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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Der Fluch des Pharao – Teil 3

Lucille Chaudieu fröstelte. Trotz der flimmernden Wüstenhitze lief ihr ein Schauer über den Rücken, wenn sie auf das Zelt und die beiden Männer, die in seinem Schatten saßen, schaute. Noch nie im Leben hatte sie sich so fremd, so ausgeschlossen, so überflüssig gefühlt.

Es war, als hätte eine unbekannte Kraft sie auf einen fremden Planeten geschleudert. Und dabei war sie selbst es gewesen, die darauf bestanden hatte, Montalban auf dieser Geschäftsreise, wie er es nannte, zu begleiten. Er hatte ihr abgeraten, wohl wissend, dass sie seine Warnungen ignorieren, dass ihr Entschluss mitzukommen, dadurch nur noch fester würde. Er hatte sich in ihre Seele eingeschlichen wie ein Dieb; er kannte inzwischen ihre geheimen Ausflüchte, die bequemen Lügen und die faulen Selbstbilder, all die dunklen Hinterhöfe, Flure und Fluchtwege ihrer Psyche besser als Lucille selbst. Und so hatte er in diesem leisen, unausgesprochenen und gnadenlosen Krieg, der zwischen Lucille Chaudieu und Francois de Montalban tobte, eine weitere Schlacht gewonnen. Er hatte eine Falle aufgebaut, und sie war in diese Falle gestolpert und hatte sich unter seinen belustigten Blicken gedemütigt.

Niemals vorher war das so offensichtlich geworden wie in dem Moment, als Montalban sie seinem Geschäftspartner vorstellte. Er sprach immer nur von dem Scheich – Lucille hatte das für eine romantische Kinderei gehalten, bis sie den Auftritt dieses Mannes miterlebt hatte.

 

Hinter einer Biegung des Wadi, in dem Montalban mit seinen Leuten lagerte, wehte eine riesige Staubwolke heran. Als sie sich näherte, konnte man einen Pulk von Fahrzeugen erkennen, Offroadwagen, geländegängige Pick-ups, auf deren Ladeflächen schwere Maschinenkanonen angebracht waren, allradgetriebene Tatra-Lastwagen und sogar zwei leichte Radpanzer. Die Fahrzeuge hielten in der Nähe des Lagers, nur ein Wagen fuhr weiter bis zum Zelt Montalbans.

Dem Wagen entstieg eine schlanke, fast zarte Gestalt, eingehüllt in die traditionellen weiten Gewänder der Beduinen. Etwas in den Bewegungen und Gesten dieses Mannes machte Lucille sofort klar, dass er der Scheich sein musste. Sie wusste selbst nicht genau, woher diese Überzeugung kam, aber etwas von der Spannung und der Kraft des Befehlens und Herrschens, einer seit Generationen geübte Attitüde, lag in den Gesten dieses Wüstenbewohners.

Der Scheich und Montalban verneigten sich langsam und gemessen, als würden sie eine Figur aus einem alten höfischen Tanz aufführen. Dann sahen sie sich in die Augen und umarmten sich wie alte Schulfreunde, die sich seit langer Zeit wiedertreffen. Der Scheich sprach ein korrektes, aber kehliges Französisch, während sich Montalban in einem Arabisch versuchte, dem man deutlich die singende Melodie seiner Muttersprache anhörte.

Montalban winkte Lucille heran und sagte einige erklärende Sätze zu seinem Gast und Verhandlungspartner.

Lucille trat zögernd näher, befangen angesichts der Vertrautheit der beiden Männer. Der Scheich reichte ihr eine schmale, sehnige Hand. Die Hand passte zu dem Gesicht, das sie unter dem Kopftuch sehen konnte. Es war schmal, fast mager, von einer scharfen Adlernase bestimmt, unter der ein schmaler Mund lag. Die scharfen Falten zwischen Nasenwurzel und den niedergebogenen Mundwinkeln verliehen dem Gesicht einen Ausdruck, der zwischen resigniertem Ekel und höhnischer Verachtung zu pendeln schien, so als sei diese Welt das Ergebnis eines von unfähigen Dienern schlecht ausgeführten Auftrages. Die Haut des Scheichs war dunkel, fast schwarz; ungewöhnlich für ein Volk, stellte Lucille bei sich fest, bei dem dunkle Haut eher als Zeichen einer Herkunft aus dem Sklaventum denn als gute Voraussetzung für Führertum galt. Ein gepflegter, schwarzer Bart umrahmte den Mund. Die Augen unter hochmütig gebogenen Brauen waren ebenfalls pechschwarz, und sie schauten mit einem Ausdruck auf Lucille, der sie fast zum Schreien gebracht hätte.

Nicht dass sie männliche Begierde oder unziemliche Bewunderung darin gelesen hätte. Nein, der Blick des Scheichs sprach ihr schlichtweg jede Menschlichkeit ab. Für ihn, daran konnte es keinen Zweifel geben, war sie höchstens ein Ding, ein Gegenstand. Man mochte dieses Ding unter Umständen nutzen, um sich sexuelle Entspannung zu verschaffen oder um durch dieses Werkzeug Söhne in die Welt zu setzen, vielleicht mochte man sich mit dem Ding vor Freund und Feind brüsten wie mit einer Trophäe. Das aber war nicht viel an Wert, denn ein Mann kann seinen Samen durch jede gesunde Frau weitergeben. Seinen Sexus zügelt der Mann ebenso, wie er einem wilden Hengst den Willen zu brechen vermag, und ein weißes Reitkamel verleiht dem Besitzer unendlich mehr Prestige als das schönste Weib der Welt.

Der Scheich neigte leicht den Kopf, eine Geste, die etwas boshaft Ironisches an sich hatte, und vergaß Lucille, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

Montalban brachte Lucille zurück zu ihrem Zelt, während der Scheich den Aufbau seines Lagers überwachte.

»Ein eindrucksvoller Mensch, was meinen Sie, meine Schöne?«, bemerkte Montalban, und um seine Lippen spielte ein sarkastisches Lächeln.

»Eindrucksvoll vielleicht. Aber Mensch? Er wirkt so menschlich wie diese Wüste hier.«

»Gut beobachtet. Er ist so etwas wie die menschliche Erscheinungsform der Wüste. Jede Landschaft prägt die Menschen, die sie bewohnen. Und die Wüste ist eine grausame Mutter. Sie tötet die Schwachen, seit Jahrtausenden tut sie das, und lässt nur die Starken weiterleben. Wer noch kämpfen kann, raubt das, was der Schwache nicht mehr verteidigt. Das ist die Ökonomie der Natur – nach der Begattung frisst das Spinnenweibchen das Männchen, und das Weibchen dient als Nahrung für den Nachwuchs. Der Starke nimmt sich die Wasserstellen und verdurstet nicht, und vielleicht gelingt es ihm sogar, den Tod durch Nierenversagen um einige Jahre hinauszuschieben. Hier gilt das Recht des Stärkeren.«

»Ein jämmerliches Recht, wenn Sie mich fragen.«

Montalban legte den Kopf in den Nacken und lachte.

Es sieht aus, als würde ein Wolf den Mond anheulen wollen, dachte Lucille.

»Lassen Sie alle die humanitären Menschenrechtsprofis für einen Tag durch diese Wüste ziehen und Sie werden merken, warum nur Stärke Recht verleiht. Und die Welt wäre eine Menge lästiger Schwätzer los, dieses nur nebenbei bemerkt. Bei einem Glas Whiskey in einer klimatisierten Lounge im UNO-Zentralgebäude lässt es sich trefflich über Gleichheit und Menschenrechte palavern. Aber werfen Sie in New York das World Trade Center um und Sie werden merken, dass alles nur eine Mischung aus Geschwätz, Feigheit und Hilflosigkeit ist.

Hier in der Wüste hingegen ist alles wieder auf die beiden Grundprinzipien reduziert, hier gibt es nichts Überflüssiges, genauso wenig wie in der Landschaft.«

»Und was sind die beiden Grundprinzipien?«

Montalban deutete auf das Lager des Scheichs. Die Wagen standen im Kreis um die eben aufgebauten Zelte, die Wagen mit den Maschinengewehren und die beiden Radpanzer waren auf einigen kleinen Anhöhen verteilt und beherrschten ganz offensichtlich jeden Zugang des Wadis. Bärtige Männer in Beduinenkleidung oder in beige-braunen Wüstentarnanzügen, jeder mit einem Gewehr auf dem Rücken und einen Dolch im Koppel, wimmelten zwischen Wagen und Zelten. Es wirkte wie ein heilloses Durcheinander, zumal laut geschrien und gelacht wurde, aber die Geschwindigkeit, mit der die Zelte aufgeschlagen, Kochstellen geschaffen und Vorräte abgeladen wurden, zeigte, dass hier jeder genau wusste, was er zu tun hatte.

»Sehen Sie«, sagte Montalban, »das ist es: Männer und Waffen. Etwas anderes hat unsere Welt nie bestimmt und wird sie auch nie bestimmen. Das ist übrigens die persönliche Leibwache des Scheichs. Diese Männer würden sich für ihn in Stücke schneiden lassen. Genau das tun sie auch bei Verrätern. Näheres ließe sich unter Umständen in den Verlustakten des Mossad finden. Es ist nämlich so, dass einer von dessen Leuten nicht schnell genug an seine hilfreiche Giftkapsel kam.« Montalban lachte heiser und wütend und stampfte weiter.

 

Den Rest des Tages verbrachte Lucille im Schatten des Zeltdaches. Montalban saß mit dem Scheich in dessen Zelt zusammen. Als die Nacht kam, zündeten die Männer einige Feuer an, schlachteten Hammel, die sie auf einem Laster mitgebracht hatten, und bereiteten sich das Mahl.

Lucille kroch fröstelnd in ihren Daunenschlafsack.

Der herbe Geruch der Feuer und des

Fleisches zog über das Wadi. Dann stiegen monotone Gesänge, getragen von rhythmischem Händeklatschen, auf. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf und erwachte mitten in der Nacht, weil sich in der Nähe die Wachen ihre Parolen zugerufen hatten.

Dann war es wieder still, eine gnadenlose Stille, in der selbst der Wind zum Schweigen gekommen war. Sie starrte in die Dunkelheit.

Im benachbarten Zelt schlief der Mann, den sie hasste, wie sie noch nie einen Menschen gehasst hatte und dessen Geliebte sie geworden war.

Sie konnte sich vorstellen, wie er dort lag. Umfangen von einem tiefen, kindlichen Schlummer, dessen Unschuld und Verletzlichkeit nicht zu diesem Mann zu passen schien, und dennoch bereit, in der nächsten Sekunde zu erwachen. Er schlief stets auf dem Bauch, das eine Ohr auf der Matratze, als wäre es der Erdboden und er müsste auf die Hufschläge feindlicher Kavallerie achten, und er hatte stets eine geladene und entsicherte Pistole in Griffweite.

»Eine kleine abergläubische Angewohnheit«, hatte er ihr damals gesagt, als sie zum ersten Mal zusammen gewesen und sie mitten in der Nacht aufgestanden war – erfüllt von einer Mischung aus Faszination und Ekel, den schlimmsten Feind ihres Lebens eben noch voller Lust in sich gespürt zu haben. Sie war gegen ein Schränkchen gestoßen. Und im nächsten Moment hatte sie das Rauschen der Laken gehört, und als sie das Licht angemacht hatte, in die Mündung seiner Pistole gesehen.

»Eine sehr gewöhnungsbedürftige Angewohnheit, Monsieur«, hatte sie geantwortet.

»Sozusagen ein kleines Laster, das sich aus meiner Militärzeit herleitet. Je besser der Feind schleicht, desto besser muss das eigene Gehör werden.«

Schlich sie gut? Lucille Chaudieu drehte sich in ihrem Schlafsack um und bedeckte das Gesicht gegen die raue Nachtluft. Wie viel wusste er von ihr? Mehr jedenfalls, als sie je einem Mann zugestanden hatte, selbst diesem anderen Mann. Aber Montalban fragte nicht, er nahm sich. Er konnte beobachten, scharfsinnig und erfahren wie ein alter Waldläufer, der halb verwischte Spuren entschlüsselt. Er war der erste Mann, vor dem sie sich nackt fühlte – und das im wirklichen Sinne, denn sein Blick blieb nicht an der Schönheit der Oberfläche haften.

Hatte sie etwas von ihm gelernt, irgendeine Kenntnis, die sie wie einen Raub mitnehmen konnte? Sie kannte seinen Körper, sie kannte die vielen Narben, sie hatte ihn als fantastischen und herzlosen Liebhaber erfahren, der so sanft und so grausam war wie der Schlachter, der einem Kälbchen das Messer durch die Kehle zieht. Aber sonst? Er blieb ihr ein Fremder, ein vertrauter Feind, der ihre Seele durchwanderte und ihr manchmal das Herz zu rauben schien, bis sie sich selbst ihrer Gefühle nicht mehr sicher sein konnte.

 

Schüsse schreckten sie am Morgen auf. Es klang nach einem schweren Gefecht mit langen Feuerstößen aus automatischen Waffen und dem dumpfen Ploppen von Granatwerfern.

Als sie verwirrt vor dem Zelt erschien, sah sie die Truppe des Scheichs beim Waffentest. Die Männer hatten ihre Spielzeuge, und mit glänzenden Augen stanzten sie Sandfontänen aus dem Boden des Wadi, ließen die groben Kiesel aufspritzen und freuten sich an den gewaltigen Staubwolken, wenn am Gegenhang die Granaten einschlugen.

Sie machte sich fertig und ging zu Montalban, der neben dem Scheich auf einem der Lastwagen stand. »Was ist das hier? Die Spielstunde?«

»So ungefähr, ein Spaß für große bärtige Jungens mit Haaren auf der Brust«, antwortete Montalban ungerührt. Er deutet auf den Hang, der unter Granatwerferfeuer genommen wurde. »Wenn Sie dort drüben wären, würden Sie den Ernst des Spiels wahrscheinlich anders einschätzen.

Sie sehen heute wieder traumhaft schön aus, es wird Zeit, dass wir aus dieser Umgebung, die weibliche Schönheit nur schlecht widerspiegelt, verschwinden.«

Er half Lucille auf den Lastwagen und wandte sich wieder dem Scheich zu. Auf einem kleinen Klapptisch lag, beschwert mit einem Pistolenmagazin, eine Karte. Drei rote Kreise konnte sie erkennen, wagte aber nicht, sich allzu offensichtlich dafür zu interessieren. Ihre Chance kam, als einer der Leute Montalbans durch den Schießlärm brüllte und seinen Chef zum Funkgerät rief.

Montalban sprang mit einem Satz von der hohen Ladefläche des Tatra herab. Vielleicht war es eine Frage des Alters, dass er sich und der Umwelt ständig beweisen musste, in welch guter Verfassung er war. Vielleicht war es aber auch nur die natürliche Aktion eines Mannes, der oft genug mit dem Fallschirm abgesprungen war. Er ging mit federnden Schritten zum Funkgerät, das unter einer Zeltplane stand. Der Scheich diskutierte mit einem seiner Leute und war ebenfalls abgelenkt.

Lucille nutzte die Chance und schaute genauer auf die Karte. Sie stellte Afrika dar. Zwei der roten Kreise waren um Städte an der Ostküste gezeichnet – Nairobi und Dar-es-Salam, wie sie erkennen konnte. Der dritte Kreis lag über der Westküste – sie konnte Kalaunga entziffern, dann kam Montalban schon wieder zurück. Er wirkte ruhig, aber sie wusste, dass unter dieser Ruhe die schiere Wut tobte.

»Schlechte Nachrichten«, fragte sie und bemühte sich, Besorgnis in die Stimme zu legen.

»Schlechte Nachrichten? Ja, auf Ebene A zumindest. Ein ärgerlicher Verlust an Material und Menschen.«

»Und auf Ebene B?«

Montalban zögerte mit der Antwort. »Wenn Sie von einem besonders gefährlichen und besonders intelligenten Menschenfresser-Löwen wissen und sich aufmachen, um ihn zu erlegen, was empfinden Sie, wenn er Ihnen zum vierten oder fünften Mal entwischt?«

»Ich würde mich ärgern. Vermutlich würde ich mit der Jagd aufhören und Golf zu meinem Hobby machen.«

»Die typische Antwort einer Frau. Und was würde ein Mann sagen? Er würde jubeln. Denn nun weiß er sicher, dass er den richtigen Löwen jagt. Und er weiß, dass er einen Gegner hat, den zu jagen sich lohnt. Und das ist die Ebene B.«

 

Montalban drängte zum Aufbruch. In der nächsten halben Stunde wurde mit dem Scheich gefeilscht, dann wurden Kisten auf die Tatra-Laster geladen, Papiere ausgetauscht und man brach die Lager ab. Nach kurzer Zeit blies der Wind über einen menschenleeren Platz und löschte die letzten Reifenspuren aus.

Während der Fahrt zu ihrer improvisierten Landepiste kostete Lucille ein geheimes Triumphgefühl aus. Irgendetwas, und sie würden herausfinden, was, hatte Montalban betroffen gemacht. Und sie hatte drei weitere Asse im Spiel – Nairobi, Dar-es-Salam, Kalaunga.

Was immer das bedeuten mochte.

***

»Wird er es schaffen?«

»Wenn er ein Rennpferd wäre, würde ich keinen Penny auf ihn setzten.« Der ältliche Arzt schaute Dorkas offen in die Augen. »Und Sie müssen wissen, dass ich auch auf geringste Chancen setze.«

Dorkas ging herüber zu Gray, der unter einer grauen Decke mit dem Namen eines Krankenhauses auf einer Bahre lag. Der Zustand des Verletzten war tatsächlich wenig hoffnungsvoll.

Gray rang nach Luft und bei jedem Atemzug drang ein heiseres Röcheln aus seiner Kehle. Er starrte blicklos in den nebelverhangenen Himmel. Als er Dorkas’ knirschende Schritte hörte, wandte er sich und winkte ihn zu sich.

Dorkas kniete sich ächzend hin, und als Gray noch einmal mühsam winkte, brachte er sein Gesicht trotz allen Widerwillens näher an das des Verletzten.

Gray stank nach Schnaps, Schweiß und Desinfektionsmittel. Nur mit Mühe konnte er den Mund bewegen. Speichelfäden spannten sich zwischen seinen Lippen, als er zum Reden ansetzte.

Dorkas musste sein Ohr ganz nahe an diesen Mund heranbringen, um das Geflüster zu verstehen.

»Die Geschichte mit dem … Mondkind …«

»Was ist damit?«, fragte Dorkas, sofort aufmerksamer.

»Ich glaube, dass das Mondkind mehr ist als eine Spinnerei. Ich glaube …« Gray saugte röchelnd und gurgelnd Luft ein. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er sammelte Kraft und konnte erst dann fortfahren.

»… es existiert. Ich belauschte Sarah und Christopher – vor einigen Wochen – sie hatten Angst davor – vor diesem Mondkind. Das war auch der Grund – einer der Gründe – aus London zu verschwinden. Falls Sie in Sarahs Zimmer gelangen …«

»Schluss jetzt, Sie müssen Kraft sparen.« Es war eine junge, dralle Sanitäterin, die jetzt mit berufsmäßig barscher Munterkeit nach der Liege griff. Ihr Kollege packte das andere Ende, Gray wurde in den Krankenwagen geschoben, die Türen wurden geschlossen und der Wagen fuhr ab.

Dorkas erhob sich unter weiterem lautem Ächzen.

 

Der Arzt verstand seinen fragenden Blick. »Schock«, sagte er. »Da kann ich Spritzen geben, bis es ihm aus den Poren rauskommt, wenn der Schock in der Seele sitzt, dann ist der Lebenswille dahin. Und dagegen kommt alle ärztliche Kunst nicht an. Mal abgesehen davon, die Bisswunden an sich sind nicht ohne. Wie konnte das nur passieren?«

Dorkas schaute in eine andere Richtung und zuckte die Schultern. »Ich habe es auch schon dem Constabler gesagt, dass ich keine Schimmer habe. Ich lag in meinem Bett, und als ich durch den Lärm erwachte, fand ich ihn in diesem Zustand neben dem Traktor. Vermutlich haben die Hunde durchgedreht.«

»Hunde können nicht durchdrehen, dafür sind sie zu blöd. Dieses Privileg teilt der Mensch mit den Primaten. Nun ja, ich mache mich wieder auf die Socken.«

Er ging zu seinem Wagen und ließ Dorkas in einer blauen Rauchwolke und dem Abgasgeruch eines schlecht eingestellten Motors zurück. Erst als der Mann schon neben ihm stand, bemerkte ihn Dorkas.

»Sie sind dieser Freund von Sarah?«, fragte der Mann. Seine Blicke wanderten mit offener Neugier über Dorkas. »Ich habe eben Ihre Notiz an meiner Tür gefunden. War ja ein bisschen Aufregung hier.« Er ging einen Schritt zurück und betrachtet Dorkas noch einmal, als handele es sich um das obszöne Kunstwerk eines übel beleumundeten Bildhauers. »Sie sehen nicht so aus, wie Sarahs Freunde«, stellte er dann fest. Es klang geradezu versöhnlich.

»Wir hatten eher brieflichen Kontakt«, stotterte Dorkas.

»Das erklärt manches, kommen Sie. Sie können sicher sein, wenn Sie ausgesehen hätten wie die Freunde meiner Tochter, dann hätte ich Sie mit Steinwürfen weggejagt.«

Dorkas trottete wortlos hinter Sarah Hammonds Vater her. Die Abneigung dieses Mannes gegen das soziale Umfeld seiner Tochter war offensichtlich und für Dorkas höchst beruhigend.

Er stand hier nicht dem Senior-Magier gegenüber, sondern einem verwirrten Vater, dem sein Kind mehr und mehr entglitten war, bis er es zuletzt ganz verloren hatte. Als ob er Dorkas’ Gedanken vernommen hätte, wandte er sich zurück.

»Wissen Sie, Sarah war eigentlich nicht mehr unsere Tochter. Klingt jetzt vielleicht ein bisschen grausam oder einfach wirr, aber es war so. Sie war schon immer ein ungebärdiges Ding, nicht pflegeleicht, wie man so schön sagt. Aber wir haben uns damit abgefunden, wie Eltern das tun sollten. Aber dann, vor einigen Jahren, entwickelte sie sich in eine völlig andere Richtung. Sie erschien uns wie ausgetauscht. Wir sahen sie wahrhaftig nicht häufig, vielleicht drei Mal im Jahr, wenn’s hoch kommt. Und bei solchen zeitlichen Abständen merkt man halt eher, wenn sich jemand verändert hat. Sie wirkte zuerst wie eine Fremde, und zuletzt, na ja, wie eine feindselige Fremde.«

»Und trotzdem ist sie zu Ihnen zurückgekommen.«

»Ja, das hat uns am meisten überrascht. Aber glauben Sie nicht, dass wir davon entzückt gewesen wären. Irgendwie hatten wir mit dem Kapitel schon abgeschlossen. So hart das klingt, aber wir hatten unsere Trauerphase schon hinter uns gebracht. Unsere Tochter war für uns gestorben. Es gab da ein paar Sachen, die ich Ihnen nicht auf die Nase binden muss, aber das machte uns klar, dass sie eine andere Person geworden war. Ich habe mich immer gefragt, wie Eltern es aushalten, zu ihren Kindern zu stehen, selbst wenn die sich durch Drogen selbst kaputt machen. Vielleicht kommt da Mitleid ins Spiel oder Schuldgefühle. Schuldgefühle hatten wir jedenfalls nicht gegenüber Sarah. Und Mitleid konnte man bei ihr auch nicht entwickeln. Man hat ja auch mit keinem Kampfpanzer Mitleid.«

 

Sie kamen zu der Haustür, und Dorkas trat in den engen Flur. Es roch muffig, man konnte merken, dass dieses Haus seit geraumer Zeit nicht mehr gelüftet worden war. Die trübe Stimmung, die dieser stickige Mief transportierte, passte bestens zu der Stimmung, in der sich Dorkas befand. Und trotzdem rieselte ihm ein Schauer über den Rücken.

»Warum haben Sie Sarah wieder aufgenommen?«, fragte er.

Der Mann zuckte nur mit den Schultern. »Keinen blassen Schimmer. Ich glaube, weder meine Frau noch ich wollten es. Aber Sarah wollte es, und sie setzte ihren Willen immer durch. Da stand sie eines Abends vor unsere Tür, mit einer Menge Gepäck und erklärte, frech wie Dreck, wenn ich mal so sagen darf, dass sie jetzt hier wieder wohnen wollte. Nun ja – gehen Sie ruhig hoch. Ich komme nicht mit. Ich will diese Räume nie wieder betreten.«

Eine schmale Treppe führte vom Flur aus in die obere Etage. Als Dorkas hochstieg, schleifte seine linke Hüfte an der Wand, und die rechte bekam Kontakt mit dem Geländer. Also drehte sich Dorkas und stieg, die eine Schulter vorgeschoben, die Füße vorsichtig setzend wie ein Hüftkranker, nach oben. Am Ende der Treppe knickte ein Flur nach rechts ab.

Alle Türen standen offen. Dorkas ging an einem Bad vorbei. Es folgte ein leerer, abgedunkelter Raum. Neugierig schaute Dorkas hinein. Hinter der Tür lagen zusammengerollte Futons, also war das wohl der Schlafraum gewesen. Aber sicherlich nicht nur das, denn Dorkas konnte deutlich einen schwachen Geruch von Räucherstäbchen wahrnehmen. Räucherstäbchen und ein Raum, in dem man die Matratzen zur Seite räumen kann.

Hier hatten sie ihre Rituale abgehalten, das stand für Dorkas fest. Als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, entdeckte er die Kreidelinie, die den Umriss eines liegenden Körpers auf dem Holzboden nachzeichnete. Schon wollte er sich zurückziehen, weil er sich wie ein sensationslüsterner Gaffer vorkam, als ihn eine Beobachtung zurückhielt.

Die Kreidelinie gab ohne Zweifel einen auf dem Rücken liegenden Körper wieder. Die Arme lagen neben dem Oberkörper, die Beine waren ausgestreckt, die Hände lagen flach auf dem Boden, und der Untersuchungsbeamte hatte jeden einzelnen Finger nachgezeichnet.

Dorkas zupfte sich an der Nase, kratzte sich am Kinn und versuchte, die Echos seiner geheimen Zweifel genauer zu vernehmen. Das alles wirkte zu entspannt, zu locker – so als hätte hier jemand sein autogenes Training absolviert und wäre dabei von einem Freund spaßeshalber mit Kreide nachgezeichnet worden.

Hatte Sarah Hammond den Tod in derartiger Ruhe erwartet? Drogen? Oder hatte man sie nach ihrer Ermordung auf diese Weise hingelegt, in die Mitte des Raumes, den Kopf gegen das Fenster nach Osten ausgerichtet?

 

Sir Edmond Dorkas stand eine Weile im Türrahmen und überlegte. Dann stieß er sich mit einer ungeduldigen Schulterbewegung ab und schritt auf den Raum am Ende des Ganges zu. Die Atmosphäre in diesem Haus schlug ihm auf das Gemüt. Er wollte es der Kombination von schlechter Luft und Übermüdung zuschieben, aber vielleicht war es etwas gänzlich anderes.

An der Wand zwischen den beiden Türen hingen gerahmte Fotografien. Zum ersten Mal sah Dorkas in das Gesicht von Sarah. Sarah als Kind auf der Schaukel – wehende rote Mähne, Sommersprossen, ein Sommerkleidchen, das wild flatterte, ein im Lachen weit geöffneter Mund, in dem die Zahnlücken dunkel schimmerten. Ein Mädchen, das einem schwedischen Kinderbuch entsprungen zu sein schien. Dorkas betrachtete das Bild mit einer gewissen Wehmut. Hier sah er, wie ein Leben begann und, während er diesen festgehaltenen, fotografisch eingefrorenen Moment vor Augen hatte, kannte er das Fazit dieses Lebens und fragte sich, ob dieses wilde Mädchen nicht tausend bessere Möglichkeiten gehabt hätte als jene, die es schließlich wählte.

Auf dem Foto standen die Schaukelseile parallel zum Boden, stellte Dorkas noch fest, bevor er zum nächsten Bild überging. Sarah im Kreis von Klassenkameraden. Sie stand nicht in der Mitte, aber ihre Gestalt markierte dennoch den Schwerpunkt der Gruppe. Unklar, woran das lag; an der Flut roter Haare vielleicht oder an der Art, wie sie die eine Hand auf die Hüfte gelegt hat. Für ein Blag diese Alters eine höchst unpassende Geste. Dorkas seufzte und machte einen Schritt zur Seite. Er spürte dieses Kribbeln im Hinterkopf, das ihm die Nähe einer Erleuchtung signalisierte – die ersten Beben einer guten Idee, die sein Hirn noch nicht in Worte fassen konnte.

Sarah zusammen mit Freunden. Jetzt stand sie im Mittelpunkt, hatte die Arme um die beiden Halbstarken an ihrer Seite gelegt. Ihr allzu enger Pullover ließ keine Zweifel aufkommen, dass sie die entscheidenden Schritte in Richtung Weiblichkeit schon gemacht hatte. Sie wirkte so, als wäre sie einem Bild der Präraffaeliten entsprungen – schön, blass, edel, fast durchschimmernd wie ein Schmuckstück. Und dabei eine eigensinnige Jungfer, die den Drachen ebenso nervlich strapaziert, wie den Ritter, der sie vor eben diesem Drachen rettet.

Das letzte Bild zeigte eine Porträtaufnahme. Dorkas baute sich davor auf und betrachtete es mit der Aufmerksamkeit eines Kriminalisten, der in den Zügen eines Verdächtigen forscht.

Er schaute eine Weile, stutzte, ging zurück zum vorigen Bild und kehrte von dort wieder. Kein Zweifel, es war das Gesicht desselben Menschen. Aber dennoch – welche Veränderung!

Derartige Sprünge in der Entwicklung erwartete man vielleicht bei einem Kleinkind oder einer Jugendlichen, die in den unsicheren Fahrwassern der Pubertät schifft.

Aber Sarah Hammond hatte, als sie sich mit ihren Freunden abbilden ließ, diese Klippen wohl schon hinter sich gelassen. Nein, das gefiel ihm nicht. Dorkas grunzte missbilligend und widmete sich erneut der Betrachtung des letzten Fotos. Das Gesicht hinter der spiegelnden Glasscheibe hatte etwas eindeutig Katzenartiges. Schräg stehende Augen, eine kleine Nase, perfekt geschwungene Brauen, dazu ein großer Mund mit vollen Lippen.

Dorkas überlegte eine Weile, dann wusste er, woran ihn dieses Gesicht erinnerte. Es wirkte wie die fleischgewordene Interpretation jener olmekischen Statuen, von denen die Wissenschaft behauptet, sie würden menschliche Züge mit denen des heiligen Jaguars vermischen. Genau dieses Katzenartige hatte Dorkas verwirrt, denn es kam wie ein verborgenes Laster zum Vorschein, von dem in den früheren Porträts nichts zu sehen gewesen war. Sie war keine Schönheit. Aber sie hatte eine Aura von Wildheit, Eigensinn und unbändiger Energie um sich, die selbst aus diesem Foto herauszuknistern schien. Ganz ohne Zweifel war Sarah Hammond eines jener weiblichen Wesen gewesen, deren Erscheinen jede Ehegattin im weiten Umkreis in Panik versetzt.

Eine Frau, deren Auftritt ein gutes Dutzend dieser konfektionierten Laufsteg-Zicken mit ihren leerfotografierten Hochglanz-Frätzchen aufwiegen konnte.

 

Dorkas schaute sich weiter um. Der Impuls, sich abzuwenden und Sarah Hammond zu vergessen, stieg in ihm hoch wie die Übelkeit nach einer durchzechten Nacht. Für einen Moment schloss er die Augen, konzentrierte sich und widerstand. Er erkannte eine träge Grausamkeit, eine schläfrige Verkommenheit unter einem herrlich weichen Fell. Nein, Dorkas hätte die Tatsache, dass Sarah Hammond tot war, sogar begrüßt, wenn diese Dame nur die Freundlichkeit gehabt hätte, sich in einer weit entfernten Gegend ermorden zu lassen.

Er wandte sich ihrem Zimmer zu. Die Einrichtung bot ein wenig einheitliches Gemisch von Jungmädchenzimmer, Hippieunterkunft und Bibliothek. Auf dem mit einer rosa Decke bezogenen Bett saß eine alte Stoffpuppe. Ihr fröhlich grinsendes Pfannkuchengesicht hatte offensichtlich sehr viele kindliche Zärtlichkeitsattacken zu ertragen gehabt. Der Anblick ließ Dorkas an das kleine Mädchen denken, das Sarah einmal gewesen war, und für einen Moment überflutet ihn ein Gefühl von tiefer Sympathie und Mitleid. Dann erfasste sein forschender Blick eine schwere Bronzevase, eine Nachbildung eines mykenischen Originals.

Er wollte die wenigen Schritte hinübermachen, und in diesem Moment schlug die sentimentale Stimmung, die er mit einem gewissen Vergnügen in sich nachklingen ließ, um.

Dieses Unwohlsein, das nicht körperlich, sondern geistig war, kam derart plötzlich und massiv, dass es Dorkas fast den Atem nahm. Sein erster Gedanke bestand darin, so schnell wie möglich diesen Raum, dieses Haus, diese Gegend zu verlassen. Seine Beine wendeten sich schon automatisch, ohne bewussten Befehl, wieder der Tür zu, als es Dorkas gelang, der plötzlichen Panik Herr zu werden. Dorkas japste wie ein alter Karpfen auf dem Trockenen. Dann wischte er sich mit einer zornigen Bewegung den Schweiß von der Stirn und ging wieder auf die Vase zu. Sie enthielt nichts Aufregendes, lediglich eine Menge langer Nadeln mit massiven Rundköpfen, wie sie in jeder Schneiderwerkstatt zu finden waren.

Dorkas wendete sich einem Regal zu. Seine Begeisterung für Bücher überdeckte jetzt alles andere.

Sorgfältig las er die Titel und machte sich ein Bild über das Alter der Werke. Da gab es nichts, was man nicht in jedem besser ausgestatteten esoterischen Buchladen finden konnte.

Magische Grundlagenliteratur – LÈvi, Crowley, Blavatsky, einige Werke über Schamanismus, Alchemie und Hexenkult und das alles in neuen Auflagen. Neugierig zog Dorkas einen Zettel aus einem Werk von LÈvi. Kleinbürgerlicher, feiger Scheißer stand darauf. Und auf einem ähnlichen Zettel, den Dorkas aus Crowley’s Magick zupfte, hatte jemand, und es gab keinen Zweifel, dass es Sarah gewesen war, geiler alter Sack gekritzelt. An Selbstbewusstsein hatte es ihr nicht gemangelt. Aber darüber hatte es auch nie Unklarheit gegeben. Was hatte sie an LÈvi zu bemängeln? Gab es da nicht eine Geschichte von einer Dämonenbeschwörung, die LÈvi nicht zu Ende geführt hatte, weil er vorher in Ohnmacht gefallen war?

So genau konnte sich Dorkas nicht erinnern, aber er war sicher, dass er auf der richtigen Spur war. Ja, es passte nur allzu gut zu Sarah Hammond; sie würde nie in Ohnmacht fallen, sie würde den Weg bis zum Ende durchgehen. Und sie würde sich auch nicht in sexuellen Vorlieben und Eitelkeiten verstricken wie Crowley. Den Weg bis zum Ende gehen.

Der Satz klang in Dorkas Kopf nach. Suchend blickte er sich um, wendete sich um die eigene Achse und prüfte jeden Gegenstand, auf den sein Auge fiel.

Den Weg zu Ende gehen – das Echo dieses Gedankens wurde leiser, und je mehr er verlosch, desto schneller sickerte und tröpfelte erneut eine unbestimmte Panik in Dorkas’ Denken. Wie eine flüssige Masse, durchsichtig, geschmacklos und unbesiegbar flutete sie über ihn, umschloss jeden Gedanken, wisperte in seine Ohren, schüttelte ihn mit gesichtsloser Furcht, ließ seinen Atem hecheln und seinen Puls jagen. Nur raus hier – Bilder von Brandkatastrophen, Explosionen, zusammenstürzenden Gebäuden rasten ihm durch den Kopf wie die bebilderten Kommentare seiner Panikattacke.

Dorkas versuchte, die Finger an seine Schläfen zu legen, um sich dort zu massieren. Aber was seine Fingerspitzen ertasteten, konnte nicht sein Kopf sein, es musste sich um einen fremdartigen, absonderlichen, abstoßenden Gegenstand handeln, dessen war er sich sicher, während er zugleich unsagbar widerwärtige Berührungen auf seiner Kopfhaut ertragen musste, deren Herkunft ihm nicht deutlich war.

Das ist das Ende, ging es ihm durch den Kopf, und dieser Gedanke hatte etwas ungemein Tröstliches. Und als ihm diese Tatsache bewusst geworden war und er sie dankbar angenommen hatte, schienen alle Bilder und Gedanken wie weicher Schnee niederzurieseln, alles sank und fiel, und Dorkas gab sich diesem Sinken hin, während sein Herz die letzten vergeblichen Schläge tat und seine Poren die letzten öligen Schweißtropfen herauspressten.

Dann traf ihn ein Widerstand. Es war, als wäre er in seinem süßen Sinkflug, hinab in den warmen, weichen Schlamm der endgültigen Auflösung, an einem Vorsprung hängen geblieben. Etwas, das weit jenseits der Worte, der persönlichen Erinnerung, der bewussten Entscheidungen seinen Ursprung hatte, hielt ihn auf, stärkte ihn und peitschte ihn rücksichtslos zurück in das Leben.

Und so tauchte Dorkas wieder auf, schoss aus der Tiefe der Selbstaufgabe hinauf in das klare Bewusstsein, giftig wie ein hungriger Hai und wütend wie eine nasse Katze.

Das Zimmer schien von Wellen erfüllt, Vibrationen, als würde irgendwo ein riesiger Lautsprecher unhörbare Bässe in die Welt hinausbrüllen. Dorkas konnte förmlich spüren, wie es seine Haut traf, wie sein Solarplexus zum Resonanzboden zu werden schien. Energien tobten zwischen den Wänden, sprangen hin und her, überkreuzten sich, verdichteten sich zu beinahe materieller Form.

Die Luft vor Dorkas schien sich zu verdichten, sie flimmerte, waberte und kochte, als wäre dort eine Hitzequelle. Aus den Schlieren formte sich eine Gestalt – oder war es eine Augentäuschung, ein Staubfädchen auf der Pupille, ein Faden an der Wimper.

Dorkas beschloss, dass es genau so war. Er sammelte alle Kraft, die er noch in sich spürte, und indem er sich über das Gesicht wischte, beendet er mit einem Schlag alle Erscheinungen, die ihn eben noch bis an die Grenze des Todes getrieben hatte. Er sah etwas, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Er ergriff das große, gefaltete Blatt, ging aus dem Raum und wunderte sich selbst, wie banal und einfach sein Abgang war. Diese Verwunderung hielt an, bis er sich wieder die enge Treppe herunterschieben musste.

 

»Sie sehen aus, als hätten Sie da oben einen Marathonlauf absolviert«, sagte der alte Hammond etwas verstört.

»Nun ja«, antworte Dorkas trocken, »jedenfalls war ich in einer gewissen Richtung eine gewaltige Strecke unterwegs.«

Vor ihm lag das Blatt, das er aus Sarahs Zimmer geholt hatte. Es war eine Landkarte, aber mit dieser Feststellung war Dorkas auch schon am Ende des Verstehens angelangt. Es gab keine Namen auf dieser seltsamen Karte, keine Städte, keine markanten Punkte. In gewisser Weise ähnelte alles einem Schnittmusterbogen mit geraden, gekurvten, durchgezogenen oder gestrichelten Linien, die sich vereinten, trennten, sich durchschnitten und in bestimmten Punkten zusammenliefen.

»Darf ich mir eine Kopie hiervon machen«, fragte Dorkas.

»Warum Kopie? Nehmen Sie doch den Wisch mit!«

Dorkas bestand darauf, eine Kopie zu machen. Es war schwierig, genug Papier zu finden.

Schließlich fand Hammond in einer Ecke unter einem Stapel Zeitschriften noch Reklamezettel, wie sie Supermärkte oder andere Geschäfte verteilen lassen. Die Handzettel waren nur auf einer Seite bedruckt.

Dorkas und Hammond klebten sie zusammen, und dann begann Dorkas sorgfältig mit der Übertragung der Zeichnung.

»Eine Frage«, sagte er zwischendurch, während er sich an der Kopie zu schaffen machte, » hat Ihre Tochter genäht oder geschneidert?«

»Sarah? Die hielt alles, was damit zu tun hatte, für Weiberkram. Das sagte sie wörtlich so. Warum fragen Sie?«

»Och, nur so.« Dorkas erwähnte die Nadeln, die in Sarahs Zimmer gefunden hatte, nicht. Aber deren Verwendung war ihm jetzt ohne weiteren Zweifel klar geworden.

»Noch was«, Dorkas strichelte die letzte Linie. »Hätten Sie vielleicht ein Foto Ihrer Frau?«

Hammond war es müde, die Wünsche seines seltsamen Gastes zu kommentieren. Er verschwand wortlos und kehrte mit einem Familienfoto zurück. Misses Hammond war eine eher untersetzte, dunkelhaarige Dame – der Typ der italienischen Mama, bei deren Anblick Dorkas sofort mit einem gewissen Schauder an stark behaarte Waden dachte.

»Ich weiß, was Sie denken.«

»Sagen Sie mir, was ich denke, das erspart mir eigene Anstrengung«, erwiderte Dorkas und faltete die Kopie der Karte sorgfältig zusammen.

»Dass Sarah weder mir noch meiner Frau ähnelt, haben schon andere bemerkt. Und zuallererst wir, die Eltern. Aber ich versichere Ihnen, dass sie weder ein Adoptivkind war, noch das Ergebnis eines Fehltrittes seitens meiner Frau.«

»Tja, dann war es wohl die Verwandtschaft, die sich unbekannterweise hier genetisch bemerkbar gemacht hat«, kommentierte Dorkas. Aber wenn er seine wahren Gedanken geäußert hätte, hätte es anders geklungen.

Hammond bestand darauf, für Dorkas einen Tee zu kochen. Dem war das nicht recht, er wäre am liebsten sofort von diesem Ort verschwunden, aber seine Höflichkeit, in Verbindung mit seinem unbezwingbaren Appetit auf Tee, ließ ihn bleiben.

Sie unterhielten sich eine Weile, wobei jeder darauf achtet, möglichst nett und unverbindlich zu bleiben.

Dann sagte Hammond: »Und was raten Sie mir. Was soll ich jetzt machen?«

Dorkas schwieg. Die Stille, die sie mit ihrem Gerede so tunlichst vermieden hatten, breitete sich aus.

»Verkaufen Sie das Haus«, antworte Dorkas dann. »So schnell wie möglich. Gehen Sie fort von hier und kehren Sie nie wieder zurück.«

Er sah seinem Gegenüber in das Gesicht und erkannte, dass der etwas anderes erhofft hatte. Aufmunterung, Tröstung – er war ein Mann, der durch die Hölle gegangen war, der zusehen musste, wie sich seine geliebte Tochter, dieses niedliche, ungebärdige, charmante, kluge kleine Ding in ein Monster verwandelte, in eine Fremde, die sich mit der Aura der Bedrohlichkeit umgab. Keine Spiele mit den Enkelkindern an sonnigen Tagen im Garten, keine Gemeinschaft im Familienkreis, keine Gespräche, die einem alternden Mann das Gefühl geben würden, dass etwas von ihm weiterlebt, selbst wenn er einmal diesen zeitlichen Körper hinter sich gelassen hat.

»Es ist nie zu spät für einen neuen Anfang«, sagte Dorkas und vernahm mit einer gewissen Verwunderung den Klang seiner Stimme, die diesen Gemeinplatz mit der Entschiedenheit einer ewigen Wahrheit verkündete. Er war gespannt, was er noch sagen würde. »Seien Sie ehrlich, Sie sind nur zu feige, um Ihre wirklichen Wünsche lebendig werden zu lassen. Kaufen Sie sich das Segelboot, von dem Sie seit Ihrer Jugend träumen, der Erlös des Hausverkaufes wird dafür reichen, und lassen Sie alles hinter sich. »

Hammond lehnte sich nach vorne und schaute Dorkas aufmerksam an. »Woher wollen Sie wissen, was ich mir seit meiner Jugend gewünscht habe? Ich meine – Sie haben recht, völlig – aber woher wissen Sie …«

»Manchmal habe selbst ich helle Momente«, bekannte Dorkas leichthin. Und dann fügte er noch hinzu: »Machen Sie sich wegen Ihrer Frau keine Sorgen. Sie wird mitmachen, Sie müssen Sie nur fragen.«

 

Hammond brachte Dorkas mit dem Wagen hinunter zur Küste. Und mit jeder Meile, die sie sich von dem Ort in den Bergen entfernten, fiel eine Schicht grauer Betrübnis und Furcht von ihnen ab. Zuletzt verriet Hammond sogar sein intimstes Geheimnis – den Stapel Prospekte über Welsh Fishing Boats, den er seit Jahren, als wäre es pornografische Literatur, zwischen seiner Wäsche versteckte. Hammond setzte Dorkas an einer Bushaltestelle ab, murmelte etwas, das nach Danke klang, und tuckerte davon.

Die Leute, die mit ihm an der Bushaltestelle warteten, schauten Dorkas mit einem gewissen Misstrauen an. Denn der dachte gerade wieder an Sarah Hammond. Diese Frau war wirklich unglaublich. Es war surreal, unmöglich, unfassbar, gefährlich wie ein Bakterienkrieg und er wusste dennoch, dass sie es wirklich getan hatte. Sie war den Weg zu Ende gegangen.

Dorkas kicherte, bis sein geschüttelter Leib das Lachen nicht mehr halten konnte und er losprustete.

Die Leute um ihn her rückten etwas weiter von ihm fort.

***

»Ich habe keine Lust auf Komplikationen«, sagte Tony Tanner und stieg aus dem Wagen. »Ich habe in der letzten Zeit so viele Komplikationen gehabt, dass man darüber eine ganze Seifenoper schreiben könnte.«

MacMorley schaute Tony ungeduldig an. »In diesem Fall und da es hier keine Bäume gibt, an denen Sie sich aufhängen könnte, kann ich Ihnen nur den Rat geben, zehn Minuten am Auspuffrohr Ihres Wagens zu saugen. Bei laufendem Motor versteht sich. Wenn Sie sich für das Weiterleben entschließen, dann kommen Sie.«

Er führte Tony in das größte Zelt, in dem sich die Arbeiter versammelt hatten. MacMorley und Tony waren die einzigen Europäer.

»Wo ist der Assistent?«, flüsterte Tony.

»Gestern nach Kairo abgereist. Kurz vor dem Sandsturm. Er hat den berühmten Koffer dabei. Das war kurz vor dem Unfall.«

»Welchem Unfall, um Gottes willen?«

MacMorley palaverte mit dem Vormann der Arbeiter, und langsam wurde klar, was geschehen war.

Von Puttkammer hatte auch während des Sandsturmes in der Grabkammer gearbeitet, allein, wie es seine Art war. Die Arbeiter mussten sich in die Zelte zurückziehen und bemerkten nach Abklingen des Sturmes, dass der Zugang zum Grab verschüttet war. Sie hatten das zuerst dem Sturm zugeschrieben und versucht, den Gang zu öffnen. Dann war ihnen klar geworden, dass die gesamte Konstruktion zusammengebrochen war. Unter herabgestürzten Steinquadern fanden sie von Puttkammer, verstümmelt und erschlagen.

Der Vormann glaubte an eine Explosion. Von Puttkammer und sein Assistent arbeiteten bei Gaslicht, in dem Zugang und der Kammer selbst standen einige volle Ersatzflaschen, und die elektrostatische Aufladung durch den Sandsturm könnte die Katastrophe ausgelöst haben.

»Genau werden wir das nie herausfinden«, knurrte MacMorley. »Es ist alles verschüttet, zusammengefallen und zerstört.«

»Und die Grabkammer. Das waren doch unersetzliche Erkenntnisse …«

»Verloren. Alles verloren.« Aus den hinteren Reihen der Arbeiter erklangen zornige Stimmen.

Tony konnte nur Allah verstehen, alles andere verschwand in einem Schwall fremder Worte. Der Vormann wandte sich den Störern zu und antwortete lautstark. Worte und Widerworte wechselten sich ab. Die Stimmung wurde aggressiv.

Tony schob sich rückwärts aus dem Zelt, während MacMorley seinem kämpferischen keltischen Wesen entsprechend in der Diskussion mitmischte, ohne sich um irgendwelche Sprachbarrieren zu kümmern. Tony ging zu dem Loch, das noch gestern der Mittelpunkt der Ausgrabung gewesen war.

Einige halb von Sand bedeckte Steinblöcke zeigten die Stelle an, wo man auf den Gang gestoßen war. Die Verschalung aus Brettern, die den Sand am Nachrieseln hindern sollte, war geborsten. Die Explosion musste gewaltig gewesen sein. Es würde nur Tage dauern, bis alles wieder vom Sand aufgefüllt war.

Ein kleines Zelt erregte Tony Aufmerksamkeit. Es stand direkt neben dem Grabungsloch. Aufgerissene Filmverpackungen deuteten an, dass hier einzelne Ausgrabungsstücke fotografiert und wahrscheinlich auch registriert worden waren. Verstohlen blickte Tony um sich.

Aus dem Versammlungszelt tönten immer noch laute Stimmen. Keiner achtete auf ihn. Er schob den Zeltstoff zur Seite und schlüpfte in das Innere. Dort fand er eine Bank, auf der Bank eine liegende Gestalt, über der liegenden Gestalt eine schwere Tuchplane. Er zögerte, wartete, bis sich sein Puls beruhigte, und hob dann die Plane hoch. Im nächsten Moment wünschte er, er hätte dieses Zelt nie betreten, aber nun war es zu spät für Hemmungen.

Dort, wo einmal der Kopf des Archäologen gewesen war, war nun eine Fratze, eine Schreckensmaske, geformt aus Sand und Blut. Es gab hier nicht die Gnade des Missverstehens – von Puttkammer war von einem Stein am Kopf getroffen worden, der Schädel war zerschmettert und verformt, das Gesicht in einem letzten Schrei erstarrt. Der feine Sand hatte sich mit dem Blut zu einer festen Masse verbunden, die alle Züge überdeckte und nur die Zähne des geöffneten Mundes sichtbar ließ.

Tony schluckte und zog die Plane weiter zurück. Dort, wo sie den Kopf bedeckt hatte, war ein schmutzig roter Fleck. Sand rieselte von der Leiche. Der linke Arm stand unnatürlich vom Körper ab. Der rechte Arm lag halb auf der Brust. Die Hand war ebenfalls unter einem getrockneten Gemisch aus Sand und Blut verschwunden.

Tony ging auf die andere Seite der Bank. Die linke Hand war krallenartig geöffnet, während die rechte erkennbar geschlossen war. Er überwand noch einmal seine Widerwillen und begann, den Sand von der rechten Hand zu entfernen. Die Finger wurden sichtbar. Sie umklammerten einen Gegenstand.

Es kostete Tony viel Mühe und noch mehr Überwindung, diesen Gegenstand aus den leichenstarren Fingern zu befreien. Er brachte die Plane zurück in ihren ursprünglichen Zustand, ging aus dem Zelt und erbrach sich. Als er die Krämpfe, die ihn

161 schüttelten, einigermaßen überstanden hatte, ging er auf das Versammlungszelt zu.

MacMorley kam ihm entgegen. »Verschwinden wir«, sagte der Schotte und zerrte Tony am Arm zum Wagen.

Auch Tony hatte keine Veranlassung, hier länger zu verweilen. Erst als sie hinter der nächsten Kette von Sanddünen verschwunden waren, entspannten sie sich.

»Jetzt werden sie sich die Köpfe einschlagen«, meinte MacMorley. »Sie haben das ja nicht mitgekriegt, aber da ist jetzt ein regelrechter Glaubenskrieg ausgebrochen. Die Rationalisten gegen die islamischen Fundamentalisten und die Abergläubischen gegen beide. Eine Partei glaubt an eine Explosion, die andere an eine Strafe Allahs für leichenschänderische Ungläubige, und die dritte an den Fluch des Pharaos.«

»Und woran glaubt Herr MacMorley?«

»Ich habe versucht, diesen Leuten klar zu machen, dass ja alles drei zugleich möglich ist. Aber die mögen jetzt eine handfeste Keilerei, und mir ist es letztlich egal.«

 

Der Geländewagen wühlte sich in Richtung Bir Tarfawi durch den Sand.

Und Tony Tanner kannte seine nächste Aufgabe. Er musste versuchen, aus den Hubschrauberpiloten herauszubekommen, wer ihre Auftraggeber waren. Und es gab noch diesen Assistenten namens Bruce.

»Was ist eigentlich genau in dem ominösen Koffer, den Bruce mit sich führt?«, fragte er MacMorley.

»Schauen Sie rein, dann wissen Sie ‘s.«

»Danke für diese ausführliche und so nett formulierte Auskunft.«

Eine Weile herrschte verbissenes Schweigen. Dann fragte MacMorley: »Gehen Sie jetzt direkt nach Kairo?«

»Über Abu Simpel. Warum?«

»Ich werde noch einige Tage in Kairo bleiben. Ich will wissen, was Hornsby mit seinen Mannen vorhat. Vielleicht werde ich gewahr, wo sich Bruce rumtreibt. Der Typ interessiert mich zwar kein bisschen, aber wenn ich was von ihm höre, dann melde ich mich bei Ihnen. Falls Sie Ihre Hoteladresse rausrücken.«

»Es geht nichts über Adressentausch mit richtig netten Menschen.«

***

Die Piloten waren aus Bir Tarfawi verschwunden. Im Grunde hatte Tony mit nichts anderem gerechnet. MacMorley übernahm den Wagen, den Tony bisher gefahren hatte, und brach ohne weitere Umstände nach El Kharga auf.

Das Wiedersehen mit Nagib war herzlich. Nagib drängte zum Aufbruch. Als sie El Shab erreicht hatten, erklärte er Tony, es sei besser, einen anderen Weg zu wählen. Und so fuhren sie in Richtung Edfu, eine Strecke lang parallel zum Nil. Den Rest der Strecke legte Tony mit der Eisenbahn zurück, nicht ohne sich vorher von Nagib verabschiedet und ihn bezahlt zu haben.

Als er wieder in seinem Hotel war, auf dem Bett lag, gegen die Decke starrte und auf den Lärm des Kinos hörte, fragte er sich, ob er jemals mit diesem Aufruhr in seinem Kopf fertig werden könnte. Es war, als würden ihn von allen Seiten Leute anschreien und, schlimmer noch, als bestünde sein Kopf aus Tausenden von Videoanschlüssen, in die ständig gleichzeitig Bilder eingespeist würden.

Er griff in seine Brusttasche und holte den schweren Gegenstand hervor, den er aus Puttkammers Totenkrallen genommen hatte.

Es war ein schmaler, fingerlanger Stab, dessen beide Enden mit Widderköpfen verziert waren. Der Stab hatte keine offensichtliche Funktion. Er war weder Werkzeug noch Schmuckstück. Und für ein Herrschaftszeichen war er, obwohl aus Gold, zu klein und viel zu unscheinbar. Zumindest hatte er eine beruhigende Funktion, denn Tony schlief mit dem Stab in der Hand ein und erwachte erst am Morgen, weil ihn sein eigenes Schnarchen störte.

Beim Frühstück überlegte er die nächsten Schritte. MacMorley hielt sich wahrscheinlich noch in Kairo auf. Er musste dem Schotten noch etwas Zeit lassen, vielleicht würde er dann mit dem Aufenthaltsort von Bruce rausrücken. In der Zwischenzeit konnte sich Tony ganz seiner sentimentalen Ader hingeben und den Laden in der Altstadt aufsuchen, in dem er damals zusammen mit Francine eine gewisse Statue gekauft hatte, den Hermes Trismegistos. Bei dem Gedanken an diese Statue und an das, was sich an sie anknüpfte, überkam ihn ein leichter Unmut. Wenn es je eines Beweises bedurfte, dass alles, was man im Leben machte, falsch war und das Gegenteil ebenfalls, dann war er hier zu finden. Mit dieser tröstlichen Erkenntnis ausgestattet, machte sich Tony auf den Weg.

Hätte er die Gestalt bemerkt, die sich an seine Fersen heftete, dann wäre ihm sofort klar geworden, dass er einen schweren Fehler gemacht hatte.

 

Während Jeremy Steele durch das Gewimmel von Fußgängern einen gewissen Tony Tanner verfolgte, fragte er sich wie so oft in den letzten Tagen und Wochen, wer von ihnen der Jäger und wer der Gejagte war. Auf den ersten Blick schien die Antwort eindeutig. Er hatte Tonys Spur in London aufgenommen, hatte sie verloren, hatte sie wieder aufgenommen, hatte Tanner nach Kairo verfolgt. Er hatte diesen Moloch Kairo, dieses alles verschlingende lehmbraune und betongraue Chaos von Boulevards, Straßen und Gassen durchstreift, hatte sich voll zähneknirschender Wut und dann wieder mit eiskalter Ruhe in sein Zimmer in der billigen Absteige zurückgezogen, hatte in diesem schäbigen Raum voll des Miefs von feuchten Tapeten, leckgeschlagenen Abwasserrohren und schmutzigen Laken, in dem gestreiften Helldunkel, das durch die Fensterläden fiel, überlegt, gewartet, sich das Hirn zermartert.

Draußen quoll der Verkehrslärm auf wie ein gigantischer Hefeteig, brandete durch die Gasse, drang in sein Zimmer, aber Steele bemerkte nichts davon. Er war eingeschlossen in das Kreisen seiner Gedanken, er strickte seine Netze und legte seine Fallstricke. Er versuchte, die Schritte seines Opfers zu erahnen, sie in dem imaginären Raum der Vermutung und des Verdachts zu wittern, zu verfolgen und vorherzusehen. Er spielte ein Spiel, dessen Regeln er nicht festlegen konnte. Er spürte den Fluch des Jägers, das uralte Paradox, das den Verfolger zwingt, sich auf das Wild einzulassen, es zu erspüren, seine Reaktionen zu lernen, seine Finten und Hakenschläge zu den seinen zu machen. Schließlich ist es nicht mehr die Frage, was macht das Tier, was macht er, sondern was mache ich.

Denn er ist ich. Ich bin sein Parasit, ich bin die Zecke, die unbemerkt in seiner Haut sitzt, ich nähre mich von seinem Blut. Der beste Jäger ist der, der dem Hirsch gleich geworden ist.

Und manchmal ist genau das der Anlass zur Jagd. Nicht der Hunger, nicht der Schutz der Herden. Sondern eine Pilgerschaft, an deren Ende der Untergang des Jägers steht oder sein Übergang zu einem Wesen von begnadeter Kraft, wenn er das machtvolle Tier erlegt, wenn er dessen Herz verzehrt und die Klauen und Zähne zu seinem Schmuck gemacht hat. Und der Jäger preist und lobt sein Opfer.

 

Aber das war nicht Steeles Jagd. Er dachte nicht in solchen Kategorien. Steele war auf seine Art ein Gralssucher, und die Schale, die ihm Erlösung bringen sollte, barg das Blut und den Schmerz eines Verhassten. Und dennoch – war es nicht ein unglaublicher Zufall, dass er sich vor dieses Hotel auf die Lauer gelegt hatte? War es ein Triumph seines, Steeles, Scharfsinns, oder zappelte er vielleicht schon selbst in der Falle? War er noch der Jäger oder hatten sich die Verhältnisse nicht schon längst umgekehrt? Hatte er die Spur gefunden oder war sie gelegt worden, damit er sie finden sollte? Aber wenn es so war, wozu diente es?

Auf Steeles Schläfen drückten sich bläulich schimmernde Adern durch die Haut wie zornige Nattern, die sich auf hellem Fels ringeln. Es war Zeit zu handeln, er wollte sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen.

Tony Tanner ging am Bahnhof vorbei. Steele rückte ihm näher, denn er fürchtete einen plötzlichen Fluchtversuch durch die Menschenmassen, die sich aus einem gerade aus Alexandria angekommenen Zug hinaus auf den Vorplatz ergossen. Nichts dergleichen.

Tony Tanner verfolgte unbeirrt seinen Weg. Manchmal blieb er stehen, orientierte sich und ging dann weiter. Er folgte einem System, einem inneren Plan, den Steele nicht erkennen konnte.

Sie kamen an der Al-Aqsa-Moschee vorbei, dann bogen Tony Tanner und mit ihm sein Schatten in die Altstadt ab. Vor einem Laden mit vernagelter Tür blieb Tony stehen. Er zögerte, schien unsicher, was er tun sollte, und dann betrat er das Geschäft nebenan und blieb dort.

Steele hielt sich hinter einem Eselskarren in Deckung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sein Opfer wieder aus der Vordertüre erschien, war gleich Null. Andererseits zögerte Steele, seinerseits den Laden zu betreten. Vielleicht war es genau das, was von ihm erwartet wurde.

Aber wenn es so war, hielt man ihn für ziemlich blöde. Steele kam mit seinen Überlegungen nicht zu Ende, denn Tanner erschien wieder, begleitet von dem Ladenbesitzer, der einen kleinen Jungen herbeirief. Mit dem zusammen verschwand Tony Tanner in einer Ladenpassage.

Vermutlich lässt er sich zu irgendeinem besonders bekannten Geschäft führen, dachte Steele, der mit Mühe den Anschluss halten konnte. Aber weder der Junge noch Tony Tanner warfen auch nur einen Blick auf die goldglänzenden Auslagen der Schmuckhändler, auf Kunsthandwerk, Touristenkitsch und Teppiche.

Sie durchquerten das Viertel der Geschäfte und erreichten Wohnstraßen, in denen Fremde selten gesehen wurden.

Der Junge deutet auf eine Tür, bekam seine Belohnung und machte sich schleunigst aus dem Staub. Steele drückte sich hinter den Pfeiler eines Hauses. In dieser engen Gasse gab es ein oder zwei Gemüsehändler, ein Kaffeehaus, in dem ein Kassettengerät klagende arabische Melodien dudelte – und ansonsten nur schmucklose, teils sogar recht unansehnliche Wohnhäuser. Was also führte diesen Mann hierhin?

Tony Tanner zögerte. Seit er an diesem Morgen aufgestanden war, fühlte er so etwas wie eine elektrische Spannung in der Luft. Es knisterte merklich auf der Haut, die Stadt wirkte noch lauter, noch aufgedrehter und chaotischer, wie eine zu stark parfümierte, zu stark geschminkte Frau am Rande eines hysterischen Anfalls. Der Lärm der Hupen und das Geschrei schienen sich mit geschliffenen Spitzen in das Gehör zu bohren. Eine solche Atmosphäre drängte eigentlich dazu, sich mit einer Kanne Kamillentee und einem Roman von Sir Walter Scott in einen sehr weich gepolsterten Sessel zurückzuziehen.

 

Soviel zum Thema, in der Theorie habe ich mein Leben völlig im Griff, dachte sich Tony Tanner und stellte mit einer gewissen Befriedigung fest, dass ihm wenigstens die Selbstironie noch geblieben war. Er war denselben Weg gegangen, denn er einmal zusammen mit Francine gegangen war. Gegangen war eigentlich ein falscher Ausdruck, sie waren geschlendert – eine Art der Fortbewegung, die in den Tafeln der Biologie nicht verzeichnet ist, denn Hand in Hand mit einer Frau zu gehen, beflügelt und verzögert zugleich. Mit Enttäuschung hatte er erfahren, dass der Laden, in dem er die Hermes-Statue gekauft hatte, schon seit einiger Zeit geschlossen war. Dann war ihm der Zettel eingefallen, den er in dem Grabmal gefunden hatte, und er nutzte die Gelegenheit, um sich nach der Adresse zu erkundigen. Wäre die Straße nicht zufällig in der Nähe gewesen, dann hätte er die Angelegenheit vergessen.

Er hielt sie für eine Nebensache – Herbert Bruce war wichtig, seine Sentimentalitäten waren wichtig und wichtig war es, heil nach Hause zu kommen. Und nun stand er vor der Tür und empfand einen gewissen Zweifel, ob das Durchschreiten dieses Eingangs seiner unversehrten Heimkunft nützlich sein könnte.

An der Hauswand standen einige arabische Worte. Sie waren mit Ölfarbe gemalt und Tony erkannte sofort, dass hier ein Meister der Kalligrafie am Werk gewesen war. Das war bestimmt nicht die Reklameschrift eines Händlers. Damit war die Sache entschieden.

Tony holte tief Luft und drückte gegen die Tür. An der Straßenecke erklang in diesem Moment ein blechern scheppernder Schrei durch einen schlecht eingestellten Handlautsprecher.

Die Haustür schwang ohne Widerstand auf. Dahinter lag ein enges, düsteres Treppenhaus. Stufen führten nach oben, aber Tony ging auf einen Lichtschimmer zu, der durch ein kleines Fenster in einer rückwärtigen Tür drang.

Es roch nach der Reinlichkeit von Behördenfluren, die von Scheuerpulver bewaffneten Putzfrauen aufrechterhalten wird. Dazwischen mengte sich der Duft von Weihrauch.

Monotoner Singsang war hörbar. Durch das Fenster konnte er nur einen engen Hof erkennen. Einige große Tontöpfe mit kleinen Bäumen bildeten einen Kreis auf dem groben, sauber gefegten Pflaster.

Tony drückte die Klinke herunter und betrat vorsichtig den Hof. Kahle Mauern aus hellbraunen Ziegeln stiegen wie Felswände um eine Schlucht. Um den Himmel zu sehen, musste er den Kopf in den Nacken legen. Erst ab der zweiten Etage durchbrachen schmale Fenster die kahlen Flächen. Unter diesen Fenstern hingen Wäschestücke und schlappten in heißen Windstößen wie erstickende Fische auf einer Sandbank. Außer der Tür, die er eben durchschritten hatte, gab es nur noch einen weiteren Ausgang. Zu seiner Rechten öffnete sich ein Flügel einer schön verzierten hölzernen Doppeltür. Die anders gefärbten, helleren Ziegel um den Rahmen zeigten, dass diese Tür ursprünglich in einem anderen Gebäude eingebaut gewesen sein musste.

Tony trat näher und betrachtete staunend die vielfältigen Schnitzereien, die das dunkle, wie poliert glänzende Holz bedeckten. Quadratische Kassetten waren zwischen breiten Stegen eingelassen. Ein Geflecht von Pflanzenornamenten überwucherte die Stege, Weinreben schienen in satter Schwere von den Ranken zu hängen, exotische Blüten sprossen, an einer Stelle hatte sich der Schnitzer den Spaß erlaubt und eine Biene erschaffen, die gerade Honig aus einer Blüte zu saugen schien. Zwischen den Ranken, als wären auch sie in Teil dieser natürlichen Pracht, waren arabische Worte zu erkennen. Tony hielt sie für Koransprüche, aber es mochten auch Dichterzitate sein oder vielleicht nur deprimierend banale Sprichworte. Hier hatte ein Meister seines Fachs alle Kunstfertigkeit gezeigt. Trotzdem waren die Kassetten interessanter, denn sie zeigten, trotz des Verbotes solcher Darstellungen durch den Koran, menschliche Gestalten.

 

Auch jemand mit weniger Kunstverständnis als Tony Tanner hätte bald erkannt, dass die Darstellungen in den Kassetten aus weitaus älterer Zeit stammten und erst nachträglich in den Rahmen eingesetzt worden sein konnten. Die Gesichter mit den eindrucksvollen, übergroßen Augen, auch die Kleidung der Figuren und ihre Waffen erinnerten an Darstellungen aus spätrömischer oder byzantinischer Zeit. Es gab eine Szene, in der einige Männer einen Pfahl in die Erde rammten. Andere Männer saßen zu Füßen eines Vortragenden, eine weitere Kassette zeigte einen Streit, bei der sich zwei Gruppen von Männern gegenseitig mit Vorwürfen zu überschütten schienen. Eine andere Darstellung schien mythologischer Natur, denn sie zeigte einen Bauern, der vom Feld floh, weil ein Drache aus der eben aufgeworfenen Ackerfurche aufstieg. In einer Kassette waren einige Männer dargestellt, die mit den Gesten offensichtlicher Verzweiflung und Ratlosigkeit zusammenstanden. Im Hintergrund waren schwach die Köpfe einiger Kamele erkennbar, also handelte es sich vielleicht um Wüstenreisende.

Etwas in dieser Darstellung brachte in Tony Tanner eine Erinnerung zum Klingen. Eine Weile dachte er angestrengt nach, biss sich auf die Lippen und lauschte auf diesen kaum hörbaren Ton in seinem Inneren und versuchte, Worte dafür zu finden. Vergeblich. Zurück blieb das zornige Gefühl des Versagens. Es gelang ihm auch nicht, in diesen Darstellungen einen gemeinsamen Faden zu finden. Es waren allem Anschein nach Szenen aus dem täglichen Leben, gemischt mit mythologischen Darstellungen und religiösen Inhalten. Vielleicht hatte es ja nie einen Zusammenhang gegeben und man hatte die Überreste verschiedener Schmuckwerke in dieser Türe zusammengefasst, einfach weil die Schnitzereien wertvoll durch Alter und Ausführung waren. Vielleicht hatten diese kleinen Kunstwerke ursprünglich eine Truhe geschmückt, waren Teil einer Wandverkleidung oder eines Altares.

Eine Scheibe klirrte, als ein Fenster mit Schwung aufgerissen wurde. Dann begann eine Frauenstimme zu keifen. Tony Tanner verstand nichts von dem, was dort in schrillen Tönen herausgesprudelt wurde, aber ihm war dennoch klar, dass er das Opfer dieser sicherlich wenig freundlichen Bemerkungen war. Ohne weiteres Zögern schob er sich durch die Tür und befand sich in einem großen Saal.

Zwei Säulenreihen unterteilten den Raum. Auf dem Boden lagen Schilfmatten. Die Kopfseite des Raumes verlor sich im Dämmer. Es gab keine Beleuchtung und nur der schwache Lichtschein, der durch die geöffnete Türhälfte fiel, ließ die schmucklosen Säulen hervortreten.

Tony schritt durch den Raum, dorthin, wo eine weitere Tür sein musste, durch die jetzt deutlich wahrnehmbarer monotoner Gesang erklang. Er war von seiner eigenen Aktion alles andere als überzeugt, aber wieder einmal hatte er sich auf ein Spiel eingelassen, und vorwärts zu gehen schien eine der Regeln dieses Spieles zu sein.

Er konnte spüren, dass er alleine in den großen Raum war. Dennoch hielt er sich an die Säulenreihe und glitt möglichst leise von einer zur nächsten hinüber. Es war jetzt so dunkel, dass er sich mehr tastend vorwärtsbewegen musste. Dann entdeckte er einen Schimmer – eine Tür an der rechten Seite der Stirnwand. Mit einigen weiten Sätzen hatte er sie erreicht und kniete sich auf den Boden, um unauffällig durch die Türöffnung zu schauen.

Ein weiterer Saal öffnete sich, diesmal durch Bogenfenster in helles Licht getaucht. An den Wänden hockten einige Männer und waren mit geschlossenen Augen in einen monotonen Gesang vertieft; in der Mitte des Raumes drehten sich andere Männer in einem langsamen Tanz um die eigene Achse. Derwische, fuhr es Tony durch den Kopf.

 

Die Männer waren völlig in ihre religiöse Übung versunken, sie hatten allen Kontakt zu ihrer Umwelt verloren und befanden sich in einem Reich, in dem sie vielleicht das Licht Allahs erahnen, aber jedenfalls keinen Beobachter an der Tür bemerken konnten. Es hatte etwas von Voyeurismus, von obszöner Neugier, diese Gesichter in ihrer frommen Abwesenheit zu betrachten.

Dennoch verharrte Tony Tanner noch einen Moment und ließ seine Blicke über die Männer gleiten. Es waren Jünglinge ebenso wie Greise unter ihnen, alle hatten die dunkle Haut und die Gesichtszüge des Nordafrikaners. Alle bis auf einen, der unter den anderen an der Wand hockte.

Es war ein älterer Mann mit tief gefurchtem Gesicht und hagerer Figur. Er wirkte auf den ersten Blick wie ein Europäer, aber Tony war klar, dass die Mittelmeerküste mit ihrem Völkergemisch zur Genüge solche Typen hervorbrachte, die wie englische Landadelige wirkten und waschechte Levantiner waren. Lautlos zog er sich wieder zurück.

»Du könntest in diese religiöse Veranstaltung platzen und die Leute fragen, warum man ihre Adresse in einem Grabmal in der Wüste findet, aber dann wärst du in einem Film der Marx-Brothers, also mach dich hinweg«, sagte sich Tony Tanner und führte den Entschluss sofort aus.

Obwohl keine Gefahr drohte und der Gesang in unveränderter Monotonie weiterklang, schlich er sich in gleicher Weise wie bei seinem Eintritt an den Säulen entlang.

Der Ausgang lag schon vor ihm, als er hinter sich das Rauschen von Stoff vernahm. Er ahnte es mehr, als dass er es bewusst wahrnahm. Instinktiv, mit einem Schrecken, der ihm den Rücken lang rieselte, schaute er sich um und sah eine Gestalt auf sich zueilen. Und ebenso instinktiv wandte er sich zur Flucht.

Er stand unter der Türschwelle, als der Verfolger ihn einholte und nach seiner Jacke griff.

Bevor Tony seinen Schwung abbremste und stehen blieb, hatte er das Kleidungsstück schon halb verloren und steckte nur noch mit einem Arm darin. Der andere Mann ließ sofort los, als hätte ihn das Resultat seines hastigen Zugreifens selbst überrascht. Es war derjenige, den Tony für einen Europäer gehalten hatte. Er machte keinen wütenden Eindruck, wirkte nicht einmal wie einer, der wirklich weiß, was er tut. Er stand nur mit hängenden Armen da und schob sein Gesicht näher an das von Tony Tanner heran, als glaubte er in ihm einen alten Bekannten zu erkennen und wolle sich nun vergewissern.

Tony stammelte einige flaue Entschuldigungen für sein Eindringen und versuchte zugleich zu erkennen, ob noch weitere Männer hinter ihm her waren. Aber der Saal lag bewegungslos im Halbdunkel, und der Gesang klang leise und ohne die kleinste Veränderung weiter.

Der Mann reagierte nicht auf Tony Worte. Nicht, dass er sie nicht zu verstehen schien. Nein, er wirkte so, als hätte er überhaupt nicht bemerkt, dass der Fremde ihn mit Worten zu erreichen versuchte, als hätte er noch nicht einmal die Mundbewegung registriert. Stattdessen begutachtete er mit schräg gelegtem Kopf Tonys Gesichtszüge, als würde ein Kunstkenner den Porträtkopf eines Römers in einem Museum beschauen.

»Ein Idiot«, fuhr es Tony durch den Kopf. Ein armer Trottel, der von den Frommen durchgefüttert wurde. Ein dicker Kloß verstopfte Tonys Kehle. Er fühlte sich hilflos wie ein Kaninchen unter den Blicken einer Schlange. Nur noch einen Moment, dann wollte er die Starre abschütteln und erhobenen Hauptes weg und auf die Straße stolzieren. Das war kein Problem, er war dessen sicher, aber die Sekunden verstrichen und er schob den entscheidenden Moment vor sich her, immer wieder, wie eine Bugwelle, die das Schiff nicht überholen kann.

Die Lippen des Mannes zitterten, wollten Worte formen, die aber niemals zu Klang und Ton wurden. Er wollte etwas mitteilen, aber er bleib stumm und betastete mit seinen Blicken weiter Tonys Gesicht.

Dann, bevor der überhaupt reagieren konnte, zerrte er ihn mit plötzlichem Zupacken näher an die Tür, hielt mit der einen Hand Tonys Schulter und legte die andere auf eine Kassette, in der zwei streitende Gruppen von einem zerbrochenen Gegenstand getrennt wurden. Es wirkte, als sollten seine Arme eine Leitung herstellen, damit ein Strom von der Darstellung bis zu Tony fließen konnte.

Die Augen des Mannes bekamen einen geradezu unterwürfig bettelnden Ausdruck.

 

Tony war einen Augenblick halb erstarrt und wäre zu Boden gestürzt, wenn ihn der Mann nicht mit erstaunlicher Kraft gehalten hätte. Dann sammelte er alle Kraft und riss sich los. Seine Jacke glitt zu Boden, einige Papiere fielen heraus und verteilten sich auf dem Pflaster. Hastig raffte Tony alles zusammen und rannte zur rettenden Flurtür. Der andere Mann hatte sich nicht gerührt.

Tony durchquerte den Flur. Von der Straße ertönten wütendes Gezeter und Geschrei. Die Geräuschkulisse war alles andere als einladend, aber er konnte weder zurück noch in diesem Flur länger warten. Er stieß die Tür auf und schaute auf eine Menschenmenge, die sich wie ein Mahlstrom aus Turbanen, bärtigen Köpfen und langen Gewändern zu einen wütenden Strudel formte. Am Rande der Menge standen einige jüngere Männer, von denen einer mit einem Megafon Parolen brüllte, die von der Menge zurückgeschrien wurde.

In der Mitte der Menge tauchte plötzlich ein Mann auf. Seine Nase blutete, ein Auge war halb zugeschwollen – dennoch erkannte Tony ihn auf den ersten Blick. Der Mann, der ihn in Bombay aus dem Auto gezerrt hatte. Dass dieser Mann kämpfen konnte, hatte Tony mit eigenen Augen gesehen, aber hier erdrückte ihn die schiere Masse. Dutzende von Armen rissen an ihm, zogen und zerrten ihn hin und her, und wenn er sich mit einem wütenden Schlag gegen ein Gesicht oder einem Stoß in eine Kehle einen Gegner vom Hals geschafft hatte, trat ein anderer an dessen Stelle, noch aufgepeitschter, noch wütender.

Bevor Tony irgendetwas unternehmen konnte, hatte man ihn entdeckt. Das Megafon schrillte eine Anweisung, einige Männer vom Rand der Menge stürzten sich schreiend auf Tony und griffen nach seiner Kleidung. Tony fiel nach hinten gegen die Tür und rutschte zu Boden. Mit einigen Tritten gegen die Schienbeine seiner Gegner verschaffte er sich etwas Platz, aber bevor er auch nur daran denken konnte, wieder hochzukommen, packten ihn erneut harte Fäuste. Er fuchtelte mit dem rechten Arm wie ein ungezogenes Kind, während die Linke schon nicht mehr zu ihm zu gehören schien und eisern festgehalten wurde. Es gab keine Rettung.

Sein Hirn sandte schrille Paniksignale, die letzten Meldungen vor dem Verstummen, vor dem Untergang in einer irrsinnig gewordenen Menschenmenge. Er lag mit dem Rücken auf der staubigen Straße, von Händen und Füssen förmlich an das Pflaster genagelt und starrte hilflos auf ein Dickicht langer, schmutziger Gewänder, auf Schuhe und Sandalen zwischen denen behaarte Waden blitzten. Sein rechter Arm flatterte noch wie der Flügel eines schon halb toten Vogels.

Tony griff mit der rechten Hand nach seinem linken Arm und klammerte sich an sein eigenes Handgelenk, während seine Gegner versuchten, den rechten Arm loszureißen.

Einige Sekunden lang erinnerte die Szene an eine Kraftprobe balgender Schüler.

Tony merkte, wie sein rechter Arm von fünf, sechs Händen umklammert wurden. Sie rissen an ihm, er krallte sich an sein linkes Handgelenk und spürte, wie sich sein eigener Griff lockerte. Mit gefletschten Zähnen und einer verkrampften zitternden Anstrengung versuchte Tony Tanner, sich gegen die geballte Kraft seiner Gegner zu stemmen. Das Blut rauschte in seinen Ohren und übertönte das Geschrei, rote Flecken tanzten vor seinen Augen. Er versagte, der eigene Griff lockerte sich. Ein Krampf lähmte seine Hand, mit Daumen und Zeigefinger zog er einen weißen, schmerzenden Streifen über die eigene Haut, während seine Gegner ächzten und sich gegenseitig anfeuerten.

 

Aus – sein rechter Arm gehörte nicht mehr zu ihm.

Aber Tony hatte mit zwei Fingern noch etwas erwischt, und bevor sich in seinen panischen Gedanken das Wort Peitsche bilden konnte, wusste er, was es war.

Er gab jeden Widerstand auf und drückte jetzt sogar noch in die Richtung, in die sein Arm gezogen wurden. Die Gegner kamen aus dem Gleichgewicht und lockerten kurz den Griff und Tony konnte seine Rechte weit genug ausschwingen, damit sich die Peitsche von seinem linken Handgelenk löste und entrollte. Tony warf sich auf die Seite und schaffte es, eine kurze Ausholbewegung zu machen. Im Grunde war es lächerlich, aber es reichte, um die Peitsche gegen einige der Beine zu schlagen. Der Effekt war völlig unerwartet und überraschte Tony fast ebenso sehr wie die getroffenen Männer, die sich plötzlich vor Schmerzen brüllend auf dem Boden wälzten. Die Peitsche hatte sich mit einem scharfen Knall entrollt. Es war nicht einmal ein lauter Knall, aber es war ein Ton, der die Situation entscheidend veränderte, so als hätte in der Ferne ein Raubtier seinen Jagdruf ausgestoßen.

Der Mann mit dem Megafon, dessen kehliges Schreien bisher wie eine endlose Eisenkette durch den Verstärker gerollt war, brach ab. Verwirrung machte sich breit.

Zeit genug für Tony, sich gegen die Tür zu stemmen und wieder auf die Beine zu kommen. Die Peitsche in seiner rechten Hand schien zu vibrieren, als habe er den Schwanz einer Schlange angefasst. Dann rollte Geschrei, angeführt von dem Megafon wie eine rote Welle durch die Straße, und die Männer stürzten sich mit vermehrter Wut auf Tony und den anderen Mann.

Dieser hatte auf dem Boden gelegen, erdrückt von seinen Gegnern. Er war am Ende seiner Kräfte und nutzt trotzdem die wenigen Sekunden der Unterbrechung, um sich hochzudrücken und schwankend auf die Beine zu kommen. Ein Tritt in die Nieren ließ ihn gleich darauf wieder stöhnend zusammensinken. Tony konnte nicht weit ausholen, aber es reichte.

Er hatte auch nicht gezielt und trotzdem fuhr das harte Leder den Angreifern über die Stirn und hinterließ bei jedem eine aufplatzende Wunde, aus der Blut in ihre Augen floss, sodass sie sich die Hände vor das Gesicht hielten und schreiend taumelten, von einer Sekunde zur anderen von fanatischen Kämpfern zu hilflosen Verwundeten degradiert.

Der nächste Peitschenschlag fegte durch die Menge, dieses Mal hatte Tony kraftvoll und zornig ausgeholt, und die Wirkung erinnerte an die Explosion einer Granate in einem Hühnerstall. Männer purzelten nach allen Seiten, blutige Striemen zeichneten den Weg, den Tony Tanners Waffe genommen hatte. Tony hielt sich nicht auf. Er sprang zwischen die taumelnden Männer, stieg über die am Boden Liegenden und riss den Europäer hoch.

Der andere konnte kaum gehen, Tony schob den freien Arm unter seine Achsel und zog ihn mit. Es gab keinen Versuch mehr, ihn aufzuhalten. Er stolperte an dem Mann und mit dem Megafon vorbei, der das Gerät vor die Brust hielt und mit flackernden Blicken auf Tony starrte.

Tony Tanner unterbrach seine Flucht kurzzeitig, um dem Anführer vor das Schienbein zu treten. Es entsprach vielleicht nicht ganz den Regeln der Fairness, aber er fühlte sich hinterher besser. Keiner verfolgte sie.

Die beiden Männer keuchten durch eine Seitenstraße, bogen um einige Ecken, bis sie sich endlich in der Masse der Menschen in den Altstadtstraßen sicher fühlen konnten. Tony winkte einen Limonadenverkäufer heran und flößte seinem Begleiter das klebrig süße Getränk ein. Dann wickelte er sich die Peitsche wieder um den linken Unterarm.

Dorkas hatte recht gehabt. Es handelte sich um ein ungemein nutzbringendes Accessoire. Allerdings spürte Tony im rechten Arm ein Schwächegefühl, als hätte die Peitsche ihm sämtliche Kraft aus den Muskeln gesogen.

 

»Danke«, sagte der Mann. Seine Gesicht sah nicht gut aus. Das eine Auge war geschwollen und lag wie ein rötlicher hühnereigroßer Klumpen unter den Brauen, die Lider des anderen waren ebenfalls so dick, dass das Auge wie durch eine Panzerscharte schaute. Aber der Blick aus diesem Auge war wieder hart und klar.

»Sie müssen zu einem Arzt«, sagte Tony.

»Besorgen Sie mir ein Taxi!«, murmelte der Mann durch seine geschwollenen Lippen hindurch. Er stützte sich schwer auf Tony und so humpelten sie zur nächsten größeren Straße, wo die Chance bestand, ein Taxi zu finden.

»Fundamentalisten«, sagte der Mann plötzlich. »Was war in dem Haus?«

»Eine Derwisch-Schule. Vermutlich sind die Derwische den strengen Fundamentalisten zu mystisch und zu eigensinnig«, antwortete Tony. Das gab dem Aufruhr vor dem Haus zumindest eine Erklärung. Sie stellten sich an den Rand der Straße. Der Verkehr flutete an ihnen vorbei. Die Hitze hatte noch zugenommen, ein heißer Wind fuhr über die endlose Blechlawine und wirbelte Staub auf. Kaum Taxis waren zu sehen, und wenn eines auftauchte, dann war es besetzt.

Nach einigen Minuten warten, begann der Mann neben Tony zu stöhnen. Er schwankte und Tony fürchtete, er könnte zusammenbrechen. Aber der Mann schob langsam und unter offensichtlichen Schmerzen eine Hand in die Tasche und angelte einen Geldschein heraus. Damit winkte er dem nächsten Taxi zu.

Der Fahrer bekam einen langen Hals, als er den Geldschein sah, fuhr zum Straßenrand, wobei er ein halbes Dutzend Beinahe-Unfälle verursachte und hielt neben den beiden Männern.

Der Mann neben Tony deutet auf den Geldschein und dann auf den Fahrer und sagte nur Hospital.

Der Fahrer nickte und begann über das ganze Gesicht zu strahlen, was ihn aber nicht hinderte, seine bisherigen Passagiere ebenso abrupt wie lautstark aus seinem Wagen zu weisen.

Tony half beim Einsteigen. Dann schnappte sich der Taxifahrer den Schein und jagte sein Gefährt mit quietschenden Reifen in den Verkehr. Tony blieb am Bordstein zurück und bedachte neidvoll, welche Wirkung doch ein simpler Geldschein haben konnte. Andererseits – eine Tausend-Dollar-Note hatte ja selbst heute noch einen gewissen Wert.

***

Auf dem Rückweg zu seinem Hotel hatte Tony Tanner genügend Muße, über einige Fragen nachzudenken. Er kam zu keinem wesentlichen Ergebnis, wenn man von der eher allgemeinen Erkenntnis, dass diese Welt sowohl seltsam als auch gefahrvoll ist, absieht. Als er das Hotel betrat und den dämmrigen angenehm kühlen Durchgang zum Garten hinabging, musste er seine Welterfahrung noch um die Erkenntnis bereichern, dass diese Welt voller Überraschungen ist. In einem der verschlissenen und vielleicht gerade deswegen sehr bequemen Sessel lümmelte sich MacMorley.

Tony hatte ihn nicht bemerkt und zuckte zusammen, als wäre eine Muräne aus ihrem Loch hervorgeschossen, als er MacMorleys Organ hörte.

»Sie sehen leicht angeschlagen aus, Tanner. Sind Sie vielleicht beim Schlussverkauf zwischen Kairoer Hausfrauen geraten?«

»Sehen Sie, Herr MacMorley, es sind genau solche Bemerkungen, die Ihnen die Sympathie Ihrer Umwelt zufliegen lassen. Natürlich nur, wenn Sie sie verschlucken. Darf ich Sie zu einem Bier einladen?«

»Bei Bier beginnt die Zählung mit fünf Gläsern, das sollte selbst ein säuferisch minderbegabter Engländer wissen«, knurrte MacMorley und trottete hinter Tony her in den kleinen Garten.

Tony wartete, bis der Schotte einige Gläser Bier vertilgt hatte, wobei er bei jedem Glas bissige Bemerkungen über den Geschmack des Gerstensaftes machte und dann von alleine loslegte.

»Herbert Bruce«, sagte MacMorley plötzlich. »Unser Assistent ist noch in Kairo. Aber wenn Sie den Typen abfangen wollen, müssen Sie bald die Hufe schwingen. Denn er wird bald verschwinden.«

»Hat er diesen ominösen Koffer dabei?«

»Ständig. Er lässt das Ding nie aus den Augen. War reiner Zufall, dass ich ihn gefunden habe. Ich begegnete nämlich zufällig einem aus der Hornsby-Gemeinde und bin hinter dem her. Und der hat sich vor dem Ägyptischen Museum mit Bruce getroffen. War eigentlich ein genialer Treffpunkt – überall Busse, Touristenrotten und diese peinlichen Reiseleiter, die Fähnchen schwenken und ihre Herden hinter sich herziehen. Bruce hat noch irgendeinen Typen getroffen. Den habe ich noch nie gesehen, aber er hatte eine heiße Braut an der Hand. Na ja, er will heute abschwirren. Das war‘s, was ich Ihnen sagen wollte.«

MacMorley setzte sich in Positur und schaute Tony Beifall heischend an.

»Tja«, sagte Tony Tanner, »das ist noch ein pisswarmes, labbriges, stinkiges, wie Kälberpipi schmeckendes Bier wert. Habe ich ein Adjektiv vergessen? Übrigens, bei welcher Gelegenheit lernt ein Schotte den Geschmack von Kälberpipi so genau kennen – doch sicherlich bei den Highland-Games als Ausdruck traditioneller Eichung der Geschmackspapillen?«

»Es gibt letzte Dinge, die einem Menschen verschlossen bleiben, der die Schande der englischen Geburt mit sich trägt«, erklärte MacMorley, nicht völlig ohne eine gewisse würdevolle Freundlichkeit. Er erklärte noch, dass er sich mit dem Zug nach Alexandria begeben wollte, weil Hornsby ebenfalls aufgetaucht sei. Dann verabschiedete er sich leicht schwankend.

 

Die Trennung fiel Tony leicht, zumal er MacMorley nur mit Mühe davon abbringen konnte, seine bierpralle Blase vor der Theke der Rezeption zu entleeren. Wenn er eine Chance haben wollte, Bruce noch abzufangen, dann musste er schnell handeln. Und er handelte schnell, wie er sich selbst zugestand, als er mit dem Taxi die breite Straße zum Flughafen herunterrollte.

Der Fahrer wirkte nervös. Er murmelte vor sich hin und zeigte schließlich auf die Wüste, die hier bis an den Straßenrand reichte.

Tony beugte sich aus dem Fenster. Ihm stockte der Atem. Der Himmel war verschwunden, und eine riesige bräunliche Wand wälzte sich auf die Stadt zu. Der Sturm warf seine ersten prasselnden Schauer von Sandkörnern auf das Wagendach, als das Taxi vor dem Flughafen hielt.

Jetzt kam kein Flugzeug mehr vom Boden weg.

Im Flughafengebäude wimmelte es von Menschen, die neben ihrem Gepäck standen und warteten. Die übliche Aufbruchsstimmung eines Flughafens war von allgemeiner Ratlosigkeit abgelöst worden. Tony Tanner konnte diese Stimmungslage problemlos nachvollziehen, denn er stellte sich die Frage, wie er in diesem Chaos einen Mann finden sollte, dessen Gesicht er noch nicht einmal kannte. Vielleicht gehörte Herbert Bruce samt seinem Koffer schon zu den Gestalten, die sich draußen um die Taxis drängten, weil sie zurück in die Stadt wollten. Das waren die Realisten, die nicht daran glaubten, dass an diesem Tag noch ein Flugzeug starten würde. Die Optimisten blieben und waren der festen Überzeugung, dass es sich um ein kurzzeitiges Wetterphänomen handelte. Allerdings bildeten diese sonnigen Gemüter eine Minderheit, während die Mehrheit im Flughafen blieb, weil ihr nichts anderes einfiel.

Tony Tanner steuerte den Schalter einer britischen Fluglinie an. Er hatte sich entschlossen, dass ihm nur die allerblödeste aller Möglichkeiten zur Verfügung stand und hoffte, dass Herbert Bruce oder wer auch immer, ihm eine derartige Dämlichkeit nicht zutraute.

Er verhandelte eine Weile mit der Angestellten und musste feststellen, dass sein bewährter Charme bei dieser Dame genau wirkungslos war wie ein Schnupfenspray bei fortgeschrittener Beulenpest. Es blieb ihm nur seine letzte Geheimwaffe, und so zückte er einen Ausweis, der ihn als Vertreter einer britischen Behörde auswies. Heimlich hatte er gehofft, auch hiermit keinen Erfolg zu erzielen – es hätte ihn ein wenig über seinen totalen Misserfolg als Amateurcharmebolzen hinweggetröstet.

Aber die Dame hinter dem Schalter verschluckte fast das Kaugummi, das sie während der gesamten Unterredung mit Tony in verschiedenen Beiß-, Mahl- und Kautechniken bearbeitet hatte, und nahm Haltung an. Dann griff sie zum Telefon, führte ihrerseits ein kurzes Gespräch und nickte Tony zu.

Der bedankte sich freundlich und bezog Position an einer Säule neben dem Schalter.

Es dauerte nicht lange, dann dröhnte durch den gesamten Flughafen die Lautsprecherdurchsage, die Herrn Herbert Bruce dringend zum Schalter der Fluggesellschaft bat.

Tony konnte sich entspannen. Irgendwie war er der festen Überzeugung, dass Bruce, der sicherlich kein Lämmlein an Unschuld war, auf diesen Trick nicht hereinfallen konnte. Es war auf eine laue Weise sogar ein gutes Gefühl. Man hatte alles getan, was man tun konnte und es hatte nicht geklappt. Dumm gelaufen – und dann schnellstmöglich ab nach London.

 

Tony schloss die Augen und träumte für einen Moment von Nieselregen und saftig grünem Rasen. Als er die Augen öffnete, erkannte er, dass er Pech gehabt hatte. Dieser Mann, der einen Metallkoffer in der Hand trug und sich dem Schalter näherte, musste Bruce sein. Nun ja, sagte sich Tony, es wäre wohl für Bruce besser, wenn er nicht dieser Typ wäre. Denn wer möchte schon ein spitznasiger, schmächtiger Mann sein, der die Jugend schon hinter sich gebracht hat, ohne alle Pickel zu verlieren, dafür aber unter der Notwendigkeit lebt, vorzeitig auf die Hauptmasse seines Haares verzichten zu müssen?

Der Mann war offensichtlich nervös. Er ließ seine kleinen, rot umränderten Äuglein über die Umgebung schweifen und drehte sich immer wieder um, als wäre jemand hinter ihm her.

Tony stieß sich von der Säule ab und ging direkt auf den Mann zu. »Herr Bruce, Herr Herbert Bruce? Ich muss Sie kurz sprechen.«

Bruce prallte zurück, als er Tonys Stimme hörte, drehte sich auf dem Absatz um und rannte fort. Er rammte seinen Koffer einem Wartenden in die Kniekehle, sodass dieser mit einem Aufschrei umkippte und im Fallen einige aufgestapelte Koffer zu Boden riss. Wütende Stimmen gelten hinter dem Fliehenden her.

Tony war von der Reaktion von Bruce etwas überrascht – das letzte Mal, als er einen derartigen Effekt erzielt hatte, war er in der ersten Klasse gewesen und hatte zu diesem rothaarigen Mädchen gesagt: »Du, ich möchte dich küssen!« Tony Tanner dachte nicht gerne daran.

Er setzte sich in Bewegung und sprang über die Koffer hinweg, die wie eine Barriere auf dem Boden lagen. Bruce war schon nicht mehr zu sehen, aber empörte Blicke und Rufe markierten seinen Weg. Warum hat dieser Idiot nicht einfach gesagt, ich heiße Miller und ist gegangen?, dachte Tony, während sein Puls sich langsam zu höheren Schlagzahlen hinbewegte.

 

Die stickige Luft in dem Flughafengebäude war leichtathletischen Übungen dieser Art wenig förderlich. Hier standen nicht mehr so viele Menschen herum. Vor sich konnte er jetzt Bruce erkennen, der mit dem Koffer schlenkernd wie um sein Leben rannte. Unästhetischer Laufstil, stellte Tony fest, aber sehr effektiv. Irgendwie schien dieser Bruce in der großen Tradition britischer 800-Meter-Läufer zu stehen. Tony japste und versuchte zu beschleunigen.

Bruce schlitterte über den Fußboden, prallte auf die gegenüberliegende Wand und verschwand hinter einer Ecke. Tony kam keuchend zu der Stelle und konnte Bruce nicht mehr sehen. An den Wänden waren einige Türen, die vermutlich zu den Betriebsräumen des Flughafens führten. Er stütze seine Hände auf die Knie und schnappte nach Luft, wie ein Läufer hinter der Ziellinie. Er hatte kein Klappen einer Tür gehört, aber inzwischen rasselte seine Lunge derart, dass er nicht einmal eine Explosion gehört hätte. Die Türen waren verschlossen, er rüttelte an jeder Klinke und hatte nirgendwo Erfolg.

Dann hörte er ein Heulen. Für einen Moment wusste er nicht, was dieses Geräusch bedeutete, dann erkannte er es. Jemand hatte eine Außentüre geöffnet.

Der Sand, der unter seinen Sohlen knirschte, ließ keinen Zweifel, dass er richtig gefolgert hatte. Er riss die Tür auf und schaute in ein Inferno aus heulendem Sturm und Sandwolken, die über den Beton der Rollfläche fegten. Hier kam keiner durch. Und wenn, dann wäre er nach ein oder zwei Schritten nicht mehr zu sehen. Tony machte einen Schritt zurück und biss sich auf die Lippe.

Sollte er etwa da hinaus – und hatte Bruce wirklich diesen Hexenkessel zur Flucht ausgewählt?

Die Frage beantworte sich in gewisser Hinsicht von selbst, denn das Dröhnen in seinem Schädel, hervorgerufen durch den Aufprall einer Metallkoffers auf den Hinterkopf, belehrte Tony Tanner in eindeutiger Weise über den derzeitigen Aufenthaltsort von Herbert Bruce.

Tony knickte nach vorne weg, aber es war eher eine instinktive Schutzreaktion, als von dem Schlag verursacht. Bruce mochte ein guter Läufer sein, in der Disziplin des Kofferkampfes war er ein Anfänger.

Tony Tanner warf sich nach vorne, stütze sich auf die Hände und landete mit dem rechten Bein einen Tritt, der mit dem Adjektiv »gemein« nur unzureichend beschrieben wäre, gegen ein Knie des Archäologen.

Bruce sprang mit einem Aufschrei zurück und hüpfte vor Schmerz auf der Stelle. Zeit genug für Tony, wieder auf die Beine zu kommen. Dann musste er den Kopf einziehen, denn Bruce schwang seinen Koffer wie ein Hammerwerfer und ließ ihn haarscharf über Tony hinwegsausen, sodass der den Luftzug im Nacken spürte, als stünde er unter einem Jahrmarktskarussell. Als der Koffer an ihm vorbei war, wollte Tony zum Angriff übergehen und merkte sofort, dass er damit einen kapitalen Fehlgriff getan hatte. Denn Bruce drehte sich tatsächlich wie ein Hammerwerfer um die eigene Achse und schmetterte den Koffer mit gewaltiger Wucht gegen Tonys Arm.

Der Aufprall schleuderte Tony nach unten und ließ ihn ein Stück über den Boden rutschen.

Diese Chance ließ sich Bruce nicht entgehen. Er wandte sich ab und rannte wieder los.

Der dumpfe Schmerz in seinem Arm überdeckte für einen Augenblick alles, aber dann rappelte sich Tony wieder hoch und nahm die Verfolgung auf. Er reagierte mehr oder weniger instinktiv, wie ein Reptil, das nach der Beute schnappt, denn durch seinen Körper pulsierte der Schmerz und wischte jeden klaren Gedanken weg.

Bruce war erschöpft. Er pendelte mit dem Kopf hin und her, während sie den leeren Gang entlanghasteten. Der Koffer schlenkerte in seiner Hand und knallte manchmal mit einem metallischen Scheppern an die Wand. Der Abstand zwischen den Männern blieb gleich.

Im Rennen nestelte sich Tony die Peitsche vom Handgelenk. Er konnte sich noch glücklich schätzen, dass sein linker Arm getroffen worden war. Mit rechts packte er den Griff der Peitsche und versuchte mit allerletzter Anstrengung etwas näher an den Fliehenden heranzukommen.

Dann schwang er die Peitsche und registrierte mit Verwunderung, dass der Lederriemen wie eine Schlange auf Bruce zuzischte und sich um seinen Unterschenkel wickelte.

Tony riss an der Peitsche, und einen Moment lag Bruce, vorwärtsgetrieben von seinem eigenen Schwung, wie eine schwebende Jungfrau in der Luft, bevor er krachend zu Boden stürzte. Es war ein glatter Knock-out.

Tony fackelte nicht lange. Mit einem harten Tritt beförderte er den Koffer aus der Umklammerung des Ohnmächtigen und einige Meter weiter den Gang hinunter. Dort nahm er ihn im Vorbeigehen auf und mischte sich eine Minute später unauffällig unter die wartenden Passagiere.

Die Peitsche wickelte er sich wieder um das Handgelenk. Er war durchaus zufrieden mit sich, allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Frau aufschrie und Tony in der Wand neben sich eine Beschädigung bemerkte, die eine Sekunde vorher noch nicht sichtbar gewesen war. Als der zweite Schuss an seinem Ohr vorbeiheulte und beim Aufprall aus der Wand Splitter herausschlug, hatte Tony die Situation zumindest in ihren groben Zügen erkannt.

Jemand trachtete ihm ganz ordinär nach dem Leben, und dieser Jemand war ganz bestimmt nicht Herbert Bruce!

 

Seine Neugier drängte ihn danach, nach dem Schützen zu schauen, sein Überlebenswille forderte ihn zur schnellstmöglichen Flucht auf. Tony Tanner gehorchte Letzterem, umfasste mit beiden Händen den Koffer und ergab sich jener Beschäftigung, in der in der letzten Zeit eine gewisse Routine erworben hatte – dem Fortlaufen.

Hinter sich hörte er dieselbe Geräuschkulisse, die er bei seiner Verfolgung von Bruce gehabt hatte – wütende Schreie, Rufe und die Trillerpfeifen der Polizei.

Wer immer auf die künstliche Verkürzung seiner Lebenszeit aus, er nahm keine Rücksicht auf irgendeine Form von öffentlicher Aufmerksamkeit. Die harte Tour, fuhr es Tony durch den Kopf. Aufgesetzter Kopfschuss und dann ab durch die Mitte, während die Panik ausbricht.

Mafiamethode. Er musste sich verstecken, er musste durch irgendeine Tür, hinter irgendeine Wand. Aber sie waren dicht hinter ihm und ihre Schüsse sirrten mit boshaftem Insektenklang an ihm vorbei, trafen Unschuldige, Menschen warfen sich auf den Boden oder hechteten über die Schalter in die engen Räume von Flughafenangestellten.

Tony zickzackte wie ein Hase zwischen den Menschen hindurch. Die Erschöpfung legte sich wie eine heiße Klammer um seine Schenkel. Er hatte nur noch einige Schritte, dann war es aus, dann konnte er nur noch stehen bleiben und auf den Knall warten, der sein Leben beenden würde. An der Seite war jetzt ein Bistro. Die Leute hatten sich unter die kleinen Tische geflüchtet. Eine Frau schrie wie eine Irrsinnige. Hinter der Theke waren die Angestellten in Deckung gegangen. Irgendwo heulte eine Sirene.

Tony hastete weiter – nur nicht stehen bleiben.

 

Plötzlich fasste eine Hand an deinen Arm und riss ihn aus seiner Bahn. Er konnte keinen Widerstand mehr leisten. Er wurde vorwärtsgestoßen, durch eine aufschwingende Tür, hart klapperten die Absätze von Frauenschuhen auf Fliesenboden – warum zum Teufel klappern hier hochhackige Pumps, soll ich jetzt von einer Tunte umgenietet werden oder was? Eine weitere Tür wurde aufgerissen, ein heftiger Stoß beförderte Tony in einen kleinen Raum. Er knallte gegen die Wand und hörte die Tür zuschlagen.

»Alles klar«, keuchte Tony Tanner. »Ich träume, dass ich auf einer Damentoilette im Kairoer Flughafen bin. Bei drei wache ich auf und …«

Den Satz konnte er nicht beenden, denn eine Hand legte sich auf seinen Mund. Es war eine weiche Hand, die außerordentlich gut duftete, und dahinter war ein roter Mund, der mit einem reizenden französischen Akzent sagte: »So halten Sie doch den Mund, Sie blödes britisches Rindvieh.«

In dem engen Abteil musste sie sich gegen ihn drängen. Er spürte ihren warmen weichen Körper und war sich bewusst, dass sein eigener Kreislauf in diesem Moment nicht allein mehr die Belastung durch das schnelle Rennen zu verkraften hatte, sondern sich einer vermehrten Ausschüttung gewisser Hormone erwehren musste.

Lucille Chaudieu schaute ihn mit ihren braunen Augen an, und er hatte das Gefühl, als würde sich unter ihm eine Klappe öffnen, durch die er gleich in einen unendlichen Abgrund stürzen müsse. Lucille musterte sein Gesicht und fragte dann: »Geht es Ihnen einigermaßen?«

Tony nickte und sie nahm lächelnd ihre Hand von seinem Mund.

Sie verharrten eine Weile, eng beieinander, und lauschten den Geräuschen aus der Abflughalle, die allmählich nachließen.

»Bleiben Sie hier, verschließen Sie die Tür hinter mir. Ich werde mir etwas einfallen lassen, um sie hier herauszuholen. Verstanden?«

Tony nickte brav seine Zustimmung.

Lucille öffnete die Tür, schaute sich um und verschwand. Vorher wandte sie sich noch einmal an Tony: »Und noch eines. Lassen Sie sich bloß nicht von fremden Frauen ansprechen!«

Tony verriegelte die Kabinentür und setzte sich auf mit hochgezogenen Beinen auf die Keramikschüssel. Die Situation war derart absurd, dass sie nicht mal in einem Monty Python-Film vorgekommen wäre. Er wartete und hatte in jeder Sekunde die panische Angst, jemand würde ihn entdecken.

Mehrere Leute kamen in den Waschraum, und Tony fürchtete, dass diese enge Damenkabine die letzte der Schönheiten dieser Welt sein könnte, was seine brechenden Augen wahrnehmen würden. Aber Stimmen und Geräusche verrieten ihm, dass es sich um einige Damen handeln musste, die versuchten, sich Blut oder verschütteten Kaffee aus der Kleidung zu waschen.

So wartete er und bat heimlich alle weiblichen Wesen in seiner näheren Umgebung um Verzeihung für seine Anwesenheit auf dieser Welt, denn war er nicht der Verursacher aller Panik und mitverantwortlich für Verletzungen, ja vielleicht sogar für den Tod von Unbeteiligten?

 

Endlich hörte er wieder das vertraute Klappern von hohen Absätzen. Einen Moment herrschte Stille, dann flog etwas auf seinen Kopf und es wurde dunkel um ihn. Als er sich mühsam unter dem Stoff hervorgearbeitet hatte, hörte er ein leises Anziehen. Nach einigen vergeblichen Versuchen, die Stoffmenge zu ordnen, dämmerte es Tony, was er da in der Hand hatte. Es war ein Frauengewand, die Freude jedes fundamentalistischen Ehemannes, die arabische Variante des Einmannzeltes. Zum Glück war es recht einfach, sich die Kleidung überzustreifen.

Sorgfältig kontrollierte Tony den Sitz der Kopfbedeckung und öffnete dann die Tür. Gebückt wie ein altes Mütterchen, den Koffer unter dem Gewand vor den Bauch gedrückt, schlich sich Tony aus der Damentoilette. Hinter der Eingangstür erwartete ihn Lucille Chaudieu.

»Gehen Sie hinter mir her«, zischelte sie.

Tony ging hinter ihr her und hielt den Blick auf ihre schwingenden Hüften, ohne sich dabei besonders zwingen zu müssen. Mein Gott, dachte er, sich vorzustellen, dass Frauen solche Beine haben und sie einfach zum Laufen benutzen. Unglaublich, das grenzt an Missachtung der Schöpfung.

Lucille benutzte ihre Beine, um zu einem Seitenausgang des Flughafens zu schreiten. Dort winkte sie einem wartenden Taxifahrer und schob ein altes Mütterchen in den Wagen. Als der Wagen losruckte, blickte Tony durch das Heckfenster, aber Lucille war schon verschwunden.

Der Taxifahrer fuhr los.

Vor dem Flughafen rotierten die blauen und roten Lichter der Einsatzfahrzeuge.

Nach einigen Minuten Fahrt nahm Tony seine Haube ab.

Der Taxifahrer schien einiges gewohnt zu sein, jedenfalls nahm er die Geschlechtsumwandlung des alten Mütterchens mit äußerlicher Gelassenheit zur Kenntnis. Er konnte Tony nur sagen, dass die junge Frau ihn abgefangen hatte, als er gerade vor dem Flughafengebäude hielt. Sein Fahrgast werde ihn fürstlich bezahlen, und er habe es doch mit einem Ehrenmann zu tun?

Tony war sicher, dass Lucille bereits eine tüchtige Summe an den Mann gezahlt hatte, und dass das gewünschte Zweithonorar mehr die Anerkennung dafür war, dass der Taxifahrer sich mit Lucilles Geld aus dem Staube gemacht hatte.

Tony ließ sich zu seinem Hotel bringen, holte sein Gepäck und beglich die Rechnung, dann gab er dem Fahrer die Anweisung, ihn nach Alexandria zu bringen.

Die Fahrt war wegen des Sandsturms zuerst mühselig, aber dann klarte das Wetter auf, und sie fuhren im Morgengrauen in die Vororte von Alexandria ein.

Tony hatte im Wagen geschlafen. Er erwachte, als der Fahrer vor dem Flughafen anhielt. Der Rest war die Routine des Reisens, in der Tony Tanner kein Anfänger war. Er erwischte einen Flug nach Rom und nahm von dort die Linienmaschine nach London.

Während er unter sich die Alpen sah und das Gewicht des Koffers auf seinen Knien spürte, durchfuhr ihn wie ein Blitz ein Gedanke. Was, wenn in diesem Koffer eine Bombe wäre?

Der Koffer war abgeschlossen, bisher hatte er keine Gelegenheit gehabt, ihn zu öffnen. Und er hatte sich mit seinem Ausweis an jeder Sicherheitskontrolle vorbeigeschmuggelt, das Gepäck war also nicht durchleuchtet worden. Wie schmuggelt man eine Bombe an Bord eines Flugzeugs, raste in seinem Kopf, man lässt sie sich durch einen Idioten klauen und der nimmt sie mit an Bord.

Der Gedanke ließ sich nicht abschütteln, und erst als die Turbinen im Rückwärtsschub aufheulten und das Flugzeug auf der Landebahn in Heathrow an Geschwindigkeit verlor, hatte er einen Augenblick der Entspannung. Im Flughafengebäude steuerte er das nächste Telefon an und wählte die Nummer von Dorkas. Er musste lange warten, eine fürchterliche lange Zeit, in der er auf das Tuten im Hörer lauschte, ganz von fern das Klingeln des Apparates vernehmen konnte und sich unendlich verloren vorkam.

Endlich nahm Dorkas ab.

»Wo waren Sie, Dorkas, ich wollte schon auflegen?«

Dorkas Stimme hatte einen ungnädigen Klang. »Ich war da, wo man immer ist, wenn das Telefon klingelt. Hören Sie, Herr Tanner, kommen Sie nicht zu meiner Wohnung. Wir treffen uns schnellstmöglich an diesem Imbiss am Piccadilly-Circus.«

Ende des zweiten Bandes