Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Fantomas – Kapitel 17

In Saint-Anthony’s Pig

»Bezahl mir einen Krug, und ich werde dir zuhören«, sagte Hogshead Geoffroy zu seiner Schwester.

Nach zahlreichen Besuchen in den vielen Bars und Trinklokalen, die den Markt umgaben, nahmen sie endlich im Saint-Anthony’s Pig, eine der beliebtesten Tavernen im Viertel, ein spätes Abendessen zu sich. Geoffroy hatte sich damit abgefunden, auf das Ergebnis der Untersuchung warten zu müssen, da dieses erst am folgenden Tag bekannt gegeben werden sollte.

 

***


 

In den letzten Tagen war eine neue und originelle Attraktion vor dem Saint-Anthony’s Pig aufgestellt worden. Nach den offiziellen Nachforschungen, die seiner Entdeckung des ertrunkenen Körpers im Fluss folgten, war Bouzille nach Paris gekommen, um den Eiffelturm zu sehen. Er hatte sich in seinem Reiseplan um eine Woche verspätet, da er in dieser Zeit wegen eines geringfügigen Vergehens in Orleans eingesperrt worden war. Beim Eintreffen in die Hauptstadt hatte Bouzilles außerordentliche Equipage Aufsehen verursacht. Als der biedere Kerl unter völliger Missachtung des starken Verkehrs durch die überfüllten Straßen der Stadt galoppierte, wäre er beinahe wieder verhaftet und ins nächste Gefängnis gebracht worden. Sein Gespann war für achtundvierzig Stunden beschlagnahmt worden. Da aber nichts gegen den Landstreicher zu beanstanden war, hatte man ihn nur gebeten, sich rarzumachen und es nicht wieder zu tun.

 

***

 

Bouzille wusste nicht, was er daraus machen sollte. Aber während er die beiden Wagen hinter seinem Dreirad in Richtung Champ de Mars schleppte, von wo er endlich in der Lage wäre, den Eiffelturm zu betrachten, lernte er zufällig den Herausgeber des Auto kennen, welchem er im Austausch für eine Flasche Wein im nächsten Café unbefangen seine Geschichte anvertraute. Ein sensationeller Artikel über den die Welt bereisenden Vagabunden erschien in der nächsten Nummer dieser berühmten Sportzeitschrift, und als Bouzille aufwachte, fand er, dass er berühmt sei.

Als Nächstes geschah etwas Außergewöhnliches für Bouzille. François Bonbonne, der Gastwirt des Saint-Anthony’s Pig, sah scharfsinnig vorher, dass dieser ursprüngliche Charakter mit seiner bemerkenswerten Equipage eine besondere Anziehungskraft darstellen würde. Er verdingte ihn dazu, sich jeden Abend vor dem Establishment von elf bis drei Uhr aufzustellen. Im Gegenzug solle er Vollpension und ein Salär von fünf Franc pro Tag erhalten.

Es muss nicht betont werden, dass Bouzille mit diesem Angebot mehr als zufrieden war. Doch wenn er sich auf der Türschwelle kalte Füße holte, verließ er langsam den Gehsteig und begab sich in das Kellergeschoss, wo er großzügig seine allabendlichen fünf Franc an den Wirt im Tausch gegen seine Zecherei zurückgab.

 

***

 

Im Keller des Saint-Anthony’s Pig wurde die Atmosphäre immer düsterer und der Lärm lauter. Es war etwa ein Viertel vor zwei. Die hohen Tiere und Lebemänner, welche eine Schüssel Zwiebelsuppe im beliebten Café zu sich genommen hatten, weil dies für die letzte angemessene Maßnahme darstellte, hatten sich zurückgezogen. Einige blasse und schäbige Tänzer hatten ihre Show gegeben. Weiteren zehn Minuten später, nachdem die wohlhabenden Kunden die Lokalität verlassen hatten, würde der Raum, in welchem das Abendessen eingenommen worden war, wieder sein natürliches Aussehen angenommen haben, und auch die Letzten auf den Weg nach Hause sein. François Bonbonne begleitete die letzten feinen Pinkel die schmale Wendeltreppe hinauf, die vom Keller zum Erdgeschoss führte. Dort stand er, mit seiner kräftigen Gestalt den einzigen Ausgang vollständig ausfüllend, und deutete salbungsvoll darauf hin, ob vielleicht noch jemand einen Auftrag für einen Glühwein geben wolle.

Berthe saß in einer Ecke neben ihrem Bruder, den die Wärme des Raumes und seine zahlreichen Getränke schläfrig gemacht hatten, und dachte, dass es ein günstiger Augenblick sei, ihm von ihrem Plan zu erzählen. Bevor er gesprächig oder streitsüchtig wurde, begann sie zu erklären.

»Es gibt nicht viel zu tun, aber ich brauche einen starken Mann, wie du es bist.«

»Irgendwelche Fässer irgendwo hinrollen?«, fragte er mit mächtiger Stimme.

Berthe schüttelte ihren Kopf. Ihr Blick richtete sich mechanisch auf einen kleinen jungen Mann mit einem sprießenden Bart und einem bleichen Gesicht, das ihnen gerade zugewandt war, und der schüchtern eine Portion Sauerkraut bestellte.

»Ich möchte einige Stäbe aus einem Fenster entfernt haben. Es sind Eisenstangen, die in Stein eingelassen sind, aber der Stein ist abgenutzt und die Stäbe sind sehr verrostet. Jeder könnte sie mit ein wenig Kraft herausreißen.«

»Und das ist alles?«, fragte Geoffroy misstrauisch.

»Ja, das ist alles.«

»Dann bin ich sehr froh darüber, dir helfen zu können. Ich nehme an, dass es dir etwas wert sein wird, nicht wahr?« Er brach kurz ab und bemerkte, dass ein Mann, der in der Nähe saß, aufmerksam auf das Gespräch zu hören schien.

Berthe folgte seinen Augen und wandte sich dann mit einem Lächeln an ihren Bruder. »Das geht schon in Ordnung. Ich habe nichts dagegen und kenne diesen Mann.« Zur Bekräftigung ihrer Aussage streckte sie der Person, welche sie auszuspionieren schien, ihre Hand entgegen. »Guten Abend, Monsieur Julot. Wie geht es Ihnen? Habe lange von Ihnen nichts gehört und Sie auch nicht bemerkt, wie Sie hereingekommen sind.«

Julot schüttelte ihre Hand und unterhielt sich, ohne jedes weitere Interesse an ihr zu haben, mit seinem Begleiter, einem glatt rasierten Kerl.

»Rede weiter, Billy Tom«, sagte er im tiefen Ton. »Sag mir, was passiert ist.«

»Nun, im Royal Palace war der Teufel los, wegen dieses … Unfalls, wissen Sie. Natürlich war ich nicht in diesen Fall verwickelt. Ich bin nur Dolmetscher und hänge an meinem Beruf. Aber drei Wochen nach diesem Vorfall wurde Muller infolge der Tür plötzlich hinausgeworfen, weil er diese für den Kerl, der den Raub begangen haben muss, geöffnet hatte.«

»Muller. Muller?«, sagte Julot, sichtbar grübelnd. »Wer ist Muller?«

»Na, der Vorsteher im zweiten Stock.«

»Oh, ah, ja. Und wer hat sich an ihn gewandt?«

»Ich glaube, sein Name ist Juve.«

»Oh … ho!«, murmelte Julot vor sich hin. »Das habe ich mir gedacht!«

Im Eingangsbereich war ein Geräusch zu vernehmen. Zwei Personen kamen die Wendeltreppe nach unten gelaufen. Der Begrüßung nach zu urteilen, waren diese gern gesehen. Es handelte sich dabei um die stadtbekannte Ernestine und Mealy Benoît, der sehr betrunken war.

Benoît torkelte von einem Tisch zum anderen, lehnte sich an jeden Kopf und jede Schulter, die ihm in die Quere kamen, und erreichte einen leeren Platz in einem Salon, auf den er sich drängte. Dabei zerquetschte er fast einem blassen jungen Mann, dem ein Bart sprieß. Der Bursche traute sich nicht zu protestieren, scheinbar in Furcht vor des Nebenmannes Größe, und überließ dem Neuankömmling den Platz, welchen er wollte. Benoît schien den bescheidenen kleinen Kerl nicht zu bemerken, aber Ernestine hatte Mitleid mit ihm und versicherte, dass sie sich um ihn kümmern würde.

»Alles klar, Kleiner«, sagte sie. »Mealy zerquetscht dich schon nicht. Und wenn er irgendwelche seiner Spiele an dir versucht, wird sich Ernestine um dich kümmern.« Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände, küsste liebevoll seine Stirn und ignorierte die wütenden Proteste von Mealy Benoît. »Er ist ein lieber kleiner Kerl. Ich mag ihn«, sagte sie in die Runde. Wie heißt du, Kleiner?«

Der Junge errötete zu den Ohrenspitzen. »Paul«, murmelte er.

François Bonbonne, der Besitzer, mit seinem gewohnten scharfen Blick auf die Wirtschaft, kam herbei und setzte ein Glas seines berühmten Glühweins, von dem er bereits gesprochen hatte, vor Mealy Benoît. Hinter Bonbonne kam Bouzille, der auf dem Bürgersteig kehrt gemacht hatte und in das Lokal zurückkam, um für seine fünf Franc zu essen und zu trinken, und vielleicht auch mehr, was sein Salär eigentlich hergab.

Benoît erblickte Hogshead Geoffroy und bot sofort an, mit ihm anzustoßen. Er schob ein Glas auf ihn zu und forderte ihn auf, es in aller Ruhe in das dampfende Gefäß zu tauchen. Aber Geoffroy wärmte sich unter dem Einfluss von Alkohol auf und wurde beim Anblick von Mealy Benoît urplötzlich zornig. Falls Benoît den ersten Platz bekommen sollte, wäre das eine Ungerechtigkeit, dachte er, denn er, Geoffroy, war mit Sicherheit der stärkere Mann. Außerdem begann der stämmige Hogshead sich zu fragen, ob sein Rivale vielleicht nicht eine abscheuliche Verschwörung gegen ihn geplant und das berühmte Stück Orangenschale in den Weg gelegt, für die Geoffroy jedoch gewonnen hätte. So bot Geoffroy, sehr betrunken, Benoît, der nicht nüchterner war, den groben Affront an, nicht mit ihm anzustoßen!

»Warum bist du es?«, rief Bouzille in einer so freudigen Überraschung, dass sich alle umdrehten, um zu sehen, wen er ansprach.

Julot und Berthe sahen sich an.

»Warum, es ist der unerfahrene Mann von vorhin«, sagte die Krankenschwester des Irrenhauses zu ihrem Begleiter.

Und dieser stimmte ihr hinreichend launisch zu. »Ja, es ist ihm recht.«

Bouzille nahm die Aufmerksamkeit nicht zur Kenntnis, die er provoziert hatte, und schien nicht zu bemerken, dass der unerfahrene Mann alles andere als erfreut darüber schien, erkannt zu werden.

»Ich habe dich schon einmal gesehen, meine ich«, fuhr er fort. »Wo bin ich dir schon mal begegnet?«

Der Mann antwortete nicht. Er zog es vor, sich in ein ernstes Gespräch mit dem Freund, den er mitgebracht hatte, im Speisesaal zu vertiefen, eine heruntergekommene Person, die eine Gitarre trug. Aber Bouzille war nicht aufzuhalten, und plötzlich rief er aus, vollkommen gleichgültig gegenüber dem, was seine Nachbarn denken würden.

»Ich weiß: Sie sind der Landstreicher, der mit mir unten in Lot verhaftet wurde! Der Tag dieses Mordes … Sie wissen … der Mord an der Marquise de Langrune!«

Bouzille hatte in seiner Aufregung den unerfahrenen Mann am Ärmel erwischt.

Doch der Mann schüttelte ihn ungeduldig ab und knurrte wütend: »Nun, und was ist damit?«

 

***

 

Für einige Minuten hatten Hogshead Geoffroy und Mealy Benoît drohende Blicke ausgetauscht. Geoffroy hatte seinem Verdacht Ausdruck verliehen, und gute Freunde hatten es nicht unterlassen, Benoît seine Worte zu vermelden. So sehr sie sich durch den Alkohol aufputschten, schien es, dass die beiden Männer bald zu Handgreiflichkeiten übergehen würden. Ein dumpfes Gemurmel strömte durch den Raum und kündigte die nahende Auseinandersetzung an. Berthe, ängstlich um ihres Bruders willen, und ein wenig ängstlich, tat alles, um Geoffroy dazu zu bringen, den Raum zu verlassen. Obwohl sie versprach, für eine beliebige Anzahl von Getränken anderswo zu zahlen, weigerte er sich, von der Bank zu weichen. Er saß zusammengekauert in einer Ecke.

 

***

 

Als er Bouzille und seine ärgerliche Geschwätzigkeit endlich losgeworden war, setzte der junge Mitarbeiter seine Unterhaltung mit seinem Freund mit der Gitarre fort.

»Es ist ziemlich seltsam, dass er keine Spur eines Akzents hat«, bemerkte Letzterer.

»Oh, es ist nichts für einen Kerl wie Gurn, französisch wie ein Franzose zu sprechen«, sagte der junge Mann leise. Dann blieb er nervös stehen. Ernestine ging in der Kneipe herum, unterhielt sich mit den anderen und servierte Getränke. Er bildete sich ein, dass sie auf das hörten, was er sagte.

Aber ein anderes Gespräch war in einem Teil des Raumes zu vernehmen.

»Wenn der Monsieur seine Stärke zur Schau stellen möchte, ist sicherlich jemand bereit, es mit ihm aufzunehmen.«

Hogshead Geoffroy hatte ihn herausgefordert!

Im Raum wurde es still. Nun war Mealy Benoît an der Reihe, zu antworten. Benoît trank sein vor ihm stehendes Glas aus, schluckte langsam den Rest der roten Flüssigkeit hinunter – man kann nicht zwei Dinge auf einmal tun – stellte das leere Glas auf den Tisch, wischte sich die Lippen am Ärmel ab und wandte seinen gewaltigen Kopf der Ecke zu, in welcher Geoffroy zusammengekauert saß. In einem donnernden, gediegenen Ton forderte er den anderen heraus, indem er sagte: »Würde Monsieur so nett sein, seine letzte Bemerkung zu wiederholen?«

 

***

 

Ernestine rückte verstohlen an Julots Seite, gab vor, nur an dem Streit zwischen Geoffroy und Benoît interessiert zu sein und sprach, ohne ihn dabei anzusehen: »Der blasse Mann mit dem grünlichen Teint sagte zu dem Mann mit der Gitarre: Er ist es, wegen der Brandwunde in seiner Hand.«

 

***

 

Julot erstickte einen Fluch und ballte instinktiv die Faust, aber Ernestine war schon weitergegangen und war bereits rau scherzend bei dem jungen Mann mit dem sprießenden Bart. Julot saß mit düsterem Gesicht und wütenden Augen da und antwortete nur knapp auf schroffe Bemerkungen seines unmittelbaren Nachbarn Billy Tom. Marie, die Dienstmagd, kam an ihm vorbei. Er gab ihr ein Zeichen, um zu ihm zu kommen.

»Sag mal, Marie«, sprach er und deutete auf das Fenster, das hinter ihm war. »Wohin führt dieses Fenster?«

Das Mädchen dachte einen Moment lang nach. »In den Keller«, sagte sie. »Dieser Raum ist im Keller.«

»Und der Keller?«, fuhr Julot fort. »Wie kommst du da raus?«

»Das kannst du nicht«, antwortete die Dienstmagd. »Es gibt keine Tür. Du musst hier durchsteigen.«

Da er sich unbehaglich fühlte, musterte Julot den langen tunnelartigen Raum, an dessen äußersten Ende er saß. Es gab nur einen Weg zum Ausgang, die schmale Wendeltreppe hinauf, welche ins Erdgeschoss führte. Am Fuß dieser Treppe befand sich der Tisch mit dem grünlich aussehenden Mann und dem Mann mit der Gitarre.

 

***

 

Ein Teller, von Hogshead Geoffroy auf Mealy Benoît geworfen, zerbrach an der gegenüberliegenden Wand. Alle sprangen auf, die Frauen schrien, die Männer fluchten. Die beiden Marktträger standen sich gegenüber, Hogshead Geoffroy schwang einen Stuhl, Benoît versuchte, die Marmorplatte von einem Tisch zu reißen, um sie als Waffe zu benutzen. Das Handgemenge wurde allgemein, Teller zerschmetterten auf dem Boden und Teile des Abendessens blieben an der Decke kleben.

Plötzlich fiel ein Schuss. Aber so schnell, wie er abgefeuert worden war, hatten die zwei Männer, welche unmittelbar an der Wendeltreppe saßen, gesehen, wer diesen abgefeuert hatte. In diesen wenigen Minuten hatten allerdings beide mysteriösen Individuen ihre Blicke nie von Julot abgewendet.

Julot, den Berthe von seinem Äußeren her für einen ehrlichen Viehhändler gehalten hatte, war zweifellos ein ausgezeichneter Schütze. Nachdem er beobachtet hatte, dass der Raum von einem einzigen Leuchter, aus drei elektrischen Lampen bestehend, erleuchtet war und dass der Strom nur durch zwei Drähte entlang des Gesimses gespeist wurde, hatte Julot die Drähte anvisiert und sie mit einem einzigen Schuss in zwei Teile getrennt!

Unmittelbar nach dem Schuss wurde der Raum in absolute Dunkelheit getaucht. Ein vollkommen unglaublicher Aufschrei folgte, Männer und Frauen kämpften zusammen und schrien und trampelten sich gegenseitig nieder. Geschirr und Abendessen fielen von den Anrichten und Tischen auf den Boden.

In all dem Lärm ertönte plötzlich ein heiser Schmerzensschrei: »Hilfe!« Gleichzeitig hörte Berthe, die unter der Menge verloren wirkte, einen gemurmelten Ausruf in ihrem Ohr und fühlte, dass zwei Hände ihren ganzen Körper begrapschten, als ob sie versuchten, sie zu identifizieren. Die junge Krankenschwester war die einzige Frau im Raum, die einen Hut trug. Vor Schreck halb ohnmächtig, fühlte sie, wie sie aufgehoben und auf eine Bank gestoßen wurde.

Dann flüsterte jemand mit weinerlicher Stimme: »Du sollst Nummer 25, die Rambert, nicht helfen, um zu entkommen.

Berthe war so völlig erstaunt, dass sie ihren Schrecken so weit überwand, dass sie eine Frage herausstotterte: »Aber was … aber wer …?«

Immer noch leise, aber noch dringender wurde die Stimme wieder hörbar. »Fantômas verbietet es dir, es zu tun! Und wenn du ungehorsam bist, stirbst du!«

Die Krankenschwester fiel zurück auf die Bank, halb ohnmächtig vor Schreck. Der Streit im Speisesaal verschlimmerte sich. Drei Männer kämpften nun, der grünlich aussehende Mann, im Griff mit zwei auf einmal. Er schien die Schläge nicht zu spüren, aber mit einer Kraft, die weit über das Gewöhnliche hinausging, packte er einen Arm und glitt mit den Händen über den Ärmel, ließ den Arm nicht los, bis er das Handgelenk erreichte. Als er die geballte Faust öffnete, legte er seine Finger auf die Handfläche. Ein kleiner Ausruf des Triumphes entkam ihm, und gleichzeitig stieß der Besitzer der Hand einen Ausruf des Schmerzes aus, weil die Finger seines Gegners eine noch rohe Wunde auf der hohlen Hand berührt hatten.

Aber in diesem Augenblick war sein Bein zwischen zwei kräftigen Knien gefangen, und der geringste Druck hätte es beinahe gebrochen. Der Kerl war gezwungen, die Hand loszulassen, die er hielt. Er fiel mit seinem Widersacher zu Boden und dachte einen Augenblick, er sei verloren.

Aber im selben Augenblick ließ sein Gegner ihn wiederum fallen, nachdem er von einem weiteren dritten Kämpfer überrascht worden war, der sich in den Kampf einmischte, indem er die ersten beiden trennte und sich einem wütenden Angriff auf den Mann widmete, den der Mann mit dem grünlichen Teint zu erfassen versucht hatte. Dieser reichte der Person, die ihn vor weiteren Attacken gerettet hatte, schnell die Hand und war überrascht, als er den jungen Mann mit dem Flaumbart erkannte. Daraufhin fasste er ihn fest am Hals und ließ ihn nicht entkommen.

 

***

 

In dem Gewühl waren die Kombattanten zur Treppe gedrängt worden. An diesem schmalen Eingang in den Saal wurden Leiber unter den Füßen zertrampelt, durchdringende Schreie zerrissen die Luft. François Bonbonne hatte nicht den geringsten Versuch unternommen, sich einzumischen. Er wusste genau, wie es bei solchen Problemen bestellt war. Er war in eine Straßenecke gegangen und hatte den diensthabenden Polizisten zur nächsten Polizeistation geschickt, um Hilfe zu holen. Nachdem die ersten Gendarmen eingetroffen waren, führte François Bonbonne sie hinter dem Tresen des Lokals und zeigte ihnen den Feuerwehrschlauch. Mit der Geschicklichkeit, die sie durch langes Üben erworben hatten, rollten sie rasch den Schlauch aus, führten ihn in den schmalen Zugang zur Treppe ein, drehten den Wasserhahn auf und rückten vor, um jeden im Speisesaal nass zu spritzen.

Die unerwartete Abkühlung brachte die Raufbolde plötzlich zum Stoppen, trennte alle Streithähne und trieb den heulenden und kreischenden Mob zum hinteren Ende des Raumes zurück. Der Einsatz dauerte gut fünf Minuten, und als die Gendarmen glaubten, dass die Gäste des Saint-Anthony’s Pig ausreichend beruhigt waren, leuchtete der Sergent mit einer Laterne, die der Eigentümer für ihn bereitgestellt hatte, in den Speisesaal und befahl der anwesenden Gesellschaft, einer nach dem anderen aufzustehen.

Da Widerstand zwecklos war, gehorchten die Gäste. Als sie langsam auf der Wendeltreppe emporkletterten, verhafteten die Gendarmen sie oben, legten ihnen Handschellen an und schickten sie paarweise zur Gendarmeriestation. Als der Sergent davon ausging, dass jeder heraufgekommen war, ging er hinunter in den Speisesaal, um sich zu vergewissern, dass sich niemand dort versteckte. Aber der Raum war nicht ganz leer. Ein bedauernswerter Mann lag auf dem Boden in seinem eigenen Blut. Es war der Mann mit der Gitarre. Ein Messer war durch seine Brust gestoßen worden!

 

***

 

Das Paar, bestehend aus dem grünlichen Mann und dem jungen Mann mit dem sprießenden Bart, von dem sein Begleiter nicht ein einziges Mal loslassen und diesen während des Kampfes im Speisesaal erkannt hatte, wurde auf die Polizeiwache gebracht. Der Beamte, welcher die Personalien der Gefangenen aufnahm, unterdrückte nur mit Mühe einen Ausruf der Überraschung, als der Mann mit dem grünlichen Teint einen Ausweis vorwies und ihm ein paar Worte ins Ohr flüsterte.

»Geben Sie diesen Monsieur sofort frei«, sagte der Beamte. »Was den anderen angeht …«

»Was den anderen betrifft«, unterbrach der grüne Mann, »lassen Sie ihn auch freundlicherweise frei. Ich möchte ihn bei mir behalten.«

Der Beamte verneigte sich zustimmend, und beiden Männern wurden sofort die Handschellen abgenommen. Der junge Mann starrte auf die Person, die eine Minute zuvor sein Begleiter in Fesseln gewesen war, und war im Begriff, ihm zu danken, aber der andere ergriff ihn fest am Handgelenk, gleichsam, um ihn von der Unmöglichkeit einer Flucht zu warnen, und führte ihn aus der Polizeistation.

Auf der Straße begegneten sie dem Sergent mit einem Gendarmen, der den unglücklichen Mann mit der Gitarre hereinbrachte, der noch schwach atmete und in dem die Beamten einen Inspecteur erkannt hatten. Ohne den jungen Mann loszulassen, beugte sich der grüne Mann zum Sergent vor und führte eine kurze, aber lebhafte Unterhaltung mit ihm.

»Ja, Monsieur, das ist alles«, sagte der Sergent respektvoll. »Ich habe sonst niemanden sonst.«

Der grüne Mann stampfte mit dem Fuß auf. »Mein Gott! Gurn ist weg!«

 

***

 

Der grüne Mann schleppte seinen Begleiter, der an allen Gliedern zitterte und völlig ratlos war, was ihm die Zukunft bringen würde, schnell in Richtung der Rue Montmartre. Plötzlich blieben sie unter dem Licht einer Straßenlaterne an der Außenseite der Pfarrkirche Saint-Eustache. Der Mann stand direkt vor seinem Gefangenen und schaute ihm voll in die Augen.

»Ich bin Juve«, sagte er, »der Detektiv!« Als der junge Mann ihn in stummer Bestürzung anblickte, fuhr Juve fort und betonte jedes seiner Worte mit einem süffisanten Lächeln, das über sein Gesicht flimmerte. »Und Sie, Mademoiselle Jeanne – Sie sind Charles Rambert!«