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Die Gespenster – Zweiter Teil – Zwölfte Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Zweiter Teil

Zwölfte Erzählung

Eine höchst wunderbare und doch ganz natürliche Ahnungsgeschichte

Dem Rittmeister von Gorer begegnete einst auf einem Spazierritt folgendes merkwürdige Ereignis. Als er langsam durch das Dorf tritt, gesellte sich 20 Schritte von der Schmiede eine weiße Gestalt zu ihm und begleitete ihn bis an den Gottesacker am anderen Ende des Dorfes. Er war nicht imstande, die Gesichtszüge dieser Erscheinung zu unterscheiden; aber so viel erkannte er deutlich, dass ihn kein wahrer Mensch, sondern nur ein weißlichter Schatten begleite. Am Ende des Dorfes trennte sich die Schattengestalt vom Rittmeister. Sie ging den gewöhnlichen Weg, der auf den Kirchhof führt. Herr von Gorer, höchst begierig, zu erfahren, was aus ihr werden würde, hielt bei der Kirchhofsmauer sein Pferd an und verfolgte sie mit seinen aufmerksamen Blicken. Die Gestalt ging fort bis unter einem Baum des Kirchhofs, wo sie langsam und sichtbar in die Erde sank. Er wunderte sich zwar über dieses unerwartete Ereignis, wie gewiss ein jeder sich wundern würde, wenn so ein außerordentlicher Zufall ihm begegnen sollte. Indessen war er nicht weniger als abergläubig und hatte daher auch nicht die geringste Furcht, sondern ritt langsam und ruhig seinen gewöhnlichen Weg fort. Nur den Tag zeichnete er sich im Kalender an. Auch sagte er, seinen Freund Iphof ausgenommen, keinen Menschen ein Wort von diesem Vorfall. Nach der Zeit heiratete er Henriette von Billwärder. Die junge Baroness hatte seit der ersten Bekanntschaft mit ihm die sanften Regungen der Liebe empfunden und heimlich nichts sehnlicher gewünscht, als das Band der innigsten Freundschaft mit diesem Herrn zu knüpfen. Nach der Vermählung, die auf dem einen Gut des Barons, seines Schwiegervaters, mit großer Pracht vollzogen wurde, gingen die Glücklichen nach Potsdam zurück. Beide wetteiferten miteinander, sich gegenseitig unverkennbare Beweise der innigsten Liebe zu geben und überraschendes Vergnügen zu machen.

Nach einem halben Jahr wurde der Rittmeister genötigt, auf seine Güter nach Schlesien zu reisen. Da er einige verdrießliche Sachen zu berichtigen hatte und sie rasch zu beenden wünschte, entschloss er sich, wiewohl ungern, seine Gemahlin nicht mitzunehmen. In der Tat waren die vorgefundenen Gegenstände noch verwickelter, als er sich vorgestellt hatte, so, dass er vor zwei Monaten nicht an die Rückreise denken konnte.

Während dieser Zeit hatte seine Gemahlin zufällig beim Prediger des Dorfes, wo der Rittmeister die ganz besondere Begleitung gehabt hatte, sich eine Stube gemietet. Sie wollte ungestört das Landleben genießen und jede Woche einige Tage hier in der Stille zubringen. Da sie im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft habe, so glaubte sie sich selbst eine Wohltat dadurch zu erweisen. Sie kannte den Prediger Herrn Zämerich schon vorher als einen belesenen angenehm unterhaltenen Mann und lustwandelte daher oft in seiner Gesellschaft mit Vergnügen. Hatte er Amtsgeschäfte, so nahm sie ihre Kammerjungfer zur Begleiterin. Eines Tages, als sie von einem solchen Spaziergang mit dem Kammermädchen zurückkam, begegnete ihr ein Unglück, welches die traurige Veranlassung zu ihrem frühen Tod wurde. Der Gemeinochse hatte sich im Stall losgerissen und lief im Dorf herum. Er fuhr brüllend auf Frau von Gorer zu und stieß sie zu Boden, jedoch ohne sie weiter zu verletzen. Man eilte augenblicklich zur Rettung der guten Frau herbei, die ohnmächtig dalag. Es wurden schleunigst zwei Ärzte aus Potsdam geholt, aber ungeachtet alles möglichen Fleißes, den diese mit vereinigten Kräften anwandten, konnten sie weder die Niederkunft der Leidenden mit einem toten Kind verhindern noch auch sie selbst vor dem Tod schützen, der im Gefolge einer so gewaltsam veranlassten Entbindung war. Sie starb noch in der ersten Nacht.

Der Prediger sandte sogleich einen reitenden Boten an den Rittmeister von Gorer mit der traurigen Todesnachricht ab. Da aber dieser stürzend den einen Fuß gefährlich beschädigte, so kam er einen Tag später an, als sonst geschehen sein würde. Der Prediger bereitete indessen ein feierliches Leichenbegräbnis vor, wartete aber mit der Beerdigung bis zum fünften Tag, um entweder den Rittmeister in Person noch ankommen zu sehen oder wenigstens Verhaltensbefehle von ihm zu erhalten. Da sich aber die Leiche wegen großer Hitze kaum bis dahin hielt, so musste das Begräbnis nun vollzogen werden. Die Verewigte wurde unter dem großen Baum, der in der Mitte des Kirchhofes stand, beerdigt.

Erst am dritten Tag nach dem Begräbnis kam Herr von Gorer an, ungeachtet er Tag und Nacht gereist war. Man kann sich die schmerzhaften Empfindungen leicht vorstellen, die für ihn mit dem Gedanken verbunden waren. Ich finde das Glück meines Lebens – Henriette – nicht wieder. Nur den Hügel, der ihre Gebeine verschließt, finde ich! Aber kaum hatte er ihre Grabstätte selbst erblickt, so fiel ihm die unerkannte Schattengestalt schwer aufs Herz, dir eins unter dem nämlichen Baum, der jetzt den Grabeshügel seiner Henriette beschattete, in die Erde sinken sah. In der Tat wird es immer höchst wunderbar und unerklärlich bleiben, dass Frau von Gorer nicht auf ihrem Gut, sondern in dem Dorf, an dem Ort, unter dem Baum – ja sogar an eben dem Tag, in der Stunde, begraben wurde, wo ihr Gemahl gerade ein Jahr zuvor, also schon vor ihrer Heirat, die weißlichte Gestalt hatte langsam in die Erde sinken sehen. Niemand wird dieses sonderbare Ereignis natürlich erklären können; und dennoch hat es sich gewiss zugetragen.

Der Rittmeister von Gorer hatte die gehabte Erscheinung auch seiner Gemahlin verschwiegen und allein seinem Freund, dem Rittmeister von Iphof erzählt. Dieser konnte aber wegen des Begräbnisses nichts verordnet haben, weil er gerade zu dieser Zeit mit seiner Familie auf 14 Tage verreist war. Die Verstorbene hatte die Stube beim Prediger Zämerich ohne Vorwissen ihres Gemahls gemietet, auch dieses Umstandes in ihren Briefen an ihn nie mit einem Wort erwähnt. Tag und Stunde des Begräbnisses waren nach dem Sinn des Predigers angesetzt. Dieser Mann wählte den Ort zum Grab unter den großen Baum, weil derselbe, wie er sich hinterher gegen Herrn von Gorer erklärte, eine schickliche Erinnerung sein könnte, dass der gnädigen Frau das Unglück, welches ihren Tod nach sich zog, begegnet sei, wie sie eben von einem Spaziergang aus dem angrenzenden Wäldchen gekommen wäre. Was war also diese Erscheinung? Und was zeigte eine so pünktliche Erfüllung an?

So erzählt, dem wesentlichen Inhalt nach, und so fragt ein Schriftsteller, der die Dreistigkeit hat, das Buch, worin ihr obige Wundergeschichte vorträgt, eine nützliche Lektüre zu nennen. Da sich der Unglücksfall der schwangeren Dame nahe bei Potsdam zugetragen haben soll, und ich in der Nachbarschaft dieser Stadt hause, so gab ich mir Mühe, zu erfahren, ob und wie viel Wahres an dieser Geschichte sei. Ich glaube nun mit Zuverlässigkeit versichern zu können, dass die ganze, jenem Romandichter nacherzählte an Geschichte der Familie von Gorer durchaus keinen rechtlichen Anspruch auf historischen Glauben machen kann. Denn sie ist nichts mehr und nichts weniger als eine Erfindung und hat so, wie der Dichter Herr Lilienfeld sie erzählt, sich bei Potsdam nie zugetragen.

Wenn also gefragt wird, was war jene Erscheinung, so ist die Antwort: ein Märchen!

Da möchte ich nun gegenseitig Herrn Lilienfeld fragen: Was nützt und frommt ein Märchen, welches offenbar den Ahndungen das Wort redet, mithin dem Schwachen Sand in die Augen streuen und dem Wahnglauben wieder Tür und Tor öffnen soll?

Solche Märchen, Herr Dichter, sind nichts weniger als eine unschädliche Lektüre für das Publikum, dem sie laut Titel ihres Buches nützen wollten.

Aber vielleicht hatten Sie keine sträfliche Absicht beim Erfinden der Gorer’schen Wundergeschichte? Vielleicht glaubten Sie sogar, der Welt zu nützen, indem sie ihr den kaum ein wenig außer Kurs gekommenen Glauben an Gespenster und Handlungen wieder empföhlen? Nun, dann ist auf Sie anwendbar, was Bayle sagt: »Wer in der Absicht, die Welt nützlich zu werden, ein Buch schreibt, ist mit dem, der ein Kind zeugt im gleichen Fall. Keiner weiß, welche Frucht seine Pflanze tragen wird. Und das Sprichwort hat recht: Der Wurf aus der Hand ist des Teufels.«