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Diane Teil 1 – Kapitel 7

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Siebentes Kapitel

Unterredung einer Gastwirtin und eines Bankiers – Die schönsten Verse sind die, welche ungedruckt bleiben

Ungefähr sechs Wochen nach den obigen Vorfällen ließ sich bei dem Bankier, der eben sehr beschäftigt war, eine Dame anmelden, die ihn in besonders wichtigen Angelegenheiten zu sprechen wünschte. Er gebot, das Audienzgemach zu öffnen, und Frau Sempel trat ein. Der Pädagoge, der sie begleitet hatte, blieb ehrerbietig im Vorzimmer zurück.

»Mein Herr«, hub die Gastwirtin an, indem sie einen geheimnisvollen und schwungvollen Ton annahm, »ich komme, um Sie an die hohen und höchsten Pflichten der Menschlichkeit zu erinnern. Es ist ohne Zweifel ein feierlicher und großer Augenblick, mein Herr.«

»Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?«, fragte der Bankier kurz.

»Ich heiße Katharina Sempel, geborene Fröhlich, und bin Eigentümerin des Gasthofs Zum Schwan vor dem Halleschen Tor.«

»Nun, Frau Gastwirtin?«

»Um wieder auf die Menschheit und die Menschlichkeit zurückzukommen«, hub Frau Sempel wieder an, indem sie sich mit einem bunten, seidenen Tuch den Schweiß von der Stirn trocknete, »so will ich Ihnen eine schöne Handlung erzählen, eine schöne Handlung der Menschheit und der Menschlichkeit, die sich in unseren Tagen zugetragen hatte.«

»Das ist mir lieb«, rief der Bankier, »denn Geschichten aus der Vorzeit möchte mir die Zeit fehlen anzuhören …«

»Nein, sie ist in unseren Tagen vorgefallen. Ein junger Mann vom Militär, dessen Name ich nicht nennen darf, reiste von Küstrin nach Berlin …«

»Eine Fahrt, die sehr oft von jungen Militärs gemacht wird«, rief der Bankier ungeduldig. »Ich muss bitten, mir zu sagen, Madame, welchen Anteil ich an dieser Geschichte habe?«

»Den allergrößten, mein Herr. Dieser edle, junge Militär, dessen Namen ich gewiss nie nennen werde, nimmt unterwegs ein Bettelkind auf, und dieses Kind hat einen Bettelbrief bei sich, der gerichtet ist an …«

»An den Offizier wahrscheinlich …«

»Nein, an Sie, mein Herr, an Sie!«, rief Frau Sempel und machte eine großartige Kopfbewegung. Ihre Miene schien anzuzeigen, dass sie einen überführten Verbrecher vor sich habe.

»Wo ist der Brief?«, fragte der Bankier.

»Ich habe ihn nicht«,« entgegnete Frau Sempel, »und das Kind hat ihn auch nicht.«

»Wer hat ihn denn?«

»Niemand. Er wurde verloren.«

Der Bankier sprang unwillig auf. »Hören Sie, meine liebe Frau«, rief er, »Sie kommen her, um mir von einem verlorenen Bettelbrief zu erzählen. Glauben Sie denn, dass ich in der Welt Gottes gar nichts zu tun habe? Ich finde das unverschämt, ja, ja, so finde ich das!«

»Wahrhaftig!«, rief Frau Sempel beleidigt, »wenn ich nicht glaubte, ein gutes Werk zu tun, so würde ich nicht länger hier sitzen bleiben.«

»Sie wollen für das Kind Almosen suchen?«, fragte der Kaufmann.

»Nein, mein Herr, um keinen Preis wollte ich das«, erwiderte die Gastwirtin mit Stolz.

»Und was zum Henker wollen Sie denn?«, schrie der Bankier jetzt völlig wild.

»Nun nichts mehr, gar nichts«, rief Frau Sempel und erhob sich mit einer kalten, anstandsvollen Verbeugung vom Stuhl. »Da ich Sie so gefunden habe, mein Herr, so würde ich es nie verantworten können, das arme Geschöpf in Ihr Haus zu führen.«

»Was ich mir auch sehr verbitten würde«, sagte Herr Rusbruck verwundert.

»Ich empfehle mich!«, rief Frau Sempel.

»Adieu, meine liebe Frau. Ich hoffe, Sie haben mir nichts übel genommen …«

»Ich mache Ihnen keinen Vorwurf«, rief die Gastwirtin und schlug ihre Augen mit einer sehr ausdrucksvollen Gebärde gen Himmel. »Es gibt aber harte und eigensüchtige Menschen.«

»Jawohl, deren gibt es«, entgegnete der Bankier, der froh war, dass die Unterredung ihrem Ende nahte, und der bereits an ganz andere Dinge dachte. Als Frau Sempel die Tür hinter sich zugemacht hatte, murmelte er vor sich hin: »Das ist wieder eine von den verrückten Weibern, die mir in die Schreibstube laufen, um mir meine kostbare Zeit zu stehlen, indem sie mir versichern, dass sie nicht wissen, was sie wollen.«

»Das Kind bleibt bei mir, und sollte ich meinen letzten Groschen mit ihm teilen!«, rief Frau Sempel pathetisch, als sie erhitzt und rot vor Zorn an dem Arm des Pädagogen hing. »O, mein lieber Herr Weinhold, es gibt Türen und Tore in dieser schönen Stadt, an die selbst ein Apostel vergebens klopfen würde, wenn er nach Mitleid und Erbarmen sucht. Ich will kein Haus bezeichnen, aber ich könnte es.«

»Das Mädchen verdient, dass Sie sich ihrer annehmen, beste Frau«, rief der Kandidat. »Sie verspricht etwas für die Zukunft …«

»Und wenn sie auch nichts verspräche«, sagte die empörte Gastwirtin, »so würde ich sie doch nicht von mir stoßen. Ich Almosen sammeln! Herr Weinhold, sehe ich aus wie eine Person, die in die Häuser geht, um Almosen zu sammeln?«

»O, wer das gesagt hat, muss Sie gar nicht kennen.«

»Aber man soll mich nie wieder auf der Schwelle eines gewissen Hauses erblicken, so viel ist gewiss; und nun kein Wort weiter über diesen Gegenstand. Herr Weinhold, ich wünsche nicht, dass Sie diesen Gegenstand jemals wieder berühren.«

»Ich werde nicht von fern auf ihn deuten«, erwiderte der Kandidat, »aber sollten wir nicht besser tun, hier einzubiegen, wir haben es hier näher nach Hause?«

»Ich besinne mich eben«, fuhr die Witwe aus ihrer Zerstreutheit auf, indem sie sich, von ihren Gefühlen überwältigt, etwas zu stark auf den Arm des armen Kandidaten stützte, »dass ich einen besonderen Gang abzumachen habe, bei dem ich leider gezwungen bin, Ihre Gesellschaft abzulehnen. Der Himmel weiß, dieser Tag ist ein sehr unruhiger und aufregender für mich.«

»Soll ich Sie hier erwarten, liebe Frau?«

»Nein. Ich bleibe lange aus, und Sie werden am besten tun, gleich heimzukehren …«

Der Kandidat folgte dieser Weisung, und die Gastwirtin blieb an der Straßenecke stehen, bis sie sich überzeugt hatte, dass ihr Gefährte ihr nicht nachspionierte. Als sie sah, dass der Pädagoge ruhig seines Weges ging, lenkte sie, tief aufseufzend, in eine kleinere Straße ein und blieb vor einem Torweg stehen, dessen Klingel sie zog. Bevor geöffnet wurde, betrachtete sie sehr aufmerksam eine unter Glas aufgehängte Tafel, die ein rätselhaftes Ansehen hatte. Wer den Zweck dieser Ankündigung nicht kannte, fand nur eine Anhäufung unleserlich geschriebener Briefzettel, die mit blasser Tinte auf grobem Papier hingekritzelt, einen höchst unerfreulichen Anblick gewährten. Man musste jedoch, um das Rätsel zu lösen, die zweite Hälfte des Bogens betrachten, und da entdeckte man in sehr zierlicher Schrift, was in jenen verunglückten Briefchen die Schreiber hatten eigentlich sagen wollen. An der Spitze des Bogens stand Neues kalligraphisches Büro des Herrn Tamerlan Jacquemar, oder untrügliche Methode, innerhalb drei Stunden die unleserlichste Handschrift so weit zu verbessern, dass sie eine Musterschrift genannt werden kann. Der erste Schüler, den Herr Jacquemar gebildet hatte, schien auch der widerstrebendste und hartnäckigste gewesen zu sein. Die Handschrift vor den drei Stunden zeigte eine beispiellose kalligraphische Zerrüttung, eine wilde ausschweifende Anarchie aller Buchstaben, ein Kampf aller gegen alle. Frau Sempel staunte noch dieses Ungeheuer von einer Krähenfaust an, als das Tor sich öffnete und sie von einer zerlumpten Magd in das Büro geführt wurde.

Sie trat klopfenden Herzens ein und fand an einem langen Tisch, der mit Schreibmaterialien bedeckt war, sechs bis acht Schüler und Schülerinnen sitzen. Unter diesen befand sich kein Individuum, das nicht das ehrwürdige Alter von fünfzig Jahren zurückgelegt hatte. Man konnte diese alten Schüler nicht ohne Lächeln ansehen, wie sie sich mühten, die unglücklich verscherzten Kunstfertigkeiten der Jugend nachzuholen. Wie manche bittere Erfahrung mochten diese Grauköpfe, diese Matronen gemacht haben, ehe sie sich entschlossen hatten, von Neuem in die Schule zu gehen, um sich die ersten Anfangsgründe wieder einzuprägen, die sie als blondköpfige Knaben und schelmische Mädchen in den bösen Schulstunden erlernen mussten. Wie mancher unleserliche Brief mit guten Ermahnungen musste vom Neffen zurückgeschickt worden sein, um den alten Oheim zu bewegen, an eine Verbesserung seiner Handschrift zu gehen, wie mancher verfehlte Termin hatte den alternden Kommis einer Handlung erinnern müssen, dass seine Schriftzüge tausend abweichende Deutungen zuließen. Frau Sempel sah mit Staunen diese alte Gruppe und war sehr befriedigt, sich als die jüngste Schülerin an den Schultisch setzen zu können. Sie gab ihre Probeschrift, und Herr Tamerlan Jacquemar betrachtete dieselbe durch ein Vergrößerungsglas, was die Witwe nicht wenig in Verlegenheit setzte.

Endlich fällte der Kalligraph den Ausspruch, die sehr geehrte Handschrift dieser Dame leide an zu großer Verkünstelung. »Ich werde mir die Ehre geben«, setzte er hinzu, indem er ein graziöses Lächeln annahm, »Sie auf den Weg der Einfalt und Natur zurückzuführen, Madame, den Sie verlassen haben.«

Frau Sempel glaubte, Herr Jacquemar mache ihr den Vorwurf, vom Weg der Tugend abgewichen zu sein. Sie errötete und schlug die Augen nieder, höchst entrüstet über eine so unstatthafte Beschuldigung.

»Herr Oldby, machen Sie gefälligst Platz für diese neue Schülerin«, rief Herr Jacquemar einem alten Herrn zu, der sich zermarterte, ein großes S zustande zu bringen, das nicht wie ein A aussehen und auch nicht an ein D erinnern sollte, womit er sehr zufrieden war, als es höchstens nur noch mit einem R verwechselt werden konnte. Herr Oldby wandte sich zu der Witwe und flüsterte ihr zu: »Man hat Ihnen gesagt, der Unterricht dauere nur drei Stunden. Allein wie Sie mich hier sehen, sitze ich schon drei Wochen hier.«

Frau Sempel seufzte über diese Mitteilung, und Herr Jacquemar nahte sich ihr mit einer roten Seidenschnur und einem noch viel größeren Lächeln als früher.

»Ich muss mir Ihre Hände ausbitten, Madame.«

»Doch nicht, um sie zu binden?«, fragte die Witwe.

»Allerdings, Madame.«

»Sie wollen mir die Hände auf den Rücken binden, mein Herr! Allein diese Behandlung werde ich nicht dulden. Ich bin kein Kind mehr.«

Sämtliche Schüler und Schülerinnen brachen hierüber in ein lautes Gelächter aus, und der alte Herr, der mit dem S in Krieg lebte, flüsterte ihr zu: »Aber liebe Frau, mit auf den Rücken gebundenen Händen können Sie nicht schreiben. Er wird nur zwei oder drei Finger binden, und darin besteht die neue Methode.«

Frau Sempel hatte Lust, das Büro zu verlassen, allein ihre besseren Gefühle siegten, sie blieb, und ließ sich mit der roten Schnur so viel Finger der rechten und linken Hand umwickeln, wie Herr Tamerlan Jacquemar für nötig fand, um sie an den Weg der Einfalt und Natur zurückzuleiten.

Wir wollen das kalligraphische Büro verlassen, zufrieden das Geheimnis des besonderen Gangs der Frau Sempel ausgekundschaftet zu haben, indes der Kandidat darüber sehr in Unruhe und Zweifel ist, und seine Befürchtungen dem Bierbrauer mitteilt, als er an dessen Haus still hält, um ein erfrischendes Glas zu leeren. Die heimlichen Gänge der Witwe, denn alle Dienstage und Freitage verschwand sie – Herr Oldby hatte recht, dass es mit drei Stunden nicht abgemacht sei – gefielen dem Bierbrauer nicht. Er kam auf die Vermutung, Frau Sempel suche jemand, der auf dem engen Sofa besser zu ihr passe als er, welches ihm gar nicht behagte.

Von diesem Tag an, da die Gastwirtin ihren Besuch nutzlos bei Herrn Rusbruck abgestattet hatte, wurde Diane zum ersten Mal feierlich, denn Frau Sempel liebte bei jeder Gelegenheit ein wenig Zeremonie anzubringen, zum Dienst in Küche und Keller eingeweiht. Es wurde ihr die Küchenschürze vorgebunden und das einfache Häubchen aufgesetzt, welches Dienstmädchen niederer Klasse zu tragen pflegen. Bis jetzt war sie als ein Gast, wenn auch als ein wenig berücksichtigter, behandelt worden. Nun trat sie eine große Stufe tiefer und gehörte zu der Klasse bedauernswerter Menschen, die nur geschaffen zu sein scheinen, um den Launen und Bedürfnissen der vom Glück Begünstigten zu dienen. Wohl dem Kind, dass es noch zu jung war, um das Demütigende dieser Umwandlung zu fühlen. Sie begab sich unter die Befehle der Lene mit jener freundlichen Geschmeidigkeit, der man es ansah, dass ihr neuer Zustand ihr eher Freude als Leid verursachte. Das kleine Dienstmädchen, das sonntags angenommen wurde, kam nun nicht mehr ins Haus, denn Diane versah dessen Geschäfte. Sie brachte die Speisen herein, wenn Frau Sempel Herrn Pädus und den Kandidaten bei sich bewirtete, und manche gutmütige Neckerei erlaubten sich die Herren, welche die kleine Kellnerin, so wurde Diane genannt, ganz gut auszunehmen wusste, ja sogar oft mit gleicher Münze bezahlte, welches dann am kleinen Sonntagstisch ein lautes Gelächter und keine geringe Fröhlichkeit hervorrief.

Eine Stunde am Morgen jedes Tages brachte Diane in der kleinen Schulstube des Kandidaten zu. Sie hatte, um in das Häuschen des Pädagogen zu gelangen, ein großes Hoftor zu durchschreiten und an einigen Gartenhäusern entlang zu gehen. Diese Stunde war ihr die liebste am Tag. Früh, wenn noch wenig Leute in der Nachbarschaft wach waren, wanderte das kleine Mädchen singend zum Tor hinaus, und ihre Locken flatterten im frischen Morgenwind, während ihre helle Stimme sich mit dem Gesang der Vögel mischte, die ihr Morgenopfer dem beginnenden Tag brachten. Herr Weinhold saß dann schon an seinem Schreibtisch am offenen Fenster und begrüßte seine Schülerin von Weitem. Der arme Kandidat, der ein trauriges und gedrücktes Leben führte, weit entfernt von den Genüssen und Freuden seines noch jugendlichen Alters, sah das kleine Mädchen wie eine trostbringende Erscheinung an. Sie nahte sich ihm immer in den Momenten, die auch er für seine glücklichsten hielt, wo er in der Einsamkeit und noch nicht angefochten von den Demütigungen und Sorgen, die seiner im Lauf des Tages warteten, den Musen diente, denn Herr Weinhold war ein Dichter, zwar der Welt völlig unbekannt, dennoch hatte sich kein Verleger für seine Poesien finden wollen, aber dennoch ein Dichter. Die schönsten Verse, sagte Frau von Genlis, sind gewiss die, welche ungedruckt bleiben, und vielleicht gehörten Herrn Weinholds Verse gerade zu den bezeichneten.

Waren die einfachen Gegenstände des Schulunterrichts abgetan, und die schöne Stunde, die Lehrer und Schülerin gleich erwünscht kam, beendet, so erschien Diane in der Küche und handhabte Töpfe und Kasserollen oder sie reinigte den Vorsaal und putzte die Zimmer. Kam dann der Abend, so durfte sie nach wie vor in Frau Sempels Heiligtum dringen. Die gewesene Amme folgte ihrer Liebhaberei und erzählte dem Kind den Inhalt der Räuber- und Gespenstergeschichten, die sie eben gelesen hatte. Dianes Phantasie, jetzt nicht so tätig, da sie nicht mehr so müßig lebte, brachte alle diese wunderbaren Begebenheiten mit dem einzigen Gegenstand eines romantischen Interesses für sie, nämlich mit dem jungen Offizier zusammen, von dessen Leben und Eigenschaften Frau Sempel ihr immer mehr mitteilte und von dessen Kinderjahren und früher Jugend sie endlich auch den geringfügigsten Umstand wusste.

Er selbst, der Held dieser Geschichte, kam immer seltener und oft sah sein kleiner Zögling ihn in Monaten erst erscheinen. Wenn er aber dann kam, war die Freude größer, der Nachgenuss derselben dauerte lange und verschönte die mühsamen Tage des Mädchens.