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Diane Teil 1 – Kapitel 6

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Sechstes Kapitel

Der Verbrecher und sein Kind

Als die Flüchtlinge in die Nähe der Stadt gelangten, erforderte es die Vorsicht, einen festen Plan zu fassen, demzufolge fernere Maßregeln getroffen werden sollten. Der Alte war aus seinem bewusstlosen Zustand in so weit erwacht, dass er begreifen konnte, um was es sich handelte. Man kam überein, sich zu trennen, da man nicht ohne Gefahr vereinigt bleiben konnte. Judith sollte mit dem Brief zum Bankier gehen, und da sie in der Verfolgung, die gegen die Verbrecher verhängt worden, die am wenigsten Verdächtige war, konnte sie sich offen und ohne Furcht in der Stadt zeigen. Florentin und Simeon wollten unterdessen in einem bekannten Schlupfwinkel der Vorstadt einkehren und dort die Wirkung des Briefes abwarten. War sie eine günstige und zeigte sich sogar Sicherheit nicht allein für Judith, sondern auch für ihre Begleiter, so sollte das Mädchen selbst kommen, um sie hiervon zu benachrichtigen, im entgegengesetzten Fall war ihr Ausbleiben als das sicherste Zeichen, dass sie selbst sich in Gefahr befand, und somit für die beiden die schnellste Flucht das einzige Rettungsmittel sei.

Um das Erscheinen Judiths im Haus des Bankiers zu erklären, müssen wir einen näheren Blick auf ihre früheren Verhältnisse werfen. Schon sagten wir, dass sie einige Jahre mehr zählte als Diane, allein sie war klein für ihr Alter. Ihr dunkles Haar, der Blick ihrer Augen und die bräunliche Gesichtsfarbe gaben ihrem Wesen etwas Entschiedenes, Festes. Die Verstellungskunst, die dem Kind von Natur eigen war, und die infolge ihrer Erziehung und der verbrecherischen Heimlichkeit, zu der man sie anhielt, noch mehr gefestigt worden machte, dass sie den Charakter vollkommener Unschuld und Kindlichkeit annehmen konnte, so wenig er ihr auch eigen war. Für gewöhnlich hatten ihre Blicke etwas Lauerndes, und ihre Bewegungen waren rasch und unvermutet. Florentin hatte sich dieses Kindes frühzeitig bedient, und dessen Anlagen waren von ihm geweckt und ausgebildet worden. Aber es war nicht sein Wille gewesen, sein Kind für immer einer so elenden, lastervollen Existenz hinzugeben. Wie alle Verbrecher, die sich dem Frevel, wie sie meinen, nur auf einige Zeit hingeben, hoffte auch er, zu den verlassenen Bahnen der Rechtlichkeit zurückkehren zu können, und so glaubte er seines Kindes Geschicklichkeit für bessere Zwecke einst auszubilden, indem er sie fürs Erste in die Schule des Lasters tat. Aber er fand keine Zeit, diese Vorsätze auszuführen. Er war demoralisiert und sank immer tiefer. Der Tod seiner Frau war vollends sein Verderben. Sie hatte ihn beschützt und selbst in den grauenvollen Höhlen des Verbrechens in ihm die Hoffnung besserer Tage immer wach erhalten. Vergebens versuchte sie, ihn von diesem entsetzenvollen Schritt abzuhalten, als er, in der Stellung eines niederen Beamten, durch einen Kassenbetrug der Schande und Verfolgung preisgegeben, hierin seine Zuflucht suchte. Als er sich nicht abhalten ließ, folgte sie ihm und teilte sein Los, aber ihr Herz brach dabei. Als Florentin sein Weib bestattet hatte, nahm er seine Zuflucht zur Flasche.

Er arbeitete die Stunden, die ihm angesetzt waren, im Geschäft, den übrigen Teil des Tages brachte er in einem bejammernswerten Zustand hin. Seine Tochter pflegte ihn und wachte an seinem Lager. Das Kind lernte hier frühzeitig alles kennen, was das Leben an finsteren Schattenseiten des Lasters und der Torheit bietet. Das zügellose Leben der Bande, ihren fortgesetzten Krieg mit dem Gesetz, Gefahr und Tod stets drohend, jede Heimlichkeit und gelungene List als einen Triumph der Klugheit und des Mutes gepriesen, der Spott gegen die Toren, welche in Armut und Elend tugendhaft beharrten – alles dieses ging der Seele des eben erblühenden Mädchens in bunten, grellen Bildern vorüber. Sie kam in Lagen, wo ihre kecke, schnelle Tatkraft die ihren rettete. Dadurch stieg ihr Ansehen bei der Kumpane, und manches schwierige Unternehmen wurde ihr anvertraut. Man schickte sie auf die benachbarten Märkte, um das falsche Geld unter die Leute zu bringen, und immer hatte des Kindes Schlauheit und Gewandteit die rechte Spur zu verhüllen gewusst. Ihr Stolz wuchs, ihre Sicherheit nahm zu, ihre junge Seele freute sich schon des Spiels mit der Schande und der Gefahr. Einen nur gab es in der Bande, der ihr in dieser Eigenschaft nahe kam, das war Simeon. Unter beiden Kindern knüpfte sich frühzeitig eine Art kriegerisches Bündnis. Simeon erkannte nur Judith als sich ebenbürtig an, und dass schöne kühne Mädchen ließ sich eine Vertraulichkeit nur von dem mutigen frechen Knaben gefallen, dem kein Wagestück zu kühn war, der sich jeder Tollheit fähig zeigte, und dem jedermann den Galgen prophezeite, bevor er noch das Mannesalter erreicht haben würde. Simeon konnte der Bande nichts nützen, was Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit betraf, denn seine Hand war plump und nicht imstande, die Feder zu führen, wenn es galt, die feinen Strichelchen und Zeichen eines Fünfzig-Taler-Scheins zu kopieren. Auch fehlte ihm Schlauheit und Gewandtheit beim Vertrieb des falschen Geldes, doch war er, wo Gefahr vorhanden, immer zu brauchen. Der Vorfall, den wir oben beschrieben haben, zeigt, wie er sich bei Gelegenheiten derart zu benehmen pflegte. Darum hatte Judith ihn auf der Flucht zum Begleiter gewählt und sich verbindlich gemacht, so weit es in ihren Kräften stehen würde, wiederum für ihn zu sorgen. Sie hatten unter sich eine Art Schutz- und Trutzbündnis auf Lebenszeit geschlossen, und der Verlauf der Geschichte wird zeigen, wie wenig es dem einen Teil gefiel, seine Rechte aufzugeben, als dem anderen es nicht mehr zusagte, den übernommenen Pflichten Genüge zu leisten.

Der Bankier, Herr Rusbruck, saß eben bei seinem Frühstück, als man ihm meldete, ein Kind wolle ihn sprechen und habe einen Brief an ihn abzugeben. Überzeugt, einen Bettelbrief in der Hand zu haben, öffnete er zögernd das Schreiben, aber seine Aufmerksamkeit wurde durch die wenigen Worte, die es enthielt, stark in Anspruch genommen. Er befahl sogleich, der Überbringerin Eintritt zu gewähren. Als Judith erschien, heftete er einen langen forschenden Blick auf sie. Das Antlitz des Herrn Rusbruck hatte nichts Einnehmendes, es lag jene prüfende, kalte Strenge darin, die sich den Zügen eines Mannes einzuprägen pflegt, der in einem engherzigen Treiben, in einem geistlosen Geschäft aufgewachsen ist.

»Du bist das Kind, von dem hier im Brief steht?«, fragte der Bankier.

»Ja, Herr, ich bin es«, entgegnete Judith.

»Weißt du, was in diesem Brief enthalten ist?«, setzte der Bankier seine Fragen fort.

»Wie sollte ich es wissen, Herr?«

»Erzähle mir deine Geschichte.«

Judith berichtete jetzt, was sie von Diane und dem Apotheker erfahren hatte. Ihre Erzählung schien Herrn Rusbruck zufriedenzustellen. Er hieß sie näher treten, fasste sie unters Kinn und sagte: »Armes Kind! Danke dem Himmel, dass niemand dir diesen kostbaren Brief geraubt hat, es ist das Einzige, was du besitzt, und den eine mildtätige Hand dir hinwarf als Almosen, da man dich in die Wüste stieß.« Dies war die gefühlvollste Rede, die Herr Rusbruck seit Jahren gehalten hatte, allein die Veranlassung war auch eine ganz besondere. Er klingelte, und eine alte Aufwärterin erschien.

»Frau Klein«, redete sie der Bankier an, »nehmen Sie dieses arme Kind zu sich, waschen Sie es, kleiden Sie es und setzen Sie es in den Zustand, dass ich es in anständiger Gesellschaft präsentieren kann.«

Frau Klein gehorchte dem Befehl und tat ihr Möglichstes. In weniger als zwei Stunden ging das verwilderte Geschöpf als ein zierliches, hübsches Mädchen hervor, dessen Schönheit jetzt erst recht in die Augen fiel. Das reiche, dunkle Haar war in volle Flechten gelegt, und durch Öl glänzend gemacht, schloss es sich geschmeidig an die Wange. Ein seidenes, weißes Kleid umspannte eng die Taille, und zierliche Schuhe und feine Strümpfe umkleideten die früher in zerrissene Lumpen gehüllten Füße. Judith betrachtete sich in einem großen Wandspiegel, und in ihren Blicken malte sich Verwunderung und Erstaunen. Der Putz hatte für sie etwas Fremdes, Beengendes. Nicht, als wäre sie nicht in ihren früheren Verhältnissen manchmal auch geputzt erschienen. Allein es geschah, wenn sie in ihrem gefahrvollen Beruf die Märkte besuchte und die aufgegebene Rolle spielen musste. Hier sagte man ihr aber, dass sie dieses seidene Kleid, diese kostbaren Schuhe immer tragen werde, und dass diese die ihr zukommende Kleidung sei. Sie begriff das nicht. In dem wollenen Röckchen hatte sie sich überdies freier bewegt. Der zerrissene Strohhut, den Simeon ihr auf die Locken gedrückt hatte, war ihr nicht so lästig gewesen, und hatte sie nicht so gedrückt wie die glatten, geflochtenen Haare, die ihre freie offene Stirn jetzt halb bedeckten, und die sie nicht zurückstreichen durfte. Sie beklagte sich nicht, aber sie saß lange schweigend in der Ecke des Zimmers. Ihre Augen füllten sich, je starrer sie vor sich hin sahen, desto reichlicher mit Tränen. Es war ein frischer, kecker Waldvogel, der aus der Freiheit seines ihm bestimmten Reviers in einen engen glänzenden Käfig gesperrt wurde.

Das Nachdenken und die angeborene und lang geübte Schlauheit überzeugten sie bald, dass sie sich in ihre neue Lage fügen müsse, und dass sie vor allen Dingen keinen Verdacht erregen dürfe. Sie trocknete daher ihre Tränen, zeigte sich froh und über den neuen Putz entzückt.

»O, das ist noch nicht alles!«, bemerkte die alte Aufwärterin mit wichtiger Miene. »Herr Rusbruck hat mir geboten, Sie als ein Fräulein zu behandeln und Ihre Befehle zu erwarten. Sie dürfen also nur befehlen, mein Fräulein. Wahrlich!«, setzte die Alte hinzu, indem sie sich abwandte, »ich habe es immer gesagt, es geschieht viel Sonderbares in der Welt.«

Als der Mittag herankam, speiste sie mit der Alten, die von Zeit zu Zeit aufstand, um sie zu bedienen. Ebenso geschah es am Abend, als das Kind sich zu Bett legte. Die erste Nacht, als die Heimatlose zum ersten Mal unter dem Schutz der Gesetze in einem Haus schlief, das nicht Verbrecher und Diebe bewohnten, erfüllte ihre Brust, so sehr sie noch Kind war, ein Gefühl unbewussten Glücks. Sie dachte ihres Vaters, sie dachte Simeons, und wusste, dass beide in dem entferntesten, unsaubersten Winkel der großen Stadt, auf einem elenden Lager übernachteten, dessen Härte und Dürftigkeit noch durch die Furcht vor Entdeckung und Strafe peinvoller und rauer gemacht wurde, während sie in Sicherheit und auf einem weichen köstlichen Lager schlummerte. Zum ersten Mal wurde ihr jetzt die Beschaffenheit ihrer früheren Lebensstellung klar. Ihre inneren Wahrnehmungen, die immer plötzlich und gleich unmittelbaren Eingebungen zu kommen pflegten, erhellte ihr auch jetzt in einem einzigen Moment das Gemälde der menschlichen Gesellschaft, so weit es ihr kindlicher Geist zu fassen vermochte. Wir haben bemerkt, dass Judith erst zehn Jahre alt war, aber zugleich sagten wir, dass ihre Fähigkeiten weit über dieses Alter hinausreichten.

Am anderen Morgen fasste sie den Entschluss, die ihren aufzusuchen. Schon im Eintreten hatte sie mit schnellem Blick die Besonderheiten im Haus aufgefunden, und so entschlüpfte sie jetzt bei der ersten Gelegenheit unbemerkt und befand sich bald auf dem Weg zu der entlegenen Vorstadt. Die Lage der Kirchen und Hauptplätze hatte sie sich ebenfalls gemerkt. Sie blieb vor keinem der vielen Bilderläden stehen, obwohl ihre Neugier gereizt wurde, diese Schätze zu betrachten. Da sie leicht wie eine Feder dahinflog, hatte sie bald jene einsame Gegend der Vorstadt erreicht, wo ein einzeln stehendes Haus mit einem weitläufigen Garten umgeben, die Stätte bezeichnete, wo die beiden Gefährten weilten. Immer besorgt, die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken, trat sie in den Garten und schien beschäftigt, die wild wachsenden Blumen im vernachlässigten Gehege zu pflücken, aber ihre Blicke irrten am Gebäude hinauf. Sie hatte Simeon am offenen Fenster bemerkt, er sah sie, allein er erkannte sie nich. Sie winkte ihm und jetzt erst richtete er seinen Blicke schärfer auf ihre Züge.

»Sim! Ich bin es!«, flüsterte sie, ein großes Bouquet Tulpen vor den Mund haltend.

»Wahrhaftig, Judy!«, rief er und schlug die Hände zusammen. »Ich komme zu dir herab.«

»Nein, nein!«, rief sie. »Ich muss fort. Was macht der Vater?«

»Er schläft, Judy.«

»So lass ihn schlafen. Will einer von euch mich sprechen, so steht hier auf diesem Zettel, den ich unter den Busch Kaiserkronen verstecke, Straße und Wohnung. Aber Vorsicht!«

»Die brauchst du mir nicht anzuraten, Judy!«, rief Simeon beleidigt. »Habe ich dich oder den Vater jemals in Gefahr gebracht? Aber Judy, willst du nicht heraufkommen und von meinem Glas Punsch nippen? Auf meine Ehre, du bist eine vornehme Dame geworden und fürchtest, dein Kleid zu beschmutzen.«

»Sprich nicht so einfältig«, entgegnete das Mädchen lachend. »Ich bin nicht mehr vornehme Dame geworden, wie ich es früher war. Lebe wohl, ich muss fort.« Und damit war sie aus dem Garten geschlüpft, und ihr leichtes Florgewand schimmerte nur noch auf einen Moment an der dunklen Wand des großen Magazingebäudes, das dem Garten gegenüberlag.

Simeon schlich sich zu den bezeichneten Blumen und steckte das Papier zu sich.

Fünf Tage nach der Ankunft Judiths kündigte ihr Herr Rusbruck an, dass er für sie eine Stelle in einer Erziehungsanstalt gefunden habe, und dass sie dort bleiben werde. Er brachte sie demzufolge in seinem eigenen Wagen dahin, und Judith wurde der Vorsteherin der Anstalt vorgestellt. Dieses Ereignis war so plötzlich gekommen, dass das überraschte Mädchen nicht Zeit gefunden hatte, ihren Vater davon in Kenntnis zu setzen. Am Abend des Tages, als sie in die Anstalt eintrat, wurde ihr ein Brief ausgehändigt, der die Adresse trug: An Fräulein Diane Belmont; denn diesen Namen führte Judith jetzt. Er enthielt, ohne Unterschrift, nur die wenigen Worte von Florentins Hand.

Ich weiß, dass du gut aufgehoben bist, und bitte den Himmel, dass er dich segne. Er weiß es, wie oft ich wünschte, dich wandeln zu sehen auf einer Bahn, unähnlich der, die der Schreiber dieser Zeilen wandelt. Forsche nicht nach mir; ich und S. verlassen noch vor Abend diese Stadt. Eine Kunde von uns wird dich erreichen, wenn sie dir und uns dienlich sein wird. Vernichte dieses Papier.

Fl…

 

Judith gehorchte, und ihr Auge blieb tränenlos, als sie dieses einzige Andenken an einen Vater, den sie vielleicht nie wiedersah, vernichtete. Simeon hatte dem Brief nur ein Lebewohl zugefügt, mit rauer kaum leserlicher Handschrift.