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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang 10

Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang
Ein Märchen von Gotthold Kurz
Nürnberg, bei Gottlieb Bäumler 1837

Zehntes Kapitel

Jacob mitten im Kriegsgetümmel. Kurierritt durch die Lüfte.

Die Reise, von der schon lange vorher gesprochen worden war, hatte indessen wegen der ausgebrochenen Kriegsunruhen von einer Zeit zur anderen aufgeschoben werden müssen, besonders, da das Ziel derselben der unmittelbare Schauplatz des Krieges war. Nun kam der Herbst herbei, und mit demselben die Nachricht, dass zwischen den Krieg führenden Parteien ein Waffenstillstand mit Aussicht auf einen nahe bevorstehenden Frieden beschlossen worden sei. Diesen glaubte die Familie um so mehr benutzen zu müssen, als der Zweck der Reise ein dringender für sie war. Es wurde also schleunig aufgepackt, und an einem schönen Herbstmorgen fuhr der Wagen, mit vier Postpferden bespannt, rasch von dannen. Welch ein Entzücken für Marianne und ihren kleinen Schützling, der nun seine alte Reiselust wieder nach Wunsch befriedigt sah! Die ersten beiden Tage gingen ohne alle Störung vorüber, dann aber trafen sie mit Truppenzügen zusammen, die immer häufiger und zahlreicher wurden, je näher sie der holländischen Grenze kamen. Und jetzt überraschte sie mit einem Mal die Kunde von einer schlimmen Wendung der öffentlichen Angelegenheiten und von den bereits wieder ausgebrochenen Feindseligkeiten. Ein blutiges Treffen war soeben vorgefallen, der Feind in der Nähe! Sie sahen sich bald mitten in der Retirade des niederländischen Heeres verwickelt. Was sollten sie tun? An ein Umkehren war nicht zu denken, ebenso wenig an einen sicheren Aufenthalt, da, wo sie waren. So mussten sie, oft in Verlegenheit, nur um Postpferde zu bekommen, mitten im Getümmel von Fußvolk, Reiterei und langen Wagen- oder Geschützzügen, dem Strom folgen und es noch für ein Glück halten, den nächsten befestigten Platz erreicht zu haben, wo bald das traurige Bild des Krieges mit allen seinen Schrecken vor ihre Augen trat.

Der Feind war mit starker Macht dem weichenden Heer auf dem Fuß gefolgt. Schon wälzten sich seine dunklen Massen von mehreren Seiten gegen die Festung heran und erhellten die Nächte mit zahllosen Wachtfeuern und brennenden Dörfern. Vom Land flüchtete sich alles zu der Stadt, die bald darauf geschlossen und mit furchtbarem Ernst zur Gegenwehr gerüstet wurde. Bald war sie rings umher vom Feind berannt. Er sandte einen Trompeter an das Tor und ließ zur Übergabe auffordern. Der wackere Befehlshaber der Festung aber erklärte, dass er sich lieber unter den Trümmern derselben begraben lassen als abziehen wolle. Da begannen die feindlichen Kanonen zu donnern, und von den Wällen und Mauern krachte das Geschütz der Festung, dass die Fenster zersprangen und die Ziegel von den Dächern fielen! Immer heftiger drang der Feind heran, Granaten und Bomben rauschten durch die Lüfte und platzten mit schrecklichem Knallen. Bald hier, bald dort ging Feuer auf! Die Belagerten aber waren unerschrocken überall bei der Hand, wo es galt, löschten die Feuersbrünste, stritten an den Vorwerken und schickten einen mörderischen Hagel von Kugeln auf den Feind, wo er sich in der Nähe blicken ließ.

So ging es mit wenig Unterbrechung Tage, ja Wochen fort. Bald war dieser, dald jener im Vorteil. Jetzt aber fiel eine Bombe auf das Getreidemagazin nieder, und dieses ging, ehe Rettung möglich war, ganz in Feuer auf. Desselben Tages noch traf eine andere Bombe den Pulverturm, der mit schrecklichem Krachen in die Lüfte flog. So waren mit einem Mal die Mittel zur Verpflegung und Verteidigung vernichtet! Der schwere Unfall ließ nun alle Hoffnung zur weiteren Behauptung des Platzes schwinden. Abermals erschien der Trompeter vor dem Tor und verkündete, dass, wenn in der Zeit von 24 Stunden die Stadt sich nicht ergebe, sie im Sturm eingenommen und alles, was waffenfähig angetroffen würde, ohne Pardon niedergemacht werden sollte.

Der Kommandant aber versammelte seine Obersten und Hauptleute und hielt Rat mit ihnen, was zu tun sei. Nach dem Geständnis eines feindlichen Gefangenen befand sich ein starkes holländisches Korps auf seinem Marsch in der Nähe. Es kam also alles darauf an, ob diesem von der gegenwärtigen Bedrängnis Nachricht gegeben werden konnte. Ader wie war das auszuführen? Die Festung war vom wachsamen Feind eng eingeschlossen und jedem, der sich nicht unsichtbar machen konnte war es unmöglich, sich durchzuschleichen. Dennoch fanden sich nacheinander zwei herzhafte Burschen, die, sich von den großen Versprechungen des Kommandanten gereizt, herbeiliefen, das Wagestück zu unternehmen. Die armen Schelme! Einer von ihnen wurde sogleich erwischt und im Angesicht der Besatzung von den Feinden aufgeknüpft. Den anderen, der schon weiter gekommen war, holten sie auf dem Weg ein, und es ging ihm nicht besser als seinem Kameraden. Da war nun erst große Verlegenheit in der Festung, denn die Bedenkzeit, welche die Besatzung erhalten hatte, war kurz. Kein Mensch war mehr zu finden, der sich zu einem so verzweifelten Wagstück brauchen lassen wollte.

In solcher Not ließ sich unerwartet ein alter Stabschirurgus, der mit dem Baron in einem Haus wohnte und auch ein großer Gönner Jacobs war, bei dem Kommandanten melden. Er kündigte ihm an, dass sich doch noch eine Person gefunden habe, welche die Botschaft zu dem befreundeten Heer bestellen könne und wolle. Darauf griff er in die Rocktasche, zog unseren Fingerling hervor und stellte ihn auf den Tisch.

»Dieser da ist es«, sagte er, indem er seine Reverenz machte und sich zurückzog.

Der Kommandant glaubte anfangs, zum Besten gehalten zu werden.

Aber Jacob ließ ihn nicht lange dabei, sondern sprach mit heller, fester Stimme: »Herr General, ich habe die große Gefahr vernommen, in der die Festung schwebt. Zu meinem Leidwesen ist ein Mann wie ich zu klein, um für die gemeinschaftliche Sache fechten zu können. Aber etwas will ich dennoch für sie tun, die Botschaft, um welche es sich handelt, will ich besorgen!«

»Du?«, entgegnete ihm der Kommandant, indem er ihn mit spöttischem Blick maß.

»Allerdings!«, antwortete der Kleine mit einer höflichen Verbeugung.

»Auf welchem Wege?«

»Durch die Luft! Ich habe mir in diesen Tagen eine Taube abgerichtet, auf der ich wie ein Husar reiten kann. Lassen Sie mich auf dieser zu dem befreundeten Lager aufstiegen. Aber eine allzu große Depesche dürfen Sie mir freilich nicht mitgeben! Nur wenige Worte! Das Übrige tragen Sie mir mündlich auf. Ich werde es gewissenhaft ausrichten.«

Der General, obwohl er kein großes Vertrauen zu einer so winzigen Person fassen konnte, glaubte in seiner Bedrängnis doch auch, selbst dieses Anerbieten nicht ausschlagen zu dürfen. Er schrieb daher auf eine Visitenkarte die wenigen Worte »Diesem könnt ihr trauen!« und unterfertigte sie mit Siegel und Unterschrift. Dann unterrichtete er den Kleinen in allem, was seine wichtige Sendung betraf, versprach ihm für den Fall des Gelingens eine glänzende Belohnung und wünschte ihm glückliche Reise.

Jacob aber ließ sich alsbald nach Hause bringen, machte sich reisefertig und seht, da flog er schon hinaus zur obersten Dachlücke ganz bedächtig hinweg über Häuser und Straßen und verschwand bald hinter den Mauern und Wällen, hinaus ins Freie eilend.