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Markus K. Korb – Phantasma Goriana

Markus K. Korb
Phantasma Goriana

Phantastik, Taschenbuch, Voodoo Press, Marsalforn, Malta, März 2018,  320 Seiten, 13,95 Euro, ISBN 9789995756536, Titelbild: Björn Craig
www.voodoo-press.de

Dieser Titel ist als Taschenbuch, auf 100 Exemplare limitierte Hardcoverausgabe (original vom Autor signiert, handnummeriert) und als E-Book erhältlich.

Markus K. Korb wird auf dem diesjährigen Marburg-Con am Samstag (28. April 2018) eine Lesung durchführen.

Wenn Disneyland von Zombies überrannt wird …
Wenn im Bauch eines gestrandeten Wals das Wimmern eines Säuglings zu hören ist …
Wenn ein Milliardär im Dschungel auf Kannibalen trifft …
Wenn der Sänger einer Rockband von der Liebe der Fans überwältigt wird …
Wenn im Garten von Versailles ein Toter gefunden wird …
Wenn eine Vegetarierin gezwungen wird im Schlachthof zu arbeiten …
… dann ist die Zeit reif für die Trugbilder von Phantasma Goriana!
Mehr als zwanzig Erzählungen, Novellen und Gedichte aller Spielarten der Phantastik: Science Fiction, Fantasy, Horror. Mit einem Nachwort von Arthur Gordon Wolf und einem Vorwort des Autors.

In Phantasma Goriana wartet Markus K. Korb mit folgenden Werken aus:

  • Die Nacht des Guy Fawkes
  • Junger Mann zum Mitreisen gesucht!
  • Schlachthof
  • Tango
  • Mit der Flut
  • Der Spaziergang
  • Im Bauch des Wals
  • Manuels Mutprobe
  • Füttere mich!
  • Still mein Freund – Hörst du nicht den Wind?
  • Disneyland Zombie Massacre
  • Gärtner der stillgelegten Fabrik
  • Ultimate Stagediving
  • Experience
  • Ein klarer Fall von Auferstehung
  • Flucht aus der Unterwasserstadt
  • Der Häuptling und der Hypermilliardär
  • Der Tod in der Orangerie
  • Pax Immortalis
  • Der die Münzen unter den Zungen der Toten stiehlt
  • Der Pferdeliebhaber
  • Ghostwriter
  • Das Auge der finsteren Stadt
  • Eine Gespenstergeschichte
  • Die Spur der schwimmenden Särge
  • Der Weidebaum am Fluss
  • Mein modriges Wasserpferd
  • Am Schlittenberg
  • Zwischen den Jahren

Leseprobe:

Zum Geleit

Der Sommer des Jahres 1816 war fürchterlich. Ständig regnete es und so war die kleine Reisegesellschaft junger Engländer dazu gezwungen, sich in der Villa Diodati am Genfer See aufzuhalten. Am Abend las man sich gegenseitig Gespenstergeschichten   aus einem Buch vor, das man in der Villa gefunden hatte. Und in der Nacht darauf erdachte Mary Shelley die Figur des Doktor Frankensteins und seine aus Leichenteilen erschaffene Kreatur.

Genauso wie das Monster von Frankenstein aus verschiedensten Teilen zusammengesetzt ist, sind auch die Geschichten im vorliegenden Band eine bunte Mischung verschiedenster Subgenres und bilden dennoch ein Ganzes. Der Gedanke, alle Subgenres der Phantastik in einem Band zu vereinen, erschien mir schon lange sehr reizvoll. Die Trennung in Science-Fiction, Fantasy und Horror (dunkle Phantastik) mag ihre guten Gründe haben, doch sind alles die Kinder einer Mutter – der Phantastik.

Der Gedanke der Vielfalt betrifft auch die Textgattungen. Verschiedenste Textarten sind in Phantasma Goriana versammelt: Novellen, Erzählungen, Kürzestgeschichten und Gedichte.

Bedanken möchte ich mich bei meinen treuen Lesern, die seit vielen Jahren mein Schaffen begleiten und es hoffentlich noch weiter tun werden. Es ist mir eine große Freude, mich bei Lesungen und anderen Treffen, mit ihnen auszutauschen. Gerne auch wieder über die Stories im vorliegenden Band.

Ein herzliches Dankeschön an all die Autorenkollegen, zuvorderst Andreas Wolf (der dankenswerterweise das Nachwort verfasst hat), Jörg Kleudgen, Tobias Bachmann, Torsten Scheib, Vanessa Kaiser und Thomas Lohwasser, Uwe Voehl, Astrid Pfister, Stefan Melneczuck, Andreas Gruber, Michael Marrak, Tommy Krappweis, Markus Heitz, Kai Meyer und viele andere mehr. Eure Werke inspirieren mich.

Danke auch an Ralf Steinberg und das Team vom Webmagazin Fantasyguide, an die Marburger Con-Crew und die Mitglieder des Horror-Forums.

Ein herzliches Dankeschön an Peter Davey für die Kampfchoreographie bei Das Auge der finsteren Stadt und an Wolfgang Göttinger, Sandra Kaps, Anja Fairnley und Bärbel Grimmer für das Erstlektorat so mancher Story. Wem ich sonst noch zu Dank verpflichtet bin, es aber zu erwähnen an dieser Stelle vergessen haben sollte, möge mir verzeihen.

Last but not least möchte ich meiner Familie danken, die erneut meine geistige und körperliche Abwesenheit beim Verfassen von Phantasma Goriana mit großer Geduld begleitet hat. Ohne dieses Verständnis wäre der vorliegende Band nicht möglich gewesen.

Markus K. Korb im Februar 2018

Apropos: Das Buch, das die englischen Literaten 1816 in der Villa Diodati vorgefunden hatten, war ein Teildruck in französischer Übersetzung des deutschen Werks Das Gespensterbuch von Friedrich Laun und August Apel. Es trug den Titel Fantasmagoriana.

 

Die Nacht des Guy Fawkes

George war ein Drecksack.

Dennoch hätte ihm niemand je ein Leid angetan, aus Angst vor seiner Rache, denn George kannte die gemeins­ten Kerle von ganz Carlisle. Die hatten Springmesser in den Hosentaschen und schreckten nicht davor zurück, sogar deine kleine Schwester damit zu bedrohen, wenn sie von dir nicht das Geld für das Pausenbrot in der Schule bekamen.

Ganz fiese Schweine waren das, und George war der Größte unter ihnen.

Als er aber im Dunklen stolperte und die Kellertreppe im Haus von John herunteifiel, wagte niemand zu lachen. Wir waren gerade auf dem Weg, um die Guy Fawkes Puppe zu holen. Drei Tage hatten wir gebraucht, um sie aus alten Kleidern und einem Geflecht aus Weidenzweigen herzu­stellen. Innen war sie mit Stroh gefüllt. Am Abend sollte sie auf einem Scheiterhaufen im Garten von Johns Eltern verbrannt werden.

George schlug mit dem Kopf auf eine Stufenkante und blieb mit verrenkten Gliedern liegen. Er rührte sich nicht mehr.

John und ich eilten ebenfalls die Treppe hinab, schüttel­ten George und riefen seinen Namen.

»George! George! Wach auf! Was ist denn los mit dir?«

Keine Reaktion.

Wir sahen uns bestürzt an. »Ist er …?« John schluckte. Ich hob Georges Arm und ließ ihn wieder los. Er fiel kraft­los und mit einem hässlichen Geräusch auf den Kellerboden. Anschließend horchte ich an seinem Brustkorb. Da klopfte nichts mehr. Es war eindeutig. Ich nickte John zu.

»Oh mein Gott! Was machen wir denn jetzt?« Johns Stimme überschlug sich. »Wir haben das Kellerlicht nicht angeschaltet, deshalb ist er gestolpert.«

Er fasste mich bei den Schultern und sah mir mit angst­geweiteten Augen ins Gesicht.

»Das war Mord! Wir kommen ins Gefängnis! Lebens­lang!«

Dann weinte er dicke Tränen der Reue. Ich kämpfte mit der aufkeimenden Panik und versuchte ruhig zu überlegen. Johns Eltern waren noch im Supermarkt. Wir waren allein im Haus. Ich blickte hinüber in die Ecke des Kohlenkellers.

Dort saß die Guy-Fawkes-Puppe auf einem alten Holz­stuhl. Ein klobiges Ding, bestehend aus einem fleckigen Hemd und einer ausgebleichten Latzhose, worunter ein Skelett aus Weidenzweigen steckte. Hohl und mit Stroh gefüllt. Einzig dazu hergestellt, dass es am Abend im Gar­ten hinter dem Haus verbrannt wurde.

Hell loderten die Flammen auf, als Johns Vater das Streich­holz auf den mit Benzin getränkten Scheiterhaufen warf. Sie leckten am Holzstuhl empor, erfassten die Beine der Guy-Fawkes-Puppe. Sofort fing die Hose Feuer.

Alle Kinder der Nachbarschaft standen um das Lager­feuer herum und starrten auf den brennenden Kerl in der Mitte. Wir sangen Lieder und tranken Tee. Die erhitzten Ge­sichter überzogen von unstetem Flackern, das sich in Johns geröteten Augen brach. Er war der Einzige, der nicht lachte.

Ich musste grinsen, als ich das Zucken des rechten Zei­gefingers von Guy Fawkes bemerkte.

Ganz kurz nur.

Dann erfasste das Feuer auch den Brustkorb der Puppe. Das Knistern der Flammen klang wie ein gedämpfter Schrei, der aus einem Mund drang, der mit Stroh verstopft war.

 

Junger Mann zum Mitreisen gesucht!

Hier die Fahrkarten lösen und dabei sein! Hier geht die Post ab, hier geht’s gleich wieder R-U-U-U-N-D!«

Noch bevor das letzte Wort im Echo-Effekt verhallte, war für Jürgen die Sache sonnenklar. Er las noch einmal das Schild, das am leeren Kassenhäuschen hing: »Junger Mann zum Mitreisen gesucht!« und dachte sich: Das ist meine Chance!

Jürgen sprang auf das mit pfeilformigen Haken gestanzte Bodenblech des Fahrgeschäfts und lief die Schräge an der Seite hinauf, vorbei an der mit lüsternen Meerjungfrauen bemalten Eisenrückwand, den stähler­nen Absperrgeländern und hoch zu der mit schwarzer Folie beklebten Steuerkabine.

Darin saß eine Mittfunfzigerin mit schwarz gefärbten Haaren, die im Stil der Achtziger Jahre zu einer Jennifer-Rush-Mähne hochtoupiert waren. Aus tiefschwarz geschminkten Augen blickte sie Jürgen an und dieser fühlte sich beim Anblick der überlangen künstlichen Wimpern unweigerlich an zwei Venusfliegenfallen er­innert. Mit ihrer rauchigen Stimme sprach sie ihn an: »Na, junger Mann?«

Jürgen lief sofort ein wohliger Schauer über den Rü­cken. Es war genau diese Stimme, die ihn von Kindes­beinen an fasziniert hatte. Bei jedem Pfingstfest war er auf dem Jahrmarkt gewesen und hatte dabei zugesehen, wie sich die Eisenbeine des »Oktopus« drehten. Aus den Boxen war der Pop-Musik-Hit von Deniece Williams »Let’s Hear It For The Boy« über »Jump For My Love« der Pointer Sisters bis hin zu Bananaramas »It’s A Cool Summer« erklungen. Und dazwischen immer wieder die Durchsagen der Anheizerin: »Seid ihr bereit für eine Zu­gabe?«, »Wollt ihr mehr?«, »Und jetzt drehen wir noch einmal voll auf! Und L-L-L-LOS!« Der Echo-Effekt am Ende war immer der Hammer gewesen! Jürgen war völ­lig von den Socken. Die Sommer waren in seiner Erin­nerung immer heiß und fantastisch gewiesen.

Dreizehn Jahre später fühlte er sich bereit dafür, ein neues Kapitel in seiner Liebe zum Jahrmarkt aufzuschla­gen.

»Ich möchte gerne mitreisen!«, sagte er. Die Frau in der Kabine zog den Plastikchip unter ihren künstlichen pinkfarbenen Fingernägeln wieder zurück, den sie schon bereitgelegt hatte. Sie hob eine Augenbraue in die Höhe.

»Das ist aber schön«, schnarrte sie. »Warum möchtest du das denn tun?«

»Weil ich etwas erleben will«, beeilte sich Jürgen zu sagen. »Ich will umherziehen, neue Leute kennenlemen, andere Städte … das echte Leben eben!«

»Okay, alles klar. Bist du denn schon achtzehn Jahre alt?«

»Hier, mein Ausweis!« Jürgen reichte das Dokument durch das kleine Fenster. Die Frau betrachtete den Personal­ausweis kurz, dann gab sie ihn mit einem Lächeln zurück.

»Einen Moment bitte!«, sagte sie und drückte auf den Knopf vor dem Mikro, das an einem biegsamen Metall­ständer befestigt war.

»Den Bügel nach unten drücken und aussteigen nach links bitte! Und hereinspaziert, hereinspaziert – hier er­wartet euch der Ritt eures Lebens!«

Sie üeß den Knopf wieder los und wandte sich Jürgen zu. »Mein Name ist Gerda. Das ist Hans.« Sie zeigte auf einen älteren Mann im Glitzer-Shirt der die Plastikchips einsammelte und mit Mädchen flirtete, die seine Töchter sein könnten. »Stell dich ihm mal eben vor. Er ist hier der Chef!«

»Danke, das mache ich.«

Jürgen wartete, bis der Oktopus wieder gestartet war. Die eisernen Bogenarme hoben sich. An den Enden dreh­ten sich die Fahrsitze. Und in der Mitte aller Arme saß auf einer Erdkugel ein Tintenfisch.

Hans schlenderte gerade mit einer Hand voll Chips zur Kabine zurück. Jürgen sah ihn sich genau an. Er kannte ihn. Allerdings in einer jüngeren Version von damals. Hans war alt geworden. Seine kurzgeschorenen Haare konnten trotz der Kürze nicht verbergen, dass sie grau waren. Die ver­spiegelte Sonnenbrille täuschte ebenso Coolness vor, wie das Glitzer-Shirt eine längst vergangene Jugendlichkeit. Der eingefallene Mund unter dem Freddie-Mercury-Schnauzer zeigte allerdings deutlich, dass er kaum noch Zähne besaß.

»Hi Sportsfreund!«, sagte Hans und reichte die Chips an Gerda weiter. »Was gibt’s?«

»Ich will mitreisen«, antwortete Jürgen mit breitem Grinsen und reichte Hans die Hand. Dieser schlug ein.

»Ja, wowr! Cool! Gerda hat dich schon abgecheckt, oder?«

Sein Atem roch nach Wrigley-Fruit-Kaugummi, dem man die säuerliche Note von faulem Zahn beigemengt hatte. Jürgen wandte leicht den Kopf zur Seite, um die Nase aus der Geruchsfahne herauszubekommen.

»Ja, das hat sie.«

Hans sah ihn sich von oben bis unten an. »Bist ein wenig mager. Du musst unbedingt noch kräftiger werden! Naja, wir werden dich schon mästen!« Er lachte laut und schlug Jürgen auf die Schulter.

Dieser lachte mit und fragte: »Wann kann ich denn bei euch anfangen?«

»Morgen um zwölf Uhr. Da beginnt die Nachmittags­schicht Die Kids kommen dann alle aus der Schule und vorher zeige ich dir noch, was du tun sollst und wir erledi­gen den ganzen Papierkram. In Ordnung?«

»Super! Ich werde da sein!« Jürgen war glücklich. Aber da ahnte er ja auch noch nicht dass der »Oktopus« ein grauenvolles Geheimnis in sich barg.

Die nächsten Monate wurden für Jürgen zu den schönsten seines Lebens. Der Abschied von den Eltern war natürlich hart, denn sie verstanden einfach nicht, dass er raus musste aus seinem behüteten Heim. Sie sorgten sich, was aus ihm werden würde. Auf dem Jahrmarkt sahen sie keine Zukunft für ihn. Aber er ignorierte ihre Argumente und war sich sicher, dass ihm eine spannende Zeit bevorstehen würde.

Hans zeigte ihm alles, was er für den Job wissen musste. Und Jürgen lernte wirklich schnell. Er baute das Fahrgeschäft auf und ab, sammelte Plastikchips ein, kontrollierte die Stahlbügel, half beim Ein- oder Ausstei­gen. Und wenn es regnete, wischte er nachher die Sitze mit einem Handtuch wieder trocken.

Von Hans lernte er auch, wie er mit den Mädchen um­gehen musste. Schnell registrierte er, dass diese seinen Kontroll-Job mit Macht verbanden. Und Macht wirkt auf einige Mädchentypen offenbar äußerst sexy. Jürgen sah, wie sie miteinander tuschelten und ihn verstohlen anlächelten. Das waren die heimlichen Verehrerinnen. Es wurde ihm bald klar, dass mit denen nichts anzufangen war. Wenn er sie ansprach, kicherten sie nur und stot­terten verlegen herum. Besser lief es mit den Mädchen, die ihn Kaugummi kauend herausfordernd angrinsten. Das waren die verruchten Luder, mit denen eine schnelle Nummer im Stehen hinter der Eisenwand des »Oktopus« ging. Einmal lief er dabei Hans über den Weg, vor dem gerade ein gefährlich junges Ding kniete.

»Was glotzte denn so, Junge? Denkst du, nur du hast Fans?«

Er lachte und entblößte dabei sein fauliges Zahnlü­ckengebiss.

So verging Monat um Monat. Jürgen bereiste das ge­samte Land. Er lernte auch andere Mitreisende kennen. Immer wieder lief man sich über den Weg. Wenn nicht bei diesem Jahrmarkt, dann beim nächsten oder über­nächsten. Er bekam immer viel zu essen, nahm kräftig zu und baute Muskeln auf. Mit seiner langen Mähne und den blauen Augen sah er umwerfend aus. Es war ein un­glaublich toller Sommer!

Der Geruch von gebratenem Fisch und Zuckerwatte berauschte Jürgen. Die Pop-Musik aus den lauten Bo­xen, das Geschnatter der Menge, die spitzen Schreie der Mädchen im »Oktopus« – und auch die dahinter – ein­fach alles daran war klasse.

Zumindest, bis zu jenem Tag Ende September, als Jürgen die furchtbare Wahrheit hinter der glanzvollen Oberfläche erfuhr.

Es war das letzte Volksfest vor der Winterpause. Schon am ersten Tag hatte Hans geklagt: »Oje, bald geht wieder die magere Zeit los. Für uns Schausteller ist der Winter immer hart.«

»Was macht ihr denn dann?«

»Naja, wir reparieren unser Fahrgeschäft, bauen es ein wenig um, streichen die Eisenrückwand, im März nimmt der TÜV dann das Fahrgeschäft ab. Und für ein Zubrot arbeite ich währenddessen auch noch als LKW-Fahrer.«

»Und ich?«

»Mach dir mal keine Sorgen, Jungchen! Kommt Zeit, kommt Rat.« Hans lachte und schlug Jürgen auf die Schul­ter, so wie er es immer tat. Jürgen aber schwante, dass sich seine Zeit beim Fahrenden Volk dem Ende zuneigte.

Am letzten Tag kam Hans während des Feuerwerks auf Jürgen zu, während der »Oktopus« pausierte.

»Alle Mitreisenden sind heute zu einem Mitternachts­snack in das Motodrom eingeladen!«, brüllte er umgeben vom Knallen der Feuerwerksraketen in Jürgens Ohr. »Die Schausteller wollen sich mit einem Essen für die Arbeit des Sommers bedanken!«

»Cool – alles klar!«, rief Jürgen zurück. Hans klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken und verzog seinen zahnlosen Mund zu einem hohlen Grinsen.

Als die Lichter der Fahrgeschäfte nacheinander verlo­schen und die Betrunkenen durch die mit Müll übersäten Wege zwischen den Buden torkelten, brach Jürgen auf.

Gerda öffnete die Kabinentür und winkte ihm zu. »Viel Spaß!«

»Kommt ihr auch?«

»Ja, später! Aber wir müssen hier erst noch aufräumen!«

Jürgen sprang von der Metallscheibe des »Oktopus« und zog seine Jeansjacke an. Es war Herbst und daher schon recht kühl in der Nacht Jürgen wich dem Straßen­reinigungsfahrzeug aus, das den Müll zusammenkehrte und ihn anschließend schluckte. Er sah im Vorbeigehen einen Betrunkenen, der sich zwischen zwei geschlossenen Buden entleerte. Das Geräusch verursachte ihm Übelkeit.

Dann erblickte er das Motodrom vor sich. Dies war ein Fahrgeschäft, das sich auf Motorrad-Kunststücke spe­zialisiert hatte. In seinem Inneren befand sich eine ovale Holzkonstruktion, an der Fahrer entlangfuhren und akro­batische Verrenkungen zeigten. Beworben wurde es als »Die tollkühnen Biker an der Todeswand«.

Aus einem offenen Durchgang fiel Licht auf den As­phalt. Jürgen steuerte darauf zu, als er von hinten ange­sprochen wurde: »Hey, altes Haus! Bist ja auch da!«

Eine Hand senkte sich auf seine Schulter. Jürgen wandte den Kopf und erblickte Konrad. Dieser war Mitreisender bei einer Geisterbahn. Sie waren sich auf dem Pfingstfest in Bad Kötzting begegnet und hatten sich sofort mitein­ander angefreundet.

»Das ist ja eine Überraschung! Ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist!«, sagte Jürgen.

Konrads blonder Wuschelkopf wackelte beim Nicken. »Jaja, ich bin in der Nachbarstadt auf dem Schützenfest, aber meine Leute haben mich trotzdem hierher eingeladen. Nett von ihnen, nicht?«

»Stimmt«, erwiderte Jürgen. »Das ist eine wirklich nette Geste von den Schaustellern. Ich bin schon gespannt, was es zu Essen gibt«

Sie betraten das Motodrom. Es waren schon eine Menge anderer Mitreisender da. Ausschließlich junge Männer sa­ßen an einer langen Tafel, die man mitten im Raum auf­gestellt hatte. Zwei goldene Kandelaber standen darauf und verliehen mit dem Kerzenschein der Atmosphäre et­was Festliches. Dass von oben der Vollmond hereinschien, machte die romantische Aura perfekt

»Schau mal, da sind ja sogar Platzkarten!« Jürgen deu­tete auf kleine Pappaufsteller.

»Und wir sitzen nebeneinander, was für ein Zufall!«, meinte Konrad grinsend.

Sie setzten und unterhielten sich. Dann wurde eine Glo­cke geläutet und aus den Boxen erklang eine Stimme: »Wir danken euch für eure Mitarbeit und möchten euch heute Nacht etwas ganz Besonderes bieten! Lasst es euch schmecken!«

Die Doppeltür öffnete sich und das Knattern von Mo­torrädern erklang. Mit einem Mal schossen sie herein. Drei Motorräder und jeder Fahrer hielt ein Silbertablett in die Höhe, das von einer Haube abgedeckt wurde. Sie umkreis­ten die Tafel, rasten an der Wand empor und fuhren dann ein paar Mal im Kreis, ohne dabei die Tabletts fallen zu lassen.

Die jungen Männer johlten und klatschten vor Be­geisterung. Anschließend fuhren die Motorräder wieder auf den Boden zurück und drei knapp bekleidete junge Frauen kamen aus der Doppeltür und nahmen den Fah­rern die Silbertabletts ab. Sie servierten sie, legten da­bei einen Striptease hin und ließen die jungen Männer Whiskey aus ihren Bauchnabeln trinken. Die Menge war außer Rand und Band. Schließlich liefen die Mädchen im Eilschritt aus dem Raum, ihre Kleider an die Körper gepresst.

»Und nun – greift zu!«, ertönte die Stimme erneut.

Als man die Silberhauben anhob, entdeckte man dar­unter drei gefüllte Riesenputen. Ein wahrer Festschmaus begann. Die Mädchen kamen angezogen wieder zurück, und servierten alkoholische Getränke. Die Männer lach­ten, aßen und freuten sich. Es war der grandiose Ab­schluss eines wunderbaren Sommers. So könnte das Le­ben ewig weitergehen, dachte sich bestimmt so mancher.

Doch plötzlich ging das Licht auf der Zuschauertri­büne an und offenbarte den verwundert Aufschauenden, dass dort oben die Schausteller saßen und auf die Essen­den herabblickten. Jeder von ihnen war anwesend. Jürgen erkannte Hans und Gerda direkt in der zweiten Reihe.

Was sollte das?

»Ich liebe mein Essen, wenn es gefüllt ist!«, rief plötz­lich jemand und mit einer Behändigkeit, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, sprang Hans auf den Rand der Brüstung und hielt sich mit beiden Händen daran fest.

In diesem Moment verdunkelte sich der Raum, weil die Lichter ausgeschaltet wurden. Außerdem hatte sich eine Wolkenbank vor den Mond geschoben. Dennoch keimten in den Zuschauerrängen paarweise rote Lichter auf. Eines nach dem anderen. Erst waren es nur wenige, doch dann kamen in schneller Folge weitere hinzu.

Als die Wolken sich verzogen hatten und der Vollmond sein gespenstisches Licht wieder in das Rund des Moto­droms träufelte, erkannten alle die brutale Wahrheit hin­ter der glanzvollen Oberfläche des Jahrmarkt-Rummels.

Hans legte den Kopf in den Nacken und heulte. Sein Hemd war bereits aufgerissen. Schwarze Haare dran­gen heraus. Seine Mundpartie wölbte sich nach vom und wurde zu einer Schnauze. Überall hörte man nun das Reißen von Stoff, das Heulen wilder Tiere und kehliges Hecheln. Aus roten Augen gierte die Lust nach Fleisch.

Jürgen sprang auf stieß den Stuhl um und rannte zur Doppeltür, doch sie war abgeschlossen. Auch die ande­ren Männer waren nun bei ihm und drückten gemeinsam dagegen. Aber vergeblich. Panik machte sich breit. Auf­geregte Rufe erklangen … der Versuch sich zu bewaff­nen. Kandelaber und Stühle wurden als Nahkampfwaf­fen benutzt.

Nun sprangen die Bestien hinab in das Rund des Mo­todroms und richteten ein wahres Blutbad an. Mit ihren spitzen Klauen rissen sie Bäuche auf, aus denen Gedärme zu Boden glitschten. Die Schnauzen verbissen sich in Hälse und zerfetzten sie mit den sägenden Bewegungen ihrer Zähne. Die jungen Mitreisenden hatten nicht den Hauch einer Chance.

Zwei Bestien sprangen auf Jürgen zu. Eine davon warf ihn mit einem so heftigen Schlag zu Boden, dass sein lin­kes Handgelenk zerschrammte und sein Becken brach. Er versuchte auf dem Bauch hegend fortzukriechen. Da bohrten sich spitze Klauen in seinen muskulösen Rücken und rissen Jürgen herum. Nun blickte er seinen Peinigern in die Augen.

Die Bestien trugen noch Reste von Kleidung und da­ran erkannte er sie schließlich. Voller Grauen verstand er augenblicklich, dass er sich getäuscht hatte. In allem.

Jürgen begriff, dass er nur ein Opfer für Gerda und Hans war. Sie hatten ihn gemästet, bis er bereit für die Schlachtung war. Denn nur so würden sie die harten Win­termonate überstehen.

Im nächsten Frühjahr stand der »Oktopus« wieder in Bad Kötzting auf dem Pfingstfest.

Und im verwaisten Kassenhäuschen hing ein Schild mit der Aufschrift: »Junger Mann zum Mitreisen ge­sucht!«

Wäre das nicht etwas für dich?

 

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages