mich danach und nervte mich, weil er mich dabei anglubschte wie ein MI 5-Verhörexperte. Ende des Lieds war, dass ich ihm einen Platz nannte, in den er sich seinen Fritz Weiss stecken könnte, und irgendwie hat Dorkas darauf beruhigt reagiert.

 

Gleich ist Termin bei der Polizei, zusammen mit meinem Anwalt. Ich würde lieber zum Zahnarzt gehen. Irgendwie muss ich diese Seite noch voll kriegen. Dieser Halbe-Seiten-Kram im Tagebuch nervt. Sieht so unordentlich aus. (An dieser Stelle würde Francine mal wieder feststellen, dass ich ein Pedant bin. Bin ich auch. Aber lass du dich für diese Bemerkung von deinem Symbionten mal richtig von innen treten, meine Schöne.) So, das waren wieder vier Zeilen.

Als ich mich heute früh im Spiegel anschaute, kam von irgendwoher, wo mein Gewissen seine Notunterkunft haben muss, der Gedanke: So sieht also ein Dieb aus. Das war mir irgendwie gar nicht richtig bewusst geworden – dass ich klaue wie ein Rabe und dass ich nicht sicher sein kann, dass man mich nicht einmal dafür vor Gericht stellt. Das gefiel mir nicht, absolut nicht. War so ungefähr dasselbe Gefühl, als würde mir einfallen, dass ich seit Wochen einen wichtigen Termin verschlampt habe. Die ganze Geschichte hat zwei Aspekte – erstens habe ich eine Scheißangst (verzeih mir die Kraftausdrücke, Herr-Frau-Fräulein-Tagebuch), dass mir mal eine schwere Hand auf die Schulter fällt und mir eine finstere Stimme den Zustand meiner Festgenommenheit verkündet.

Jetzt brauche ich doch eine neue Seite …

… und dann stecke ich tief im Loch und Francine schickt mir selbst gebackenen Kuchen und Fotos ihrer Kinder, und der Anstaltspfarrer will mit mir Schach spielen. Zweitens – ich mag es nicht, ein Dieb zu sein. Ich habe einem netten Menschen damit vielleicht Probleme bereitet, und auch wenn Dorkas behauptet, mein Diebesgut wäre schon längst wieder auf dem Weg zum Besitzer, bleibt ein mieses Gefühl. Ich meine, wie soll ich das vor mir selbst rechtfertigen?

Ich könnte sagen, dass besondere Situationen besondere Maßnahmen erfordern und dass ein Mann manchmal Dinge tun muss, die ein Mann eben tun muss, Superklischee! Aber auf die Tour kommt jeder Folterknecht, jeder KZ-Kommandant und jeder steuererhöhende Finanzminister zu seinem ruhigen Schlaf.

***

Warum habe ich das alles getan? Weil Dorkas es mir gesagt hat?

Ich habe nur auf Befehl gehandelt, hohes Gericht. Oder weil ich ihm glaubte, dass es notwendig sei? Weil ich einen Schuss im Socken habe? Weil meine Hormone verrückt spielen?

Weil ich mich inzwischen daran gewöhnt habe, dass mich alle Welt kalt machen will, sodass es mir nichts ausmacht, alle Welt zu beklauen? Also, es läuft wohl darauf hinaus, dass ICH glaube, dass es notwendig ist. Und wenn ich in der Zelle sitze und Tüten klebe, die Augen auf der Mittelseite einer dieser elenden Sexpostillen, dann kann ich mir zumindest sagen, dass ich zwar eingeschränkten Respekt vor den Eigentumsrechten anderer hatte, aber niemals ein Leben in Gefahr gebracht habe. So, jetzt höre ich mitten in der Seite auf.

Gewissenserforschung macht depressiv. Kann ich mir im Moment nicht leisten.

Der Anwalt tätschelte väterlich beruhigend Tonys Bein und zerdrückte dabei die messerscharfe Bügelfalte der dunkelgrauen Flanellhose. Tony bemühte sich, den Schaden zu beheben, eine lächerliche Tätigkeit, wie er sich selbst zugestand, aber es lenkte ihn ab. Vor den beiden Männern stand ein Schreibtisch und hinter dem Schreibtisch saß die staatliche Gewalt personifiziert durch Ephraim Bontom, seines Zeichens Kriminalbeamter mit Scotland-Yard-Ambitionen.

 

Der Raum war sparsam eingerichtet und dünstete die graue Fadheit jener Orte aus, an denen in westlichen Demokratien des ausgehenden zweiten christlichen Jahrtausends Menschen und Schicksale zu Aktenzeichen eingedampft werden. Während der ganzen Zeit, die sie hier in diesem Büro verbrachten, hatte Bontom Tony Tanner keines Blickes gewürdigt, geschweige denn, dass er ein Wort an ihn gerichtet hätte. Er unterhielt sich nur mit dem Anwalt und redete genüsslich von Ihrem Mandanten.

Bei diesen Worten zuckte Tony jedes Mal zusammen. Für ihn hatte der Begriff Mandant ungefähr denselben Inhalt wie das Wort Delinquent.

 

»Vergewaltigung, schwere Körperverletzung in zwei Fällen, Diebstahl, Verkehrsgefährdung, unbefugtes Befahren einer öffentlichen Grünfläche, Sachbeschädigung … ja, da kommt was zusammen!« Bontom blickte von seiner Akte auf und fixierte finster den Anwalt. In Tonys rechter Hand machte sich ein nervöses Zittern bemerkbar. Was der Beamte da gerade mit seiner metallischen Stimme vorgelesen hatte, klang nach Zuchthaus und Zwangsarbeit. Er schaute gesenkten Blickes auf die Beine Bontoms, die dieser unter dem Schreibtisch ausgestreckt hatte. Diese ausgestreckten Beine hatten eindeutig etwas von einer Reviermarkierung. Das ist mein Büro und ihr zieht gefälligst die Haxen ein und nehmt mir keinen Platz weg, lautete die unmissverständliche Botschaft. Aus den grün karierten Beinkleidern ragten weiße Socken, die in abgeschabten, ungepflegten Latschen endeten. Der Anblick dieser Schuhe sagte Tony alles. Dieser Bontom war alles, aber kein Herr. Derart ungepflegtes Schuhwerk verriet einen geradezu provozierenden Mangel an Stil. Und dazu die weißen Socken!! Die Tatsache, dass ein Weiße-Socken-Träger hier über sein Schicksal mitentscheiden konnte, machte Tony das missliche seiner Lage erst recht bewusst.

Nun denn – er setzte sich aufrecht hin, schlug lässig ein Bein über das andere und begann auf einen Punkt zwischen den Brauen Bontoms zu starren. Wenn schon ein Untergang, dann sollte es richtig krachen. Sein Anwalt warf ihm einen prüfenden Blick zu, in dem Tony eine leichte Warnung zu lesen glaubte. Bontom schlug seinerseits ein Bein über das andere und musste offensichtlich erst damit fertig werden, dass ihn eine Unperson mit einer Art von freundlicher Unverschämtheit anschaute. Er räusperte sich.

»Nun, was haben Sie dazu zu sagen?« Tonys Anwalt begann seine Ausführungen mit einem demütigen Kopfnicken.

»Vielleicht sollten wir zuerst kurz erwähnen, dass sich mein Mandant hier freiwillig gestellt hat …«

»Er ist seiner Festnahme lediglich zuvorgekommen. Wir hätten ihn schon bald bekommen«, fuhr ihm Bontom ungnädig in die Parade.

»Ohne Zweifel«, fuhr der Anwalt ungerührt fort. »So, wie Sie ihn in den letzten zwei Monaten bekommen haben.«

»Wollen Sie an dieser Stelle Zweifel an den Fähigkeiten der britischen Strafverfolgungsbehörden zum Ausdruck bringen, mein Herr?« Das war genau die Art Sätze, für die Bontoms Stimme geschaffen war. Er beugte sich nach vorne und stützte sich mit den Fäusten auf den Schreibtisch, das Bild eines gereizten Löwen, der den Hyänen noch eine letzte Rückzugschance gewähren wollte.

 

Ephraim Bontom, der im Namen ihrer Majestät bestrebt war, Übeltäter der strafenden Gerechtigkeit der Justiz auszuliefern, hatte ein hartes, längliches Gesicht, in dem sich die Backenknochen wie Felsstücke unter der Haut hervordrückten. Die Augen lagen tief in den Höhlen und glitzerten daraus hervor wie beutegierige Muränen aus ihrer Lauerstellung. Aber diesen Augen wucherten mit der ungebändigten Kraft eines Wüstenbusches die Brauen. Auf der kahlen Stirn sollten einige sorgfältig, aber auffällig drapierte Haarsträhnen einen Bewuchs vortäuschen, den die Lebensjahre Bontom schon längst genommen hatten. (Jeder auch nur halbwegs klare Blick in den Spiegel hätte Bontom davon überzeugen müssen, dass er lächerlich aussah, stellte Tony fest. Dieser Mann vereinigte Eitelkeit mit Mangel an Selbstkritik und Stil. Eine absolut gefährliche Mischung, davon war Tony überzeugt.)

Überhaupt hatte Tony Tanner den Eindruck, dass bei der Herstellung dieses Gesichtes zu wenig Haut zur Verfügung gestanden hatte, sodass die vorhandene Fläche mit ziemlicher Gewalt über den Schädel gespannt werden musste. Vermutlich befanden sich irgendwo im Nacken dieses Kopfes einige Druckknöpfe, welche die Konstruktion zusammenhielten. Tony stellte sich unwillkürlich vor, wie die Knöpfe unter der Spannung wegplatzten und die Gesichtshaut wie der Rest einer verschrumpelten Backpflaumenpelle an der Stirn klebte. Dieses Bild erheiterte ihn, sodass er ein leises Kichern nicht mehr unterdrücken konnte.

Bontom stand nun vor der Schwierigkeit, dass er einer Person, deren Nichtvorhandensein er selbst beschlossen hatte, keinen strengen Verweis wegen ungebührlichen Benehmens erteilen konnte.

Der Anwalt spürte Bontoms Irritation sofort. Er entschloss sich, die Taktik zu ändern und die Lücke in der Deckung seines Gegners zu einer Attacke zu nutzen.

»Gegenfrage: Was würden Sie denn von den Fähigkeiten einer Behörde halten, die dem Anwalt des Beschuldigten über Monate hinaus nicht mal vollständige Akteneinsicht gewähren kann?« Bontom leistete sich sekundenlang die Schwäche, den Blick nach einer Antwort suchend auf der ihm gegenüberliegenden Bürowand entspringen zu lassen, und der Anwalt setzte konsequent nach.

»Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht einmal die vollständige, wörtliche Aussage des … angeblichen … Opfers vor die Augen bekommen. Und das, was ich bisher zu sehen bekam, nach langer Zeit, wie ich betonen möchte, ist schlichtweg lächerlich. Wirres Gestammel, Widersprüchlichkeiten, die beim ersten Durchlesen auffallen. Ich vermute, ich erzähle Ihnen damit wenig Neues: Sogar die britischen Behörden haben Pflichten!«

»Es gab … äh, Verzögerungen. Miss Meewissen stand unter Schock und äh …«

»Verzögerungen ist eine freundliche Umschreibung für etwas, was man auch Schlamperei nennen könnte. Und Schlamperei wäre selbst die freundlichere Variante …« Der Satz endete im Ungewissen, der unausgesprochene Rest baumelte wie ein Köder im Raum. Und Bontom biss an.

»Wollen Sie den Behörden Ihrer Majestät etwas unterstellen«, fauchte er.

»Wollen Sie mir etwa unterstellen, ich wolle Ihnen etwas unterstellen«, kam die wenig beeindruckte Antwort. »Ich rede über Tatsachen. Zum Beispiel von den Widersprüchlichkeiten in den Aussagen der Silka Meewissen – wo steht übrigens, dass sie britische Staatsbürgerin ist -, die Sie bewusst ignorieren oder überspielen, um die fantasievolle Schmonzette dieses Dämchens zum Anlass nehmen, einen unbescholtenen britischen Bürger – einen in Staatsdiensten zudem … ich sage nur Stichworte: Foreign Office, Buckingham Palace, Downing Street Number 10 – in den Mühlen der Justiz klein zu mahlen. Stimmen Sie mir da zu?«

Mit einem Quietschen der Gummiabsätze auf dem Linoleumboden zog Bontom seine Beine an. Er klappte sie unter den Stuhl und saß mit gekrümmtem Rücken, die Unterarme auf der Schreibtischplatte, wie eine mit aller Kraft zusammengedrückte Feder.

Jetzt war es an dem Anwalt, mit ausgestreckten Beinen sein Territorium zu erweitern und klarzustellen, wer in diesem Duell die Oberhand hatte.

»Na ja, ich wäre an Ihrer Stelle nicht so siegesgewiss – wir haben doch diese äh, Körperverletzung, die Sachbeschädigung, den Diebstahl?« Bontom schien sich bereits auf dem Rückzug zu befinden.

Jedenfalls bemerkte Tony, dass das Wörtchen »schwere« vor dem Wort »Körperverletzung« schon fehlte.

Der Anwalt sprach mit kleiner, scharfer Stimme weiter. »Vielleicht biegen Sie das Betreten eines Gerüstes seitens Herrn Tanner noch zum Hausfriedensbruch um«, höhnte er. »Aber Sie haben mir ein Stichwort gegeben: Körperverletzung. Die Aussagen der beiden Wachen sind ebenso nebulös wie die von Miss – wo steht eigentlich, dass sie eine Miss ist? – Meewissen. Statt sich, wie es die Aufgabe einer verantwortungsvollen kriminalistischen Durchleuchtung des Falls gewesen wäre, um die Personen dieser Wachen zu kümmern, wird mir hier deren Aussage wie das Wort der Bibel vorgelegt. Ich bin beeindruckt! Haben Sie sich oder einer Ihrer Mitarbeiter einmal die Mühe gemacht, überhaupt nachzufragen, warum gerade diese Typen zu gerade diesem Zeitpunkt auf den Hilferuf der Sekretärin reagierten? Haben Sie nicht, ich weiß. Aber ich habe es zumindest versucht. Und ich stelle fest, dass die Anstellungsverträge dieser Herren irgendwo im Dickicht der Bürokratie verloren gegangen sind. Und dass diese Herren selbst, soweit sie überhaupt greifbar sind, alles andere als unbeschriebene Blätter sind. Ein Abgleich mit Ihrer Kartei hätte da eine lange Liste an Vorstrafen zum Vorschein gebracht, genug, um selbst Sie mit einer gewissen Vorsicht an die Aussagen der beiden herangehen zu lassen.«

Bontom murmelte etwas von Datenschutz, ein Argument, das der Anwalt mit einer ungeduldigen Geste zur Seite wischte.

»Datenschutz, dass ich nicht lache. Ich habe die eidesstattliche Aussage eines freien Journalisten, der die ganze Geschichte von Polizeiseite in allen Einzelheiten durchtelefoniert bekam. In allen Einzelheiten wohlgemerkt, die Sie mir jetzt erst, Monate später, präsentieren, beziehungsweise die ich noch nicht einmal schriftlich in Aktenform zur Durchsicht bekommen habe. Fällt Ihnen etwas auf dabei?«

»Sicher, da, nun ja, da ist einiges einzuräumen. Aber …« Bontom versuchte, sich zu strecken, » … es gibt einen Vorgang, Akten und … man kann doch nicht sagen, dass die Vorwürfe aus dem Nichts entstehen!«

»Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund: Vorwürfe aus dem Nichts! Lächerliche Anschuldigungen, Sensationspressenfantasien, Unterstellungen auf Groschenromanniveau, in Akten reingeschmiert! Gefasel einer sexuell neurotisierten Hysterikerin. Wie gefällt Ihnen das?«

»Wir haben ein wasserdichtes psychologisches Gutachten, das die Version von Miss Meewissen bestätigt.« Bontom trumpfte auf. Aber der Anwalt beugte sich weit nach vorn über die Schreibtischplatte.

»Wasserdicht? Ein psychologisches Gutachten wasserdicht? We are not amused! Ich schaffe Ihnen in zwei Stunden ein Dutzend Gegengutachten heran. Und warum dieser Gutachter? Warum dieser Vlad Serebriakoff? – Hatte ich schon gefragt, ob dieser Mann Brite ist?«

»Weil er ein renommierter und angesehener Wissenschaftler ist. Darum.«

»Unfug. Der Mann hat noch nie ein Gutachten für die Kriminalpolizei erstellt. Seltsam, nicht wahr, dass er gerade jetzt in Anspruch genommen wird? Das Gutachten können Sie sich an die Wand nageln! Sollten Sie tatsächlich den Staatsanwalt finden, der sich mit dieser Geschichte lächerlich machen will, dann nehme ich Ihnen ihre Silke Meewissen coram publico auseinander – und Sie und Ihre Abteilung werden die Kolateralschäden abbekommen, darauf können Sie sich einstellen. Wo ist denn die DNS-Untersuchung? Wo ist überhaupt die medizinische Untermauerung dieses Vorwurfes? Da kann ja jede Schlunze kommen und einem britischen Bürger, der das Pech hat, in unseren feministisch verseuchten Zeiten noch ein männliches Primärorgan zu besitzen, Vergewaltigung vorwerfen? Und das reicht dann in den Augen unserer Polizei. Sind wir also inzwischen bei der Inquisition angekommen? Hexenjagd einmal umgekehrt? Der Kerl hat einen Schniedel, auf den Scheiterhaufen mit ihm! Ist es das?«

»Ihr Studententheater in allen Ehren, Herr Anwalt, aber wir reden hier über Fakten und nicht über Ihre Jean d’Arc-Variante.«

»Über Fakten reden wir? Über Fakten? Wunderbar. Reden wir also über Fakten! Reden wir über die Fakten, die wir nicht kennen, nämlich ob überhaupt die angebliche Vergewaltigung stattgefunden hat, außer in der Vorstellung von Silke Meewissen. Und dann reden wir über Fakten, die wir kennen, nämlich über einseitige Vorgehensweise der Polizei, Ermittlungspannen, Bekanntgabe von Interna an die Presse, Behinderung der Verteidigung – und wenn wir da durch sind, dann können wir über den Rest reden, dass sich Herr Tanner gegen zwei Männer zur Wehr gesetzt hat, die wegen schwerer Körperverletzung im Knast gesessen haben und den Rest – nebbich – die Scheibe, Beschädigungen am Tor, verbeultes Blech an einem Auto und umgeknickte Grashalme, so was bezahlt man aus der Portokasse.«

»Sie sind vielleicht ein bisschen großzügig in Ihrer Rechtsauffassung, Herr Anwalt?«

»So, meinen Sie? Ich sehe das anders. Ich sehe alle eventuellen Schäden, die Herr Tanner unter Umständen vielleicht angerichtet haben könnte, als höchst verständliche und vor allem entschuldbare Reaktion auf einen Angriff auf seine Person. Dann sind wir schon bei Notwehr und den Rest putzen wir mit temporärer panikbedingter Überreaktion von der Platte. Und dann …« Der Anwalt machte eine Kunstpause und beobachtete Bontom, der unbehaglich auf seinem Stuhl rutschte. »… und dann sind WIR dran und dann stellen WIR eine Schadensersatzforderung in siebenstelliger Höhe. Das wird ein Spaß. Machen Sie nur so weiter und Sie werden den Medien als klein gehackte Appetithappen serviert.«

Bontom fühlte sich sichtlich unbehaglich. Daher stellte er eine Frage, die seine ganze Unsicherheit und Angst offenlegte: »Und – was meinen Sie, wie das jetzt weitergehen soll …?«

 

Der Anwalt milderte seinen Tonfall in einer Weise, dass Tony Tanner zur Tür schaute, um sich zu vergewissern, ob gerade die kleine Tochter des Anwalts eingetreten war, vor der ihr Vater seine Heftigkeit nicht zeigen wollte. Aber da war keine kleine Tochter. Tony bekam Hochachtung vor diesem Anwalt, der die Klaviatur aus Flauschis und Frosties meisterhaft beherrschte.

»Sie sind ein aufrechter Brite wie ich und wie Mister Tanner. Wir haben eine lange Tradition, und in all dieser Zeit ist dem Empire auch einiges misslungen. Wir können lange über Schuld und Unschuld reden – und doch wissen wir, dass ein Land Dinge tun muss, die es eben tun muss – und ein Mann muss Dinge tun, die er eben tun muss. Wir, Sie und ich, haben gelernt, in einem harten und ehrlichen Leben, dass wir die Ideologien den Realitäten in Vernunft zuordnen müssen. Ich bin ganz sicher, dass wir, wir als Briten, als Engländer, einen praktikablen Weg als Gentlemen finden werden – hier und heute. Im Angesicht Gottes. Er schütze die Königin!«

Tony Tanner fragte sich für einen Moment, ob er in einem Theater säße. Welche Rolle hatte er dabei – Zuschauer oder »Der Mann der Dinge tut, die ein Mann tun muss«? Nein, er war nicht in einem Theater. Es musste wohl Alices Wunderland sein.

In Bontoms Wangen traten die Kinnmuskeln wie Taustränge hervor. »Wenn ich den Weg klar sehen würde … wir haben die Fakten, nun, dazu muss vielleicht nachgedacht werden, sicherlich, und wir haben ein anstehendes Verfahren – zunächst, also Ihr Mandant, Herr Tanner meine ich, es gibt da eine Regelung, wenn Sie sicherstellen können, dass er sich regelmäßig meldet und seine Reisen bekannt gibt, dann könnte er auf freiem Fuß bleiben – wissen Sie …«

Tony und der Anwalt tauschten Blicke. Tony nickte. Es war vielleicht lästig, aber man musste auch Bontom die Chance geben, sein Gesicht zu wahren. »Das stellen wir sicher – und Sie werden Ihren, wenn auch mühevollen Weg in diesem Sinne ebenfalls gehen?«

»Mir wird etwas einfallen. Wir Engländer sind ein kreatives Volk!« Sie gaben sich die Hände und blickten sich als stolze Briten in die Augen. Tony und der Anwalt wandten sich anschließend zum Gehen. Noch ehe sie die Tür erreicht hatten, rief Bontom den Anwalt zu sich zurück.

»Sie haben vorhin etwas angedeutet – Ministerium, der Hof – haben Sie immer noch die Absicht – nun, ich meine, dort, sagen wir, in gewisser Weise – tätig zu werden?«

»Einstweilen tun Sie so, als hätte ich diese Worte nicht gesagt und stattdessen Leicester Square oder St. Pauls Cathedral … Und ich hoffe, wir müssen nicht darauf zurückkommen!«

Dafür erntete er von Bontom einen dankbaren Blick.

Als sie das Gebäude verließen, atmete Tony tief durch.

»Habe ich die Sache jetzt hinter mir?«, fragte er.

»Soviel Optimismus kann ich leider nicht aufbringen. Aber wir haben beste Aussichten, die ganze Geschichte aus der Welt zu bekommen, ohne dass sich ein Richter damit beschäftigt. Wenn ich erst einmal alle Unterlagen habe, werde ich klarer sehe. Bis dahin – Kopf hoch.

Dem Galgen sind Sie zumindest entronnen. Und Bontom, da bin ich sicher, ist etwas zu eingeschüchtert, um die Sache richtig hochzukochen.«

Der Anwalt steuerte einen Taxistand an. Bevor er in einen der wartenden Wagen stieg, wandte er sich noch einmal an Tony. »Sagen Sie, haben Sie vielleicht mal die Frau eines Staatssekretärs … mmh … in den Fingern gehabt? Oder haben Sie einem hohen Tier den Lustknaben ausgespannt? Schauen Sie nicht so empört, ich frage ja nur. Tatsache ist, dass irgendjemand Ihnen an den Kragen will und dass dieser Jemand beste Beziehungen hat. Also, ich sage das nur aus christlicher Verantwortung für den Nächsten – passen Sie auf sich auf und bleiben Sie mit schnuckeligen Blondinen nie alleine in einem Zimmer, so schwer Ihnen das fallen wird. Bis dann. Ich habe Ihre Nummer.«

Tony schaute dem Taxi nach, das sich in den Verkehr einfädelte und dann zwischen den anderen Autos verschwand. Ein Passant ging hinter seinem Rücken vorbei, und Tony fühlte einen Schauder und setzte sich in Bewegung. Was waren das doch für Zeiten gewesen, als er noch ein Leben führte, das ihn nicht zwang, ständig mit dem Rücken an einer Wand zu stehen.

***

»Nun ja«, sagte Dorkas. »Ich kann nicht sagen, dass ich es nicht genießen werde, wenn Sie nicht stundenlang mein Badezimmer in Beschlag nehmen, um sich darin – wie man nennt man das heute – aufzubrezeln wie eine Jungmaid. Aber irgendwie werde ich die Abende mit Ihnen vermissen.«

»Und die Gespräche über Monstrositäten und geheimnisvolle Ereignisse, nicht wahr? Ich bin ja nicht aus der Welt. Es scheint eher so, als hätten wir immer noch eine gemeinsame Aufgabe.«

»Richtig und damit geben Sie mir schon das Stichwort.« Dorkas ging aus dem Zimmer, wühlte in einem Stapel Zettel neben dem Telefon und kehrte zurück. Er hielt Tony den Zettel unter die Nase. Vlad Serebriakoff stand dort in Dorkas’ Handschrift.

»Ich kenne diesen Namen«, sagte Tony kühl.

»Ach«, Dorkas kratzte sich verdutzt am Kopf. »Woher, wenn ich fragen darf?«

»Er hat das psychologische Gutachten über diese Sekretärin erstellt. Diese Ziege, die ich vergewaltigt haben soll.«

»Ja, ja, war mir schon klar.« Dorkas begann eine Wanderung durch den Raum. Nach einer Weile blieb er stehen, stach mit dem Zeigefinger Löcher in die Luft und tippte schließlich auf Tonys Brust.

»Fehler! Sie haben einen Fehler gemacht. Nein, nicht Sie, Herr Tanner! Die anderen, die Gegenseite, unserer Gegner, wie auch immer. Die haben geschlampt. Wissen Sie, woher ich den Namen Serebriakoffs habe? Von einem Journalisten, der durch die Aufklärung eines jüngst stattgefundenen Kunstraubes einen Karrieresprung gemacht hat – das ist eine andere Geschichte. Also, dieser Serebriakoff ist es, der sich bereit erklärt hat, dieses verschwundene und wieder aufgetauchte Mädchen psychologisch zu betreuen.«

Mit auf den Rücken verschränkten Händen, was ihm ein wenig das Aussehen eines Storchs gab, lief Dorkas hin und her. So konnte er Tonys fragenden Ausdruck nicht bemerken.

»Was für ein Mädchen«, fragte Tony schüchtern.

»HERR TANNER, was ist mit Ihrem Gedächtnis? Habe ich Ihnen nicht eine längere Vorlesung über das Mondkind und Ähnliches gehalten? Wenn Sie mir schon nicht zuhören, dann lassen Sie es mich wenigstens nicht so deutlich merken.«

»Verzeihung, ich erinnere mich. Aber ich hatte gehofft, es wäre alles ein Alptraum gewesen.«

»La vie – un cauchemare«, rief Dorkas pathetisch aus und grinste dann mit fröhlicher Boshaftigkeit in Tonys Richtung. »Sie machen sich immer noch Illusionen über Ihr Dasein, junger Mann. Sei’s drum. Also – Serebriakoff hat sich dieses Mädchens bemächtigt. Und er macht ein psychologisches Gutachten, um Sie in die Pfanne zu hauen!«

»Nun sagen Sie mir schon, womit ich demnächst den Kopf riskieren soll.«

»Habe ich was gesagt?« Dorkas griente über das ganze Gesicht wie ein Reklameweihnachtsmann. Er war erstaunlich guter Laune, und Tony fragte sich heimlich, ob das wirklich mit der Neubesitznahme seines Badezimmers zu tun hatte.

»Haben Sie nicht. Aber Sie haben geschwiegen.«

»Oh ihr schönen Frauen, sucht ihr einen Mann, der Feinfühligkeit und Sensibilität mit dem eifrigen Gebrauch teurer Deodorants vereint? Hier steht er und er heißt Tony Tanner. Also, gut, ich habe geschwiegen. Geschwiegen heißt, Sie schauen sich diesen Serebriakoff mal Aug’ in Aug’ an!«

»Warum ich und nicht Sie? Er wohnt ja nicht mal in Wales.«

»Mit Ihrem Notstandshumor würden Sie sicherlich eine unserer Shit-Coms im Fernsehen bereichern. Nein, ich bin anderweitig beschäftigt. Ich versuche herauszufinden, was mit Kate Gould passiert ist, also mit der regulären Sekretärin von Puttkammer. Und bei der Gelegenheit kann ich ja auch mal ein wenig in die Personalakten peilen, wer die Sicherheitsbeamten waren, die Sie so arg molestiert haben und wer für deren Einstellung verantwortlich ist. Alles Dinge, die mir leichter fallen als Ihnen, denn ich habe im British Museum einen, na ja, sagen wir gefestigten wissenschaftlichen Ruf, was man von Ihnen, Herr Tanner, nicht behaupten kann. Also ist das meine Aufgabe. Herr Little wird mir helfen.«

»Wenn ich mir das Mienenspiel des Herrn Little in den letzten zehn Sekunden anschaue, dann nehme ich an, dass der noch gar nichts davon weiß, dass er Ihnen helfen wird.«

»Jetzt weiß er es«, erklärte Dorkas ebenso lakonisch wie wahrheitsgetreu.

Little zuckte nur mit den Schultern und beschäftigte sich weiter mit einem Schinkenbrötchen.

»Weiter im Text. Also, Serebriakoff für Sie und Kate Gould für mich beziehungsweise für uns. Damit haben wir erst einmal zu tun. Vielleicht kommt mir in der Zwischenzeit dann auch eine Idee.« Direkt vor Tony stoppte Dorkas seine Wanderung.

»Ich habe die Karten von Sara … – von dieser Person X, Sie wissen schon, – mit den anderen Sachen verglichen, die ich schon vorher hatte. Ich bin so nah dran.« Dorkas führte vor Tonys Nase seinen Zeigefinger nahe an den Daumen. »So nahe. Ein blödes Gefühl. Absolut blöde. Es ist, als würde man in einer Prüfung irgendeinen Namen auf der Zunge haben und man kriegt ihn nicht heraus. Wie gesagt, ein wenig Ablenkung bringt vielleicht den letzten Erkenntnisschub.«

»Was ist mit den Behältern und dem SSI?«, fragte Tony.

Dorkas holte sich einen weiteren Zettel, auf dem er Stichworte notiert hatte. »Security Systems International – Hauptsitz Marseille, Dependancen in London, Boston, seit neuestem Prag, vorher Wien. Ja, Geschäftsgebiete Logistiksicherung, Personenschutz, Beratung. Beratung ist natürlich der Punkt. Wie komme ich an zehn M-1-Panzer, und dann fangen die Leute von SSI an zu beraten. Also, die Jungs sind im Waffengeschäft. Allerdings

sozusagen halboffiziell. Das heißt, wenn unsere Regierung der Meinung ist, Staat X sollte Waffen bekommen, aber die hiesige Öffentlichkeit sollte nichts davon erfahren, dann tritt das SSI in Aktion. Übrigens ein Klub hochdekorierter Soldaten.«

»Wie habe Sie das denn nun wieder herausbekommen?«

»Ganz einfach. Ich habe die Liste der verantwortlichen Geschäftsträger des Londoner SSI eingesehen und mit der Liste der Ordensverleihungen der Armee in den letzten zwei Jahrzehnten verglichen. Wenn es sich nicht um eine geradezu absurde Zufallsgleichheit der Namen handelt, sitzen in der SSI-Führung hochdekorierte Männer mit Falkland- und Golfkriegserfahrung. Alle von SAS, SBS oder dem Royal Marine Commando gekommen. Also das beste, was Britannien aufzubieten hat, wenn mal wieder Krieg auf der Tagesliste steht.«

»Heute wird Britannien ziemlich stark strapaziert – es ist das Land, das Dinge tut, die ein Land tun muss!« sinnierte Tony, und Dorkas schaute ihn verständnislos an.

»Falkland ist ja schon ein paar Tage her«, müffelte Tony ungnädig.

»Na und. Die Leute von damals sind heute höchstens Anfang fünfzig. Und ein gut erhaltener Fünfzigjähriger mit dem Training haut noch jeden Zwanzigjährigen aus den Stiefeln, ohne vorher Luft zu holen. Es kommt mir aus eines an – dieser SSI ist eine kleine Armee, verstehen Sie? Klein, hoch technisiert und schlagkräftig. Ich weiß nicht, wie viele Leute unter Vertrag stehen, aber es wird den SSI-Chefs ein Leichtes sein, innerhalb von sagen wir drei oder vier Monaten eine Truppe zusammenzustellen und auszubilden, die in neunzig Prozent aller UNO-Mitgliedsstaaten einen Umsturz fördern oder sonst wie dort die Macht übernehmen könnte. Und ich rede nur von der britischen Dependance. Überlegen Sie, was allein an Material, Menschen und Waffen, im Ex-Ostblock freigesetzt worden ist. Da wäre alles zu haben – von zehntausend Fallschirmjägern bis zur Mittelstreckenatomrakete. »

Dorkas musterte finster den Fußboden, bevor er fortfuhr. »Ein Wespennest, in das Sie gestochen haben. Gut, die Behälter. Es war nichts herauszubekommen.«

»Was haben Sie gegen Fenster? Nehmen wir mal an, das spezielle Gas dient als Medium, um irgendwelche Metalle oder so herzustellen oder zu bearbeiten – dann müsste man von außen hereinschauen können und müsste von außen auch Werkzeuge im Inneren bedienen können. So in der Art, wie man es in Atomfabriken macht.«

»Möglich, möglich. Aber es hilft uns nicht weiter. Tatsache ist, dass diese Transporte einen gewissen Seltsamkeitsfaktor haben, auch wenn man mal die Kosten bedenkt. Aber wir können diese Sache nur im Hinterkopf behalten. Im Augenblick fehlt uns die Zeit, dort weiter nachzubohren. Noch was. Ich sehe den Namen gerade auf meinem Zettel. Dieser Ronald Gainsworth ist seit einiger Zeit von der Bildfläche verschwunden. Er soll in einer Londoner Galerie ausstellen. Ich werde in den nächsten ein, zwei Tagen die Adresse haben, und dann können wir uns mal die Malereien anschauen, die Sie so extraordinär und tief beeindruckt haben.«

Sie beschlossen, die Runde mit einer Tasse Tee zu beenden. Das Gespräch zog sich zäh dahin. Im Grunde war jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, und doch schrak jeder davor zurück, die Runde aufzuheben. Vor allem Tony dachte mit wenig Vorfreude an seine Wohnung. Natürlich war es Dorkas, der sich laut auf die Schenkel klatschte und ein Jetzt wird es aber Zeit für uns Hübschen ausrief.

***

Hinter der Wohnungstür lauerte der Geruch muffiger, ungelüfteter, seit Langem unbewohnter Zimmer. Tony blieb an der Tür stehen und ließ diesen schimmligen Mief an sich vorbeiziehen.

Trübselig und grau wie ein Regentag, abstoßend wie die Ausdünstung eines zu lange gebrauchten Bettlakens. Erinnerungen kamen in Tony hoch – Rückkehr aus dem Urlaub, das Ende des Sommers, ein Haus, das ihn schon mit dieser verbrauchten, würgenden Luft wieder vertreiben wollte, fort in die verhasste Welt des Internates. Er durchschritt schnell alle Zimmer und riss alle Fenster auf. Erst danach fühlte er sich etwas besser. Aber das Gefühl der Fremdheit blieb. Seine Wohnung wirkte wie ein Kleidungsstück, das seit Langem nicht mehr getragen wurde und nun nicht mehr passt.

Er stieß sich an Schränken, rempelte gegen Sessel und stolperte über Stuhlbeine. Es mochte sein, dass diese Dinge früher an ihrem Platz gestanden hatten, weil er selbst sie dort haben wollte. Aber nun lehnten ihn die Möbel ab, wollten ihn ärgern und provozieren und ihm klarmachen, dass er nicht mehr derjenige war, dem sie gerne und treu zu Diensten gestanden hatten. Es gab keine andere Möglichkeit, die Herrschaft wiederzugewinnen, als aufzuräumen und Staub zu wischen.

Schließlich fühlte sich Tony völlig leergebrannt und ließ sich vom Fernseher berieseln.

Bevor er einduselte, während auf der Mattscheibe ein Moderator mit zappeliger Gestik und Sätzen, die ein Maximum von drei Worten enthielten, eine neue Popgruppe als die Entdeckung des Jahres (es handelte sich, grob geschätzt, um die sechzigste oder siebzigste geilste Rookie-Band des Jahres) anpries, dachte er an Dorkas, der das Fernsehen als Verblödungsmaschine Nummer Eins bezeichnete, an Francine, die es mit anderen Typen getrieben hatte und wieder mit ihm zusammenleben wollte, an Heathercroft, den er immer noch nicht gefoltert hatte, und an Vlad Serebriakoff, den er sprechen musste.

***

»Das … ist … in der Tat … bemerkenswert.« Dorkas setzte seine Worte mit der Konzentration eines Picadors, der seine Stäbe in einen Stierrücken sticht. Der Verwaltungsangestellte suchte mit fahrigen Fingern ein weiteres Mal den Karteikasten durch, nur um auch diesmal nicht fündig zu werden. Er zuckte die Schultern und schaute mit schicksalsergebenem Blick auf Dorkas.

»Ich weiß nicht, warum, aber die Unterlagen sind, verschwunden.«

»Vielleicht bei der Polizei?«

»Kann nicht sein, dann gäbe es wenigstens Kopien. Wir geben nichts heraus, ohne vorher Kopien zu machen.«

»Und die EDV? Ist da etwas drin?«

»Sie haben mir doch selbst über die Schulter geschaut. Eine Silka Meewissen existiert in den elektronischen Registern nicht.«

»Es muss sie aber gegeben haben, denn sonst hätte es ja keinen Vorwurf der versuchten Vergewaltigung durch diese Dame gegeben«, erklärte Dorkas mit einer Sanftheit, die so tückisch war wie das glatte Wasser eines Flusses, unter dem sich scharfe Klippen verbargen.

Er atmete tief durch und schaute mit verschränkten Armen aus dem Fenster.

In diesem Moment wirkte er auf Little wie ein etwas billiger Mussolini-Imitator. Little warf dem sichtlich nervösen Angestellten ein aufmunterndes Lächeln zu.

Dorkas warf sich auf den Hacken herum – er hätte in diesem Augenblick wahrhaftig glänzende schwarze Stiefel tragen müssen, um die Szene vollendet zu gestalten – und stolzierte steifbeinig, die Arme verschränkt, den Kopf sinnend auf die Brust gesenkt, durch das Büro.

»Wer hat Zugang zu diesen Unterlagen«, fragte er.

»So sorry, Sir, aber wie das so ist. Im Prinzip nur die damit beauftragten Personen. Ich, zwei, nein drei Kollegen, die höheren Chargen, die wir nicht herausschmeißen können, wenn sie hierhin kommen. Aber wenn einer Wert darauf legt, dann kann er ohne größere Probleme hierhin kommen und … na ja.«

»Richtig … naja«, höhnte Dorkas. »Dann verschwinden naja die Unterlagen zweier Sicherheitsangestellter komplett und die Akte einer Sekretärin naja verschwindet zu gut neunzig Prozent.«

»Mir ist die Sache außerordentlich peinlich, wertlieber Sir, und ich …«

»Nehmen Sie es nicht persönlich, Mister … mmh … Williams. Mich gehen die internen Verwicklungen nichts an, ich mache niemandem einen Vorwurf, aber ich stehe vor einem Problem, denn ich brauche die Unterlagen, es geht immerhin um ein Verbrechen!«

Die Tür wurde aufgerissen und ein weiterer Mann betrat das Büro. Sein Gehabe und seine Kleidung machten sofort deutlich, dass es sich um einen der Museumsleiter handelte.

Williams hatte die unangenehme Pflicht, ihm über die verschwundenen Unterlagen Bericht zu erstatten. Gemeinsam mit seinem Chef machte er sich daran, die vergebliche Suche noch einmal und ebenso vergeblich zu wiederholen. Diese Zeit, in der die beiden anderen Personen abgelenkt waren, nutzte Little, um mit Dorkas zu flüstern.

Schließlich wandte sich Arthur Cunnings, seines Zeichens Mitglied des Verwaltungsrates, an Dorkas. »Ich vermute, Herr Williams hat Ihnen schon sein Bedauern weitgehend ausgedrückt. Ich kann mich dem nur anschließen.« Er machte eine Kunstpause, die deutlich wie Böllerschuss das Ende des Besuches signalisierte.

Dorkas lächelte freundlich wie ein Buddha nach einem guten Frühstück lächeln mochte. Anstalten zu verschwinden machte er nicht.

Cunnings rückte seine Krawatte zurecht. »Ja, dann … kann ich noch etwas für Sie tun, Herr Dorkas?«

»Nun, ich möchte Ihre wertvolle Zeit nicht übermäßig in Anspruch nehmen. Aber vielleicht können Sie mir schon im Vorfeld kurz den Inhalt Ihrer Presseerklärung mitteilen?«

»Presseerkl…, dafür gibt es eine eigene Abteilung, aber wieso überhaupt Presseerklärung, ich meine, Herr Dorkas, es gibt doch keinerlei Notwendigkeit, die Presse …«

»Sehen Sie, da haben wir schon einen Punkt, an dem unsere Einschätzungen – sagen wir: ein kleines wenig mehr als ein bisschen – divergieren. Ich hielte diese verschwundenen Unterlagen für einen eher nebensächlichen Beweis einer – sagen wir: verzeihlichen – Schlamperei, wenn es sich hier nicht um einen veritablen Kriminalfall handeln würde. Ich vermute, da Sie sich beide an den Aufruhr erinnern, dass ich Ihnen keine weiteren

Erläuterungen zu geben brauche. Und da bin ich denn doch der Meinung, dass die Öffentlichkeit durchaus ein – sagen wir: gewisses – Recht hat …«

»Hören Sie, wir haben unser Möglichstes getan, um Ihnen zu helfen, wozu wir, das möchte ich betonen, nicht verpflichtet wären …«

»Ich weiß Ihr Entgegenkommen sehr zu schätzen. Aber nun ist es einmal so, dass ich diese Kenntnisse gewonnen habe – oder sollte ich besser sagen, Unkenntnisse. Ein dürftiges Karteiblatt über Silka Meewissen mit einigen Referenzen eines Schweizer Internates. Und das war es dann. Nichts über die beiden Prügelprofis, die hier eingestellt wurden und wieder spurlos verschwanden, angeblich weil sie durch die Attacke des Vergewaltigers – welch obszönes Wort das schon ist – dienstunfähig geworden waren. Und über den Verbleib von Kate Gould – Sie erinnern sich vielleicht an Herrn von Puttkammers Sekretärin? – ist auch nichts bekannt. Meine Güte, die Dame arbeitet seit Jahrzehnten hier! Als ich das erste Mal in den Lesesaal kam – und das sind schon einige Jahre her, wie Sie unschwer an meiner gefältelten Gesichtsoberfläche erkennen mögen – da war Kate Gould auch schon da.«

»Ihre sentimentalen Erinnerungen in allen Ehren, aber solche Interna und überhaupt …«

Dorkas schüttelte leicht den Kopf, missbilligend und mit der unangenehmen Entschlossenheit eines kampfbereiten Pitbulls.. »Wie ich schon sagte. Eine Institution mit dem Ruf des Britischen Museums sollte sich nicht auf eine Stufe mit irgendeiner popeligen Reklameagentur stellen. Puttkammer war eine Koryphäe und Kate Gould war seine rechte Hand in vielen wichtigen Dingen. Sie mochte nicht besonders beliebt sein, das kann ich nachvollziehen, aber dass sie sich monatelang krankmeldet, sollte einen Moment der Aufmerksamkeit wert gewesen sein.«

»Nun gut, ich stehe nicht an, einige Versäumnisse der Museumsleitung im sozialen Bereich einzuräumen, möchte allerdings jede Überbewertung dieser Vorgänge schon im Vorfeld als böswillige, von interessierter Seite vorgetragenen, Halbwahrheiten und …«

»Sie schwafeln«, konstatierte Dorkas ruhevoll.

Cunnings glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Wie meinen?«

»Ich meine, dass Sie schwafeln, Herr Cunnings. Verbaldiarrhoe!«

»Ich glaube«, sagte Cunnings finster, »dass unser Gespräch jetzt ein Niveau erreicht hat, das einen sofortigen Abbruch durch Verlassen dieses Gebäudes ihrerseits geraten erscheinen lässt.«

»Sie geben mir mit dem Niveau das Stichwort. Angesichts der Unmöglichkeit, hier wichtige Unterlagen zu finden, bitte ich, nein ich verlange es vielmehr, dass uns Zutritt zum Keller gewährt wird.«

Cunnings war im Grund ein sympathischer Typ, stellte Dorkas fest. Die Figur eines Möbelpackers. Durch die leicht gebeugte Haltung wurde die Wucht seiner Erscheinung gemildert. Anfang bis Mitte vierzig, wuscheliges Haar, das auf einen Mangel an Eitelkeit schließen ließ, ein offenes, großflächiges, natürlich gebräuntes Gesicht, bei dessen Anblick man sofort an weite Rasenflächen im Sommer, an Kricket und picknickende Familien erinnert wurde. Jetzt änderte sich allerdings die Gesichtsfarbe in Richtung auf ein fahles Weiß.

»Was wollen Sie im Keller, das ergibt keinen Sinn, da sind nur Stücke, die nicht mehr ausstellbar sind, da finden Sie nichts, egal was Sie suchen, diese Mühe können Sie sich sparen, wir sollten dieses Gespräch jetzt beenden, meine Zeit ist auch bemessen und …«

»Ich meine nicht den Keller«, erklärte Dorkas ruhig. »Ich meine DEN Keller. Wir verstehen uns, nicht wahr?«

Cunnings lehnte sich gegen die Wand. »Woher wissen Sie …«

»Das tut nichts zur Sache. Also – bekommen wir Zutritt? Oder bekommen Sie einen Seite-Zwei-Artikel in den Zeitungen?«

Cunnings wandte sich an Williams. »Machen Sie Mittagspause«, sagte er kurz.

Williams schaute verwirrt auf die Uhr. »Aber ich hatte doch schon«, protestierte er. »Und überhaupt Mittagspause um diese Zeit.«

»Sie machen jetzt zwei oder drei Stunden Mittagspause!«, erklärte Cunnings, und seine Stimme bekam einen schrillen Oberton.

Williams zuckte die Achseln und verschwand. Cunnings wartete, bis seine Schritte auf dem Gang verklungen waren. Dann wandte er sich an Dorkas.

»Woher wissen Sie davon?«, zischte er.

»Sie würden es sowieso nicht glauben. Wichtig ist, DASS ich es weiß.«

Cunnings hätte die Erklärung, die Dorkas ihm gab, tatsächlich nicht akzeptiert. Oder vielmehr, er hätte sie nicht verstanden. Denn während sich Dorkas und Williams mit der Suche nach den Unterlagen beschäftigt hatten, stand Little äußerlich ruhig im Hintergrund. Und während er in körperlicher Unbewegtheit, fast einer verholzten Starre, verharrte, war es, als würden die Nerven seiner Haut zu wachsen beginnen, würden sich wie feine Wurzeln durch das Gebäude ausbreiten und die Flüssigkeit von Geräuschen, Stimmungen, von Informationen, die kein Mensch überhaupt registrieren würde, aufzusaugen. In irgendeinem Büro empfand er das Vibrieren eines Triumphes. In einem anderen wurde würgende Angst aufgewirbelt wie Staub vom Einschlag einer Granate, als andere Personen in die Nähe kamen. Wurde hier ein Kollege gemobbt, wurde er erpresst, war er selbst erpressbar und fürchtete die Entdeckung?

 

Die Ausstellungsräume – eitles Geschwätz von aufgeblasenen Kultursnobs, schläfriges Desinteresse von Schulklassen, daneben Neugier, echte Begeisterung und der Funkenschlag tiefer Inspiration. Little wanderte weiter. Er folgte der Schwerkraft. Das Fundament – Steinblöcke, unter dem Gewicht tausender Tonnen von Mauerwerk, Decken, Treppen, Dächern ächzend, unmerkliches Nachgeben und Einsinken in die Erde, der Druck des Felsenuntergrundes wie die Umklammerung eines riesigen Ringers. Das Gefühl war so stark, dass Little glaubte, ersticken zu müssen, weil seine Lungen zusammengepresst wurden. Darunter – Stille, Dunkelheit, Wasseradern, Wimmeln von Bakterienkolonien.

Und dann – Little verstand es nicht. Er war überfordert wie bei dem Versuch, eine fremde Schrift zu entziffern. Da war wieder ein Gang, dunkel, menschenleer, nein nicht ganz menschenleer. Etwas war da, was auf Menschen hindeutete, vielleicht auf das, was einmal als Mensch gelebt hatte – Winseln in den kehligen Lauten einer fremden Sprache, mattes Flüstern, müdes Hauchen, bewegungslos und gefesselt. Dazu die Empfindung des Eingesperrtseins. Lange Gänge, klingendes Echo, verwinkelte Eingänge und … die Informationen rissen in dem Moment ab, als Cunnings in den Raum platzte.

Little fand sich zurück, seine Wurzeln waren gekappt, er endete an den Grenzen seiner Sinne und seiner Haut. Dann hatte er Dorkas kurz seine Beobachtungen zugeflüstert. Dorkas hatte genickt und, im Gegensatz zu Little, den richtigen Schluss gezogen. Den goldrichtigen, wie er beim Anblick des aufgelösten Cunnings feststellte.

»Es kann nicht sein«, ächzte Cunnings. »Es gibt nur …,« seine Finger wurden zählend von der rechten Hand abgespreizt, seine Lippen bewegten sich mit, » … nur drei Leute, einschließlich meiner Person, die davon wissen.«

»Nun«, erwiderte Dorkas und schaute sich um, »fünf Leute, würde ich sagen.«

»Sechs mindestens. Keiner vonseiten des Museums würde diese Information herausgeben. Sie wird als Staatsgeheimnis behandelt. Also gibt es eine Person außerhalb, die Bescheid weiß.«

»Sehen Sie, ich würde mir an Ihrer Stelle keine großen Gedanken darüber machen. Ich sage mal, wir gehen von fünf Personen aus, und so soll es auch bleiben – Ihr Entgegenkommen vorausgesetzt!«

Ein mattes Nicken war alles, was Cunnings antworten konnte. »Wollen Sie jetzt sofort …«, fragte er dann.

»Absolut, wir wollen die Sache hinter uns bringen. Das ist wohl in unser aller Interesse!« Dorkas war wieder verbindlich wie ein Versicherungsvertreter.

Cunnings stand auf und ging voran. Er führte sie zu einer Tür, auf der das 00 eines Toilettenraumes als Metallziffer angebracht war. An der Klinke hing ein Schild Wegen Reparatur geschlossen. Cunnings schob das Schild beiseite, blickte sich misstrauisch um und schloss dann die Tür auf. Mit einer Kopfbewegung forderte er zum Eintritt auf, schaute noch einmal über den leeren Gang und verschloss die Tür wieder.

 

Sie befanden sich in einem kleinen Raum. Rechts konnte man durch eine halb offene Tür in einen gekachelten Toilettenraum schauen. Die Bleiabflüsse hatte jemand zusammengequetscht.

Die Staubschicht auf den Pissoirs zeigte deutlich, dass der Raum seit einer halben Ewigkeit nicht mehr genutzt worden sein konnte.

Cunnings öffnete eine Holztür zur Linken, hinter der sich ein kleiner Aufzug befand. Der Aufzug war höchstens für eine Person berechnet, sodass sich die drei Männer eng aneinander drücken mussten, um hineinzupassen. Es gab nur einen Knopf an der Holzwand, und als Cunnings den gedrückt hatte, rumpelte die Kabine in die Tiefe.

Dorkas machte sich einige Gedanken über das Thema Maximalbelastung, als das Halteseil immer wieder ruckte und man schleifende Geräusche vernahm, wenn die Kabinenwand gegen den Schacht stieß.

»Französische Technik, was?«, ächzte er.

Cunnings schaute gegen die Decke. »Aus der Zeit, als der Keller gebaut wurde. Verständlicherweise können wir hier keinen Expresslift der neuesten Generation einbauen. Ich muss mich doch hoffentlich nicht entschuldigen …«

Die Sekunden verstrichen. Die Männer atmeten sich gegenseitig ins Gesicht, die Luft in der Kabine wurde stickig. Das trübe gelbliche Licht der einzigen Glühbirne verlieh der Szene den Anschein eines Dramas an Bord eines sinkenden U-Bootes. Endlich setzte die Kabine mit einem metallischen Knirschen auf Haltebügel auf. Cunnings wollte die Tür öffnen, zögerte dann und wandte sich, obwohl ihm das Sprechen und Atmen schwerfiel, an seine Begleiter.

»Bevor ich Sie jetzt herauslasse, verlange ich Ihr Wort, dass alles, was Sie hier sehen, unter uns bleibt. Kein Wort darf an die Öffentlichkeit dringen. Ist das Teil unseres Deals?«

Little und Dorkas nickten, während sich auf ihren Stirnen die ersten Schweißperlen durch die Poren drückten.

Cunnings schüttelte den Kopf. »Ich will keine Kopfbewegung von Ihnen, ich will, dass Sie mir Ihr Wort geben, als Gentleman und dass Sie mir das auch sagen.«

»Ich gebe Ihnen mein Wort.«

»Ich gebe mein Wort«, echote Little.

Cunnings stieß die Tür auf. Die Luft, die hereinströmte, war kühl und hatte einen leichten Duft von Moder, als käme sie über einen schattigen Waldteich herbeigeweht. Im Lichtschein, der aus der Aufzugskabine fiel, tastete Cunnings nach einem Lichtschalter. Eine Neonröhre zirpte und sprang nach einigem Flackern an. Sie befanden sich erneut in einem kahlen, nicht besonders großen Raum.

Trotz seiner Panik hatte Dorkas die Sekunden der Fahrt gezählt. Sie waren fast eine Minute unterwegs gewesen. Selbst wenn der Aufzug sehr langsam war, bedeutet das, dass sie tief unter der Erde waren und weit unter den Fundamenten des Museums.

Cunnings machte eine ausgreifende Handbewegung. Er war jetzt, wo er das Ehrenwort der beiden anderen hatte, ruhiger geworden. »Einer der einsamsten Plätze Londons«, kommentierte er ironisch diesen Raum.

»Wann wurde dieses System gebaut?«, fragte Dorkas.

»Im Krieg, aus Angst, dass die Deutschen uns einige unersetzbare Schätze kaputt bombardieren. Na ja, die Zeppeline waren vielleicht nur ein Vorwand.«

»Zeppeline?«

»Zeppeline. Ich rede von Weltkrieg Nummer Eins. Im Zweiten wurde das System erweitert.«

»Wie konnten die Bauarbeiten geheim gehalten werden.«

»Sie stellen Fragen, Herr Dorkas. Ich war ja auch nicht dabei. Soweit ich weiß wurde den Arbeitern erzählt, sie würden eine Metro-Strecke bauen. Man nutzte später Kriegsgefangene, die nur kurze Zeit eingesetzt wurden, sodass sie sich keinen Überblick schaffen konnten.

Überhaupt, der Trick bestand darin, einzelne Baustellen zu schaffen, die keine Ahnung aufkommen ließen, dass hier ein ganzes System von Gängen und Katakomben ausgehoben wurde.«

»Aber es musste Ingenieure geben. Planungen, Aufsicht.«

»Dasselbe in Grün. Man wählte sorgfältig aus, nutzte persönliche Animositäten, die verhinderten, dass sich die Planer zu nahe kamen und unter Umständen im Gespräch ein paar Dinge erkannten, die sie so alleine nicht erkannt hätten. Man nutzte die Tatsache, dass Menschen sterblich sind und beauftragte steinalte Architekten, die sowieso bald den Löff … ich meine das Zeitliche segnen würden. Es war ein geniales Spiel der Verschleierungen.«

»Und offenbar erfolgreich.«

»Nun ja«, knurrte Cunnings und blickte Dorkas scharf an. Er deutete auf die zwei Stahltüren, die nebeneinander lagen.

»Welche hätten Sie den gerne?«

Little zuckte zusammen. Er spürte den lauernden letzten Versuch, sie in die Irre zu führen. Mit aller Macht versuchte er, sich zu konzentrieren. Hinter der rechten Tür – Stille. Und dahinter Stille. Unmerklich deuteten seine Augen auf die linke Tür.

Dorkas nahm den Blick auf und schritt auf diese Tür zu. Alles war so schnell abgelaufen, dass Cunnings nicht einmal ein Zögern bemerkt haben konnte.

»Sie wollen uns doch nicht den Abstellraum präsentieren, alter Freund?«, dröhnte Dorkas und pochte gut gelaunt an die Tür.

»Sie wissen wirklich alles«, kommentierte Cunnings resigniert.

»Nicht alles, aber immer mehr«, antwortete Dorkas und warf Little einen ironischen Blick zu.

Cunnings klapperte mit einem Schlüsselbund. Dann öffnete er ein Schloss an einer schmalen grauen Blechklappe. Hinter der Klappe erschien eine Tastatur. Little und Dorkas schauten dezent in eine andere Richtung, als Cunnings die Zahlen des Öffnungscodes eintippte. Danach verschloss er das Fach wieder und machte sich mit einem anderen Schlüssel an der Tür zu schaffen. Sie schwang auf.

 

Der Krach, mit dem die Klinke an der Innenwand anschlug, setzte sich als rollendes Echo in dunkle Tiefen fort. Kühle, dumpfe Luft quoll aus dem dunklen Viereck der Türöffnung.

Nach einigem tastenden Suchen fand Cunnings den Lichtschalter auf der Innenseite. Wieder zirpten Neonröhren.

Dorkas stieß einen Pfiff aus und trat näher. Eine Weile stand er im Türrahmen und bemühte sich zu verstehen, dass seine Augen ihn nicht täuschten. Von der Schwelle führte eine geländerlose, schmale Treppe einige Meter abwärts. Dahinter erstreckte sich ein tunnelartiges Gewölbe – weit, so weit, dass es in der Ferne zu einem Punkt zusammenzulaufen schien. In unregelmäßigen Abständen durchbrachen halbrunde Öffnungen von Seitengängen das Ziegelmauerwerk. Von seinem Standort aus konnte Dorkas in einen der Seitentunnel hineinblicken und erkannte dort einen weiteren Querstollen.

Drei Reihen von Neonröhren liefen am Scheitel des Gewölbes entlang und warfen ein grelles, kaltes Licht auf die Gegenstände, die den Boden bedeckten. Und was für Gegenstände es waren!

Es schien Dorkas, als hätte er hier die Räume eines anderen Museums betreten, eines, das schon halb verfallen und zerstört war oder Dinge zeigte, die den Augen des gewöhnlichen Besuchers verschlossen bleiben sollten.

Griechische Säulen ragten bis an die Decke oder lagen ohne Ordnung auf dem Boden, als hätte sie ein Erdbeben umgestürzt. Der Giebel eines spätrömischen Tempels stand neben einem Bronzebuddha, dem ein Geschoss den halben Kopf abgerissen hatte, Totempfähle lehnten auf einem Pagodendach, perlenbesetzte afrikanische Throne boten den Gliedern ägyptischer Statuen Platz, zur Unkenntlichkeit gedunkelte Gemälde fanden eine Stütze an den goldverzierten Standarten indischer Rajas und afghanischer Stammesführer. Und dazwischen, wo sich ein Platz bot, lagerten Mumien – in gebleichtes Leinen verpuppt, in offenen, in geschlossenen Särgen, andere schienen als halb verstümmelte, dürre, dunkelbraune Monster auf dem Boden zu kriechen oder hockten, Arme und Beine noch mit Bast gefesselt, in den Ecken.

»Gehen Sie«, drängte Cunnings. »Irgendwann wird selbst meine Abwesenheit auffallen.

Soviel Zeit bleibt also nicht.« Zögernd stieg Dorkas die Treppe herunter.

»Das wäre hier ein Paradies für Dr. Iskander«, sagte er. Als Cunnings nur seine Unwissenheit mit einem Schulterzucken bekundete, fügte er an: »Dr. Nasry Iskander, ägyptisches Museum Kairo, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Mumienforschung, sozusagen der Mumien-Guru. Sollten Sie kennen.«

Cunnings antwortete mit einem freudlosen Lachen. »Aber eines sollten Sie klar sein, Herr Dorkas. Ich bin kein Wissenschaftler. Ich bin Verwaltungsmensch. Habe schon als Dreijähriger immer die Zimmer meiner Geschwister aufgeräumt und schließlich die Rendezvous meiner Brüder mit ihren diversen Freundinnen organisiert. Reibungslos – und das war keine leichte Aufgabe. Und bevor Sie mich jetzt fragen, warum ich zu den Eingeweihten über diesen Keller gehöre – weil ich breite Schultern habe und anpacken kann. Nun ja, und man hielt mich für vertrauenswürdig. Das ist allerdings auch das Einzige, worauf ich mir etwas einbilde. Ansonsten bin ich der Lagerarbeiter, sonst nichts. Die anderen beiden Herren, ich werde keine Namen nennen, selbstverständlich, sind schon in einem Alter, in dem ihnen der Transport einer kleinen Porzellanvase Probleme bereiten würde. »

»Diese Säulen können selbst Sie mit Ihrer Schulterbreite nicht bewegen.«

»Dafür gibt es Gabelstapler. Der Fahrzeugpark ist in einem hinteren Querstollen geparkt.«

»Aber Sie bekommen die Säulen nicht durch den Lift hier herein.«

»Exakt beobachtet. Dafür gibt es einen Lastenaufzug am anderen Ende.«

»Was ist, wenn Sie es alleine nicht schaffen? Ich meine, der ganze Kram wird doch irgendwann hierhin transportiert, vom LKW gewuchtet und so.«

»Ganz einfach. Der Gegenstand X wird abgeladen, auf den Aufzug gepackt, ein Stockwerk runter. Dann packe ich ihn in einen anderen Aufzug, wenn Hilfe nötig ist, nehme ich andere Leute als die, die vorher mitgeholfen haben. Fremdfirmen, Aushilfen, notfalls einige halb besoffene Penner, denen man ein paar Pfund in die Hand drückt. Wenn ich den Aufzug einige Male gewechselt habe, weiß nur noch ich, was eigentlich vorgeht.«

»Ein riesiger Aufwand. Und das wegen der Bomben einiger Zeppeline. Ich weiß ja nicht …«, zweifelte Dorkas.

Statt einer Antwort ging Cunnings zu einem Stahlregal, in dem Akten lagerten. Er hob einen der verschnürten Stapel hoch. Ein rotes Leinenband mit der Aufschrift Gesperrt bis auf Widerruf war um das Papierpaket gebunden. Dorkas konnte unter dem Band den Titel der Akte nur ungenau erkennen: Rudolf H …, Vernehmu …, 6. – 14. Juni 194 … schien dort mit sorgfältiger Bürokratenhandschrift geschrieben worden zu sein. Achtlos warf Cunnings das Bündel zurück.

»Falls es Sie – oder irgendeinen moralverseuchten Klugscheißer auf dieser Welt interessieren sollte, warum das christliche Abendland, repräsentiert durch den siegreichen Mister Churchill fünfundvierzig dem als Völkermörder hinreichend bekannten Verbündeten Genossen Stalin Tausende von gefangenen Kosaken in den Rachen schob, mit durchwegs tödlichem Ausgang für diese Russkis, dann schauen Sie hier nach.

Und wenn Sie wissen wollen, warum ein gewisser Saddam Hussein, vom Westen gepflegter Gegner der bösen Iran-Mullahs und zu diesem Zwecke mit den feinsten Mordgeräten westlichen Zuschnitts ausgestattet, sich Kuwait einverleibt und dann, zu seinem größten Erstaunen, per Golfskriegs-Koalition wieder nach Hause gebeten wird, wobei, wie wir wissen, es nicht seine verschrumpelte Leiche war, die tausendfach im Sand herumlag, dann schauen Sie auch hier nach. Was wünschen Sie? Wir haben alles zu bieten – Kaufverträge, ganze Länder für eine Handvoll Glasperlen, Geheimabkommen mit arabischen Sklavenjägern, auf dass dieses lästige Niggerpack möglichst bald aus seiner afrikanische Heimat verschwindet, Handelsverträge mit Opiumbauern, Quittungen über die Zahlungen an Landesverräter, wie wäre es mit heißen Fotos und scharfen Tonbandaufzeichnungen, es gibt sogar ein paar Videos für den Connaisseur der speziellen Sorte, all der kleinliche Schweinkram, für den viel Geld bezahlt wird, damit er nie öffentlich wird.« Cunnings hatte sich in Rage geredet und machte eine Pause.

»Mit einem Wort, die Jauchegrube der Politik«, kommentierte Dorkas düster.

»Nein, denn Jauchegruben stinken ja. Das hier ist die elegantere Art der Vernichtung. Ab ins Archiv und dann zu uns und dann wird der Kram auf unbestimmte Zeit gesperrt und dann – Herr Minister, wir haben eine Anfrage wegen Dokumenten, ach wie peinlich, das Zeug ist verschwunden, na ja, das hat mein Vorvorvorvorgänger verbockt und der ist schon seit Generation verschieden, schade, wäre für die Wissenschaft sicherlich interessant gewesen die Akte. So läuft das.«

»Dafür muss man nicht soviel Erde bewegen, das kann man auch im Hinterzimmer lagern. Übrigens, wohin ist der ganze Erdaushub verschwunden.«

»Fahrwasservertiefung und Hafenbau an der Themse. Auf die Art konnte man locker Tausende Tonnen Abraum verschwinden lassen. Es gab zwar Leute, die sich gewundert haben, weil das Zeug so anders aussah als das, was man sonst aus dem Fluss baggert, aber auf die hat keiner gehört. Und diese Sache mit dem Archiv ist nur ein Nebeneffekt. Eine kleine Freundlichkeit des Museums sozusagen, angeboten in den Zwanziger Jahren, als es um Geldkürzungen ging und man den hohen Herren der Politik was Gutes tun wollte.

Ursprünglich ging es hier nur um einen sicheren Platz für wichtige Kunstwerke. Dann kamen Funde hinzu, die noch restauriert werden mussten, bevor man sie ausstellen konnte. Und dann kamen Dinge, die überhaupt nicht ausgestellt werden sollten.«

»Kann ich direkt verstehen, wenn ich so was sehe«, antwortete Dorkas.

 

Sie waren langsam von der Treppe fortgegangen und standen nun vor einem Ölgemälde von den Ausmaßen eines Wohnzimmers. Vor einem heroisch umwölkten Himmel stand ein entschlossen blickender Adolf Hitler auf einem Feldherrnhügel, im respektvollem Abstand von seinen Paladinen und uniformierten Helfern umringt und wies mit ausgestrecktem Arm einer Gruppe deutscher Soldaten, die mit kampfesmutigen Nussknackerkinn und kantigen Gesichtszügen bestens ausgestattet, offenbar von dem unüberwindlichen Drang zum Heldentum infiziert waren, den Weg in die rassenreine und blauäugig-blonde Zukunft.

»Ach, diese Schinken, danach kräht kein Hahn mehr. Wir haben diesen Zeug dutzendfach. Irgend so ein Dicker hat sich in allen möglichen Uniformen porträtieren lassen. Die konnten den Krieg gar nicht gewinnen, weil sie ständig Modell gestanden haben. Nein, was wirklich zählt ist so was.« Er deutete auf einen tätowierten Schädel, der auf einem Säulenkapitell lag. »Oder hier. Diese Lanze. Und dieses Schild. Ich verstehe nicht viel davon, aber Sie können mir glauben: Geben Sie irgendeinem miesen Revoluzzer im afrikanischen Staat XY diese beiden Dinge in die Hand, dann ist er bald der Herrscher im Land. Das sind Königsinsignien und das zählt mehr als ein gekaufter Wahlsieg bei sogenannten demokratischen Wahlen.

Dieser Schädel – angeblich der Urahn des Stammes. Jetzt hängen sie seit fünf Generationen als asoziale Säufer herum, aber geben sie denen dieses Stammesheiligtum wieder und sie verwandeln die Trinker in eine andere Sorte Mensch zurück. Und das könnte eine gewisse Großmacht beim Abbau gewisser Erdölvorkommen in einer nördlichen Provinz derart behindern, dass am Tag darauf die Aktienkurse abgehen, dass der schwarze Freitag wie ein Kindergeburtstag wirken würde. So sieht das aus. Dreihundert Jahre Kolonialgeschichte, da kommt was zusammen. Immer schön geplündert und geklaut und requiriert. Und natürlich die wichtigsten Kunstwerke mitgehen lassen. So was bringt die Leute langsamer um als ein Schrapnell, aber die Wirkung ist besser. Wer erst mal einen sabbernden Opa hat, der nur an der Flasche hängt und Schrott von alten Zeiten erzählt, der wird selbst zum sabbernden Wrack. Und dazu ein bisschen freundliche Sozialhilfe, Lebensmittelzuteilungen, Zentralheizungen, damit sie im Winter den Arsch nicht mehr vor die Hütte kriegen, eine Prise Emanzipation und viel Fernsehen natürlich – wozu braucht man dann noch die H-Bombe, frage ich Sie? Wo geht eigentlich Ihr Begleiter hin?«

 

Auf Little hatten beide nicht mehr geachtet. Jetzt sahen sie ihn in einem Seitengang verschwinden und mussten sich beeilen, um ihm zu folgen. Little hielt den Kopf steif erhoben, die Arme baumelten schlaff von der Schultern. Er wirkte wie eine Marionette, bei der nicht alle Fäden in Betrieb sind. Eine Weile blieb er stehen. Mit einer raschen Handbewegung legte Dorkas eine Hand auf die Schulter von Cunnings und hinderte ihn so, sich Little zu nähern.

Sie warteten bis sich Little ruckartig in Bewegung setzte und die Treppe zu einem tiefer gelegenen Stollen herabstieg.

Hier lagerten nur Särge und Mumien. Die ausgewickelten, verdorrten Körper wirkten in ihrer Nacktheit obszön, als wollten sie die drei Männer zu einer Kumpanei herausfordern.

Verzerrte Gesichtszüge, verstümmelte Gliedmaßen, eingefallene Brustkörbe machten den Wunsch nach einer Unsterblichkeit der fleischlichen Hülle zu einer ekelerregenden Karikatur. Man gewann den Eindruck auf einem Lazarettplatz zu stehen, am Rande eines Schlachtfeldes, auf dem ein blutiges Gemetzel stattgefunden hatte.

Little zögerte, machte einige Schritte, orientierte sich und schritt dann auf einen geschlossenen Sarg zu. Er legte seine Hand auf den Deckel. Dorkas und Cunnings traten heran. Ein ungelenkes Bild des Hermes Trismegistos schmückte den roh gezimmerten Behälter.

Sicherlich war es kein Mitglied der Oberschicht gewesen, das sich mit einer derart ärmlichen Ausrüstung auf die ewige Reise begeben hatte. Aber vielleicht, fuhr es Dorkas beim Anblick des Hermes-Bildes durch den Kopf, war das auch nur ein Trick zur Ablenkung von Grabräubern gewesen oder vielleicht Zeichen eines weisen Einsicht, die nichts mehr auf materiellen Reichtum gab? Laut sagte er: »Dann wollen wir das gute Stück mal öffnen.«

Er selbst mühte sich vergebens. Die Scharniere waren durch Sand, Staub und Rost völlig verklebt. Erst als Little und Cunnings mithalfen, öffnete sich der Deckel einen Spalt.

Cunnings schob die Finger zwischen Deckel und Unterteil und zerrte daran. Sein Gesicht lief rot an, auf den Schläfen drückten sich die Adern durch die Haut. Schließlich sprang der Deckel ab und fiel krachend zu Boden.

Cunnings schaute in den Sarg, drehte sich zur Seite und übergab sich mit würgenden Geräuschen.

»Na ja, eine Schönheit war sie ja nie gewesen«, sagte Dorkas. Der aufsteigende Gestank raubte ihm den Atem. Er drückte ein Taschentuch vor den Mund und nahm den Inhalt des Sarges in Augenschein. Daumendicke Käfer mit schwarz glänzenden Rücken wimmelten und verkrochen sich vor dem Licht. Aus dem schmutzigen Rock ragten nur noch Knochen, auch der Unterleib schien von den Aasfressern schon zerstört zu sein. Aber selbst wenn das Gesicht nicht völlig unversehrt geblieben wäre, so hätte Dorkas doch schon alleine an den hundertprozentig geschmacklosem Blumenmuster der Bluse erkannt, wessen Erdenleib er vor sich hatte. So etwas trug nur eine Kate Gould.

Ächzend richtete sich Cunnings auf und wankte an die Seite von Dorkas. Sein Erscheinen fügte dem Fäulnisgestank den Geruch von Erbrochenem bei. Cunnings wischte mit einem Taschentuch an seinem verschmutzten Anzug und stand dann, das triefende Tuch in den spitzen Fingern, hilflos da. Schließlich warf er es mit einem Fluch von sich.

Inzwischen hatte Dorkas vorsichtig den Kopf der Toten angehoben und etwas gewendet. »Irgendwer hat ihr das Genick gebrochen«, stellte er sachlich fest. »Sehen Sie den blauen Fleck hier? ich bin sicher, auf der anderen Seite des Nackens ist auch so ein Fleck. Wer’s kann, der nimmt zwei Finger oder auch die Daumen beider Hände und dann – krach und knack und Exitus. Sekundenschnell. Absolute Profiarbeit, gutes Handwerk.«

»Ich kann Ihrer Begeisterung nicht ganz folgen«, stöhnte der leichenblasse Cunnings.

»Ich wollte nur ausdrücken, dass hier kein Sadist am Werk war und auch kein Hobby-Terrorist. Für eine solche Aktion braucht man eine Ausbildung, die man im Normalfall nur bei den Eliteeinheiten des Militärs bekommt. Tja, und so ging sie dahin, unsere Kate Gould. Ich habe sie noch nie gemocht und jetzt wird sie zum Problem. Wir müssen die Polizei benachrichtigen.«

Aus Cunnings aufgerissenem Mund kam ein Geräusch, als wäre er nach langem Tauchgang endlich wieder an die Wasseroberfläche gestiegen. »Unmöglich, das geht nicht.«

»Herr Cunnings, wir haben hier einen Mord!«

»Das sehe ich auch. Aber ich habe Ihr Ehrenwort. Ihres und das dieses Herrn. Keine Polizei. Die Öffentlichkeit darf nichts erfahren. Wie ist sie überhaupt hierhin gekommen?«

»Eines ist sicher«, folgte Dorkas seiner Neigung zum Sarkasmus, »sie ist nicht selbst hierhin gelaufen. Also haben wir doch sechs Leute, die von diesem wunderbaren Waschsalon für die Politik des Empire wissen. Mindestens sechs. Aber das ist nicht mein Problem. Wir haben Kate Gould gesucht und sie gefunden. Jemand hat sie ermordet, um sie durch eine andere Sekretärin zu ersetzen, die wiederum Tony Tanner die Vergewaltigungsklage an den Hals brachte. Soweit ist die Sache klar. Den Rest überlassen wir der Polizei, vielleicht sind ja nicht alle Polizisten unfähig.«

»Keine Polizei!« Cunnings sprach den Satz mit drei Ausrufezeichen und stampfte wie ein Kind auf den Boden. Dann sah er einen der Käfer und zeigte mit zitternder Hand auf das Insekt.

»Dieses Viech darf nicht herauskommen, den Deckel zu, sonst wird hier noch alles organische Material zerfressen.«

»Keine Angst. Diese Käferart frisst nur Aas. Und die Krabbler haben Angst vor dem Licht. Die wollen gar nicht heraus.«

Nach einer kurzen Überlegung entschied Dorkas: »Wir legen den Deckel zurück. Dann fahren wir den Sarg mit dem Lastenaufzug hoch bis in eine offizielle Werkstatt. Dann vergessen wir alles, was wir hier gesehen haben und dann finden wir die zwar unsympathische, aber dennoch bedauernswerte Kate Gould ein weiteres Mal. und verständigen die Polizei. Einverstanden?«

Cunnings nickte beruhigt.

»Und was Sie angeht, Herr Cunnings, würde ich mich an Ihrer Stelle schnellstens um einen Satz neuer Schlösser für dieses Verlies kümmern.«

Fortsetzung folgt …