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Der Marone – Ein unfreiwilliger Selbstmord

der-marone-drittes-buchThomas Mayne Reid
Der Marone – Drittes Buch
Zweiundfünfzigstes Kapitel

Ein unfreiwilliger Selbstmord

Als Käthchen die Leiche ihres Vaters gesehen hatte, war sie im Übermaß des Schmerzes, wenn auch nicht bewusstlos, auf die Knie gesunken, beugte sich über sie und küsste unter Schluchzen, Stöhnen und Ausrufungen der tiefen Trauer die kalten stummen Lippen.

Nur das Gesicht der Leiche war unbedeckt, der Kamelottmantel verhüllte den Körper wie die klaffenden blutlosen Wunden. Deshalb sah Käthchen sie nicht und forschte auch nicht nach der Ursache des Todes ihres Vaters. Das verzerrte schwarzgelbe Aussehen seines Gesichtes brachte ihr sofort die Krankheit in Erinnerungen, an der er schon vor seiner Abreise gelitten hatte. Ihr war er unterlegen, so glaubte sie.

Herbert machte jetzt auch keinen Versuch, sie hierüber aufzuklären. Es schien ihm nicht an der Zeit zu sein, ihr alle Einzelheiten des schrecklichen Ereignisses mitzuteilen. Das Traurigste war ihr durch einen Zufall unvorbereitet bekannt geworden, warum sie noch mehr durch die trüben Nebenumstände bekümmern.

Ohne irgendein Wort zu sagen oder irgendeine der bei solchen Gelegenheiten gewöhnlichen und meist so gänzlich unnützen Redensarten vorzubringen, schlang der junge Mann mit Entschlossenheit seinen Arm um den Leib seiner heiß geliebten Cousine, erhob sie zu einer aufrechten Stellung und führte sie sanft von der Stelle fort. Langsam ging er mit ihr um das vom Feuer verwüstete Haus herum und brachte sie zum kleinen Sommerhaus, den für beide unvergesslichen Kiosk, der durch seine Entfernung vom Feuer ganz unversehrt geblieben war. Hier ließ Herbert seine Geliebte eintreten und auf einem Bambussitz Platz nehmen, während er sich auf einen neben ihr stehenden Stuhl setzte.

Yola, die sich schon zuvor eingefunden hatte, war ihnen gefolgt, hatte sich auf den Boden zu den Füßen ihrer Herrin niedergelassen und sah sie hier schweigend mit den teilnehmenden Blicken an, die deutlich die zärtliche Liebe und das innigste Mitgefühl des Fellahmädchens verkündeten.

Cubina war fortgegangen, um den Aufseher und die wahrscheinlich in der Nähe sich verborgen haltenden Hausdiener aufzusuchen.

Eine Zeit lang schienen die drei im Kiosk die einzigen Lebenden in der Nähe des niedergebrannten Herrenhauses von Willkommenberg zu sein, denn die unerwartete Rückkehr der Räuber hatte vielleicht noch größeren Schrecken verbreitet, als ihr erster Überfall und die Bevölkerung der Pflanzung, sowohl Weiße als auch Schwarze, hatten sich nach noch verborgeneren Plätzen geflüchtet als vorher. Die Weißen, der Aufseher, die Buchhalter und alle Übrigen glaubten sogar, es sei ein Sklavenaufstand ausgebrochen und hatten deshalb die Pflanzung gänzlich verlassen und sich nach Montegobay geflüchtet.

Unter diesen vom spanischen Schrecken Ergriffenen oder vielmehr an der Spitze von ihnen befand sich auch der ausgezeichnete, durch seine Tapferkeit und Entschlossenheit hervorragende englische Gast auf Willkommenberg, der vortreffliche Stutzer und Cockney Herr Montagu Smythje. Als er nach dem Wegzug der die Räuber verfolgenden Truppe sich allein befand, hatte er sich schleunigst in die Ställe zurückgezogen und sich hier mit Quashies Hilfe ein gesatteltes Reitpferd zu verschaffen gewusst. Ohne sich damit aufzuhalten, sich von seiner zuckerhaltigen Bekleidung zu befreien, hatte er dies bestiegen und war in höchster Eile zum Hafen hinabgesprengt, in dem er seinen festen Entschluss verkündete, mit dem ersten Schiff zu seiner teuren Metropole zurückzukehren. Smythje hatte genug gesehen von Jamaika und seinen Kreolen und mehr als genug von seinen scheußlichen Schwarzen.

Cubina, der mit dem ihm stets wie ein kleines Teufelchen in den Weg tretenden Quashie, dem einzigen von ihm zu entdeckenden lebenden menschlichen Wesen auf ganz Willkommenberg zu dem Kiosk zurückkehrte, berichtete die Tatsache, dass Smythje sich davongemacht hatte, die indes bei allen im Kiosk Befindlichen weder Verwunderung noch eine Antwort hervorrief. Ungeachtet der mancherlei Qualen, die er dem eifersüchtigen Herbert Vaughan bereitet und ungeachtet der wichtigen Rolle, die er in der Lebensgeschichte der jungen Kreolin gespielt hatte, wurde der große Herr von Schloss Montagu jetzt doch nicht einmal mehr als noch zu ihnen wirklich gehörig betrachtet. Niemand sprach von ihm, niemand dachte an ihn und mit vollkommener Gleichgültigkeit hörten Herbert und seine Cousine den Bericht, er habe sich davon gemacht.

Als der Marone seinen Bericht im Kiosk abgestattet hatte, ging er in Begleitung Quashies zu der Stelle zurück, wo die Leiche des Custos auf der Tragbahre lag, um sich genauer davon zu überzeugen, welche von seinen Leuten im letzten Kampf gefallen waren und um sich noch näher davon zu unterrichten, welchen Weg die Räuber bei ihrem letzten Abzug einschlugen.

Gerade als der Marone sich vom Kiosk entfernte, schlich eine menschliche Gestalt ganz leise und heimlich durch das hintere Gartenpförtchen und näherte sich verstohlen dem Sommerhaus. Ungeachtet eines weiten, sie umhüllenden Mantels war die Gestalt doch leicht als eine weibliche von sehr entwickelten Formen zuerkennen. Wenn das noch immer von Zeit zu Zeit auflodernde Feuer einen frischen Balken ergriff und dann heller leuchtete, vermochte man ein sehr schönes Gesicht zu unterscheiden, das indes durch den offen hervortretenden Ausdruck von Zorn und Wut aufs Schreckliche entstellt, ja fast zu einem hässlichen und abschreckenden umgewandelt war.

Diese Gestalt war die der schönen Jüdin Judith Jessuron. Der Grund ihres plötzlichen Erscheinens hier ist gewiss leicht erklärlich, wenn man sich erinnert, von welcher eifersüchtigen Wut ihr ganzes Wesen seit dem rätselhaften Verschwinden Herberts ergriffen war.

Jetzt hatte diese Wut der quälenden Eifersucht alles Maß überschritten und trieb sie mit blinder rücksichtsloser Gewalt zum Äußersten.

In kurzer Zeit hatte Judith einen Stand eingenommen, der ihr einen unbehinderten Blick in das Innere des Kiosks gewährte. Was sie da sah, war freilich nicht geeignet, das fürchterliche, sie verzehrende Feuer der Eifersucht zu verringern oder gar zu löschen. Im Gegenteil fachte dies die wahnsinnige Raserei ihrer wütenden Leidenschaft nur noch mehr an und vernichtete auch den letzten Rest einer einigermaßen ruhigen und kalten Überlegung.

Käthchen Vaughan hatte sich bereits ein wenig von dem fürchterlichen Schrecken erholt, den ihr der plötzliche Anblick der Leiche ihres Vaters eingejagt hatte. Sie saß aufrecht auf dem Bambussitz im Kiosk. Herbert saß ihr zur Seite, indem er seinen Arm um ihren Leib geschlungen hielt und ihr zärtlich in die milden, tränen feuchten Augen sah. Beider Haltung war der Art, dass es auch dem unaufmerksamen Beobachter sofort klar werden musste, zwischen ihren Herzen sei ein festes Band geknüpft, das festeste auf Erden, das Band gegenseitiger Liebe!

Dies wurde Judith gleich im ersten Augenblick vollkommen klar.

Ohne selbst nur solange zu verweilen, dass sie die ihr nicht unbekannte braune Afrikanerin bemerkt hätte, die den Eingang zum Kiosk zu bewachen schien, sprang sie wie eine wilde, endlich ihre Beute erblickende Tigerin in den Kiosk und stand herausfordernd mit trotzigen, wutschäumenden Gebärden plötzlich vor den beiden nichts weniger als dies erwartenden Liebenden.

»Herbert Vaughan!«, schrie sie im höchsten Sturm entfesselter Leidenschaft. »Verräter! Meineidiger Schurke! Du hast mich betrogen, du hast …«

»Das ist nicht wahr, Judith Jessuron!«, rief der junge Mann, sie unterbrechend, sobald er sich von seinem ersten Erstaunen erholt hatte und von seinem Sitz aufgesprungen war. »Das ist nicht wahr! Ich, ich habe niemals beabsichtigt …«

»Ha!«, kreischte die Jüdin und ihre Wut steigerte sich offenbar noch bei diesem Versuch einer Auseinandersetzung, »niemals beabsichtigt, was?«

»Nie beabsichtigt, Sie zu heiraten. Ich habe Ihnen nie versprochen …«

»Falsch!«, schrie Judith im höchsten Zorn, ihn nochmals unterbrechend. »Aber das ist jetzt alles ganz gleich. Alles ist vorüber! Und da Sie nie beabsichtigt haben, mich zu heiraten, so soll auch diese niemals Ihre Frau werden.«

Bei dieser keineswegs ganz schwer verständlichen Drohung steckte sie die rechte Hand unter den sie umhüllenden Mantel und zog einen glänzenden Gegenstand heraus, eine mit Silber und Elfenbein ausgelegte Pistole, die, wenn auch nur klein, dennoch groß genug war, um in solcher Nähe tödlich wirken zu können.

Sofort wurde die Pistole angelegt, nicht auf Herbert, sondern auf seine Gefährtin. Im selben Augenblick fiel auch der Schuss und erfüllte den Kiosk mit Pulverdampf.

Als dieser sich verzog und zugleich eine aufflackernde Flamme von dem brennenden Gebäude her das Gemach im Kiosk hell erleuchtete, lag eine weibliche Gestalt am Boden, die mit dem Tod rang. Wirklich war sie auch im nächsten Augenblick bewegungslos und starr, eine Leiche.

Wohl hatte der Schuss tödlich gewirkt, aber sein Opfer war nicht Käthchen Vaughan, sondern Judith Jessuron selbst!

Die Ursache dieser verhängnisvollen, zu Käthchens Heil und zum eigenen Verderben der Mörderin ausfallenden Verwechslung war das treue Fellahmädchen. Als sie das Leben ihrer Herrin von so dringender Gefahr bedroht gesehen hatte, war sie von ihrem Sitz neben der Tür aufgesprungen, hatte sich mit außerordentlicher Schnelligkeit und Behändigkeit auf die Jüdin gestürzt, deren Arm ergriffen, um ihn von dem beabsichtigten Ziel abzubringen und hierbei die Mündung der Pistole auf sie selbst gewendet.

Auf diese Weise hatte Judith Jessuron infolge eines keineswegs von Yola beabsichtigten Zufalls ihr Leben durch einen unfreiwilligen Selbstmord beschlossen.