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Atlantis Teil 25

Die Abraham Lincoln, achtzigtausend Tonnen, Turbinenschiff auf der Route Valparaiso – New York, hatte die Galapagosinseln hinter sich und setzte Kurs auf den Kanal von Panama.

»Kap Azuero in Sicht!« Die Lautsprecher hatten es gerufen. Wie ein Lauffeuer ging es durch alle Räume des mächtigen Schiffes! Kap Azuero! Das Wort weckte die Tausende von Passagieren, die der Bauch des Riesenschiffes barg.

Azuero! Bis vor Kurzem noch Halbinsel am Isthmus, jetzt das Südkap von Nordamerika. Kontinent Amerika; der frühere Begriff der großen von Pol zu Pol zusammenhängenden Landmasse war ja hinfällig geworden. Gewiss, schon seit Jahrzehnten hatte eine kleine Wasserstraße zwischen den beiden Ozeanen bestanden. Ein kleiner, schmaler Wasserpfad, auf dem die Schiffe vermittels mächtiger Schleusen über das Land hinweggehoben wurden. Ein Wasserpfad, der schließlich doch nur einen mikroskopisch feinen Riss auf der Erdkruste bedeutete.

Aber was war jetzt da? Eine zweihundert Meilen breite Riesenkluft. Ein weiter Meeresarm. Ein Tummelplatz für die Gewässer der beiden Ozeane, die sich hier im freien Spiel der Kräfte maßen. Die Landbrücke des Isthmus an dieser Stelle verschwunden. Zwei Kontinente jetzt, der nordamerikanische, der südamerikanische. Ein Ereignis von ganz unvorstellbarer Größe hatte das vermocht.

Doch nicht aus sich selbst heraus war es geschehen. Menschenhand hatte einen für Menschengedenken ewigen Zustand in Minuten vernichtet, älteste Weltordnung über den Haufen geworfen.

Das Ungeheure des Geschehens, das Ungeheure seiner Folgen hatte seit jenem Tage unzählige Scharen von Schausüchtigen, Neugierigen dorthin gezogen. Gab auch das neu entstandene Meer allein nicht die gewünschte Sensation, so fand sie sich bei dem Besuch der noch stehenden Zeugen des zerfetzten Isthmus. Freilich ein ergreifendes Bild.

Die reiche, blühende Landschaft war Wüste, Chaos! Die kühnste Fantasie durch die Wirklichkeit übertroffen. Berge, wo Täler, Täler, wo Berge! Flüsse … ihr jahrtausendealter Lauf verschwunden … neue entstanden! Alle menschlichen Behausungen bis zur leichtesten Indianerhütte zerstört. Tausende und aber Tausende von Menschen getötet … verschüttet … verbrannt … ertrunken. Das sterbende Europa war das letzte, fürchterlichste Glied dieser Kette von Unheil.

Vom Tag der Abfahrt an war dies das Tagesgespräch der Passagiere gewesen … war es geblieben, die Spannung steigernd bis zu dem Augenblick, wo man vom Schiff aus mit eigenen Augen ein Bild – war es auch nur ein kleiner Ausschnitt des Riesengeschehens – sehen musste.

Sie kamen auf Deck gestürzt.

Azuero! … Azuero!

Der Kapitän auf der Brücke, zu seinem Navigationsoffizier gewandt, wies lachend auf die Menge, die sich an die Reling drängte.

»Bis Mittag können sie warten, ehe sie ihre Neugier befriedigen können. Und dann«, er lachte laut, »werden sie lange Gesichter machen. Wir werden uns dicht an der Westküste halten. Die Ostküste ist nach den letzten Segelanweisungen nicht frei von Riffen. Es wäre Zeit, dass die Regierung neue Seekarten herausbringt. Aber die Vermessungsarbeiten dafür scheinen der amerikanischen Schifffahrt aufgepackt zu werden. Lotungen, Peilungen, Temperaturen, Strommessungen – das Schifffahrtsamt verlangt alles von uns.«

Er nahm das Glas vor die Augen.

»Da hinten! Das leichte Kräuseln im Westen und Osten! Es müssen schon die Ränder des neuen Stromes sein. Lassen Sie mit den Messungen beginnen. Ich bin selbst auf das Ergebnis neugierig. Ist es doch auch für mich das erste Mal, dass ich auf diesem Meer fahre.«

In einem Liegestuhl des Oberdecks lag Christie Harlessen. Sie presste die Hände an die Stirn. Wie eine körperliche Qual empfand sie das laute Tun und Treiben der Passagiere. In der Mehrzahl waren es ja Amerikaner. Aber doch – sie wusste es aus der Schiffsliste – befand sich auch eine beträchtliche Anzahl von Europäern, auch aus den nordeuropäischen Ländern, an Bord. Wie konnten die? War es nicht genug, das Bewusstsein allein: Europa stirbt? Konnten diese ihre Neugier hier an der Quelle des Unheils nicht bezähmen? Musste nicht jeder Schraubenschlag des Schiffes, der sie näher heranbrachte, sie niederdrücken?

Seit jenem Tag … jede Minute des Tages stand ihr deutlich vor Augen. Der Kampf um die Schiffe von Sonnenaufgang bis Untergang … der Sieg … Triumph … unendliches Hochgefühl im Herzen. Die Millionen gerettet für die Firma Harlessen und Uhlenkort.

Durch sie! Die Harlessen und doch Fremde. Fremde? Nein! Die geretteten Schiffe, sie wischten es fort, das Wort fremd.

Die kostbare Ladung der Schiffe gerettet durch sie, diese Tat öffnete das Tor, das zur Heimat führte.

Hamburg … Heimat … wo blieb es jetzt?

Der Strom der Völkerwanderung, vom Norden Europas einsetzend, zum Süden flutend, sich zerteilend nach allen Himmelsrichtungen … wohin würde er das führen, womit sich ihr der Begriff Heimat verband? Wo in der Welt würden Harlessen-Uhlenkort ihren neuen Sitz gründen, aus dem neue Heimat entstand – wenn es überhaupt noch möglich war?

Politik! Nie hatte sie sich darum gekümmert. Gleichgültig war ihr das Wort geblieben. In jenen Tagen erst, in denen sich die Fäden von ihr zu Harlessen-Uhlenkort gesponnen hatten, war es ihr ins Bewusstsein getreten.

Überall in der Welt saßen die Vertreter der Firma, überall waren ihre Interessen verknüpft mit der Weltwirtschaft. Doch die Hauptadern, die Kohlengruben in Spitzbergen, die Zinngruben in Südafrika: Unabwendbares Unheil stand darüber.

Walter Uhlenkort! Er, der Kopf, das Gehirn des Ganzen! Wo war er jetzt? Im Geist fühlte sie sich an seiner Seite stehend. Übernatürliche Kräfte fühlte sie in sich, ihm zu helfen, sein Werkzeug, seine Gehilfin zu sein.

Was war jetzt noch ihre Tat? Was waren die geretteten Millionen gegenüber dem Zusammenbruch, der alles verschlingen musste und auch sie zu verschlingen drohte?

Ein Freudenschrei, von Backbord beginnend, pflanzte sich über das Schiff hin.

»Die neue Küste! Der Kanal! Das neue Meer!«

In wirren Rufen klangen die Worte über das Schiff. Das steuerte Nordnordwest. Von Steuerbord strömten die Massen zur Backbordreling. Da! Da musste etwas zu sehen sein! Näher fuhr man an der neuen Küste.

Christie sprang auf. Unerträglich dieses Schreien, Jubeln der Neugierigen. Sie ging hinunter in ihre Kabine, warf sich dort auf das Bett.

Nur der Gedanke: Allein sein! Weg von diesen!

Sie war allein … gewiss. Der Lärm vom Deck drang nicht bis zu ihr hinunter.

Und doch! Ihre Gedanken kamen nicht los von dem, was sie peinigte, marterte von jenem Tage an. Stunden verrannen. Sie hörte nicht, wusste nicht, wie sie von dem einen in den anderen Ozean in freier, breiter Fahrt hinübergekommen war. Uhlenkort … Hamburg … ihre Gedanken gingen um diese beiden Worte.

Der Kapitän starrte auf die Tabellen, die der Navigationsoffizier vor ihm ausgebreitet hatte.

»Die Tiefenmessungen? Fast durchgehend mehr als tausend Meter! Ich verstehe das Stöhnen der Erde … die Wunde, die ging tief … Wasserwärme achtundzwanzig Grad. Der Golfstrom … schon die Temperatur allein sagt es. Fahrtversetzung? Fünf Meilen! Das heißt, der Golfstrom auf seinem neuen Weg durch die Landenge verringerte unsere Fahrt um fünf Meilen in der Stunde. Kein Zweifel mehr! Der Golfstrom fließt restlos im neuen Bett.

Die Folgen für Europa? Fehlt er, fehlt auch die Golfdrift … fehlt die Kraft, die das Wasser des Atlantiks in warmem Strom nach Norden riss, dort oben Leben und Lebensmöglichkeit spendete …

Ah! Der Gong schlägt zum Abendessen. Die Reling wird leer. Das mag jetzt ein schönes Geschnatter an der Tafel geben.«

So war es auch, wenn es auch nur wenig gewesen, was die neugierigen Augen gesehen hatten. Deshalb hielt sich das Thema von der Kanalkatastrophe nicht allzu lange als Tischgespräch und war nur zu bald erschöpft.

Seeräuber! Das ältere, beliebteste Thema der Schiffspassagiere dieser Zeit! Am untersten Ende der Tafel aufgeworfen, eilte es wie ein Stichwort von einem zum anderen. Allerdings war man jetzt im Atlantik in belebtester Fahrstraße. Westlich die amerikanische Küste, östlich die Antillen. Ganz aktuell war hier das Thema nicht.

Der Stille Ozean in seiner südlichen Ausdehnung mit viel schwächerem Verkehr war das eigentliche Feld für die modernen Piraten.

Als hätte man nur auf das Stichwort gewartet, schwirrten die Geschichten von den Piratenstückchen – sich übertrumpfend an Frechheit, Tollkühnheit – durch den Raum.

Schon hatte sich ein Schleier von Romantik um dieses neue, früher kaum noch der Sage nach bekannte Freibeutertum gewoben. Da waren zum Beispiel einzelne Piratenkapitäne – sie erfreuten sich der besonderen Hochachtung des Publikums –, die mehr aus politischen als aus verbrecherischen Instinkten diese Laufbahn ergriffen hatten. Motive aller Art, von den edelsten hinab bis zu den verworfensten, sollten die Triebfedern dieser modernen Seehelden sein, die schließlich – die Motive sprachen da nicht mit – doch meistens lebenslängliche Haftstrafe ereilte.

Auch die andere Seite, die Seepolizei der Mächte, bot hervorragende Figuren, die Besonderes in der Verfolgung und Bekämpfung der Freibeuter leisteten. Ihr Kampf war sehr schwer. Fanden doch die Seeräuber bei manchen Staaten offene oder geheime Unterstützung. Auf freier See bei frischer Tat ihnen beizukommen, war so gut wie unmöglich. Sie in ihren Schlupfwinkeln aufzusuchen, dort zu bekämpfen, darin sie zu vernichten, die einzige Möglichkeit.

Schlupfwinkel für ein U-Boot? Die Wasser der Erde boten unzählige. Der große Aktionsradius der Boote – mit ihren Atomreaktoren konnten sie monatelang auf See fahren – ermöglichte es ihnen, Stützpunkte an den entlegensten Stellen des Weltmeeres zu wählen. Bis zu den Polen hin waren sie bei entlegenen Inseln, an abgelegenen Küsten versteckt. Doch besonders guten Unterschlupf bot den Piraten der Stille Ozean mit seinen unzähligen kleinen Koralleninseln, die kein Verkehr berührte.

So manche Tragödie hatte sich hier abgespielt, von der die Zeitungen und Magazine spaltenlang berichteten. Der übliche Gang! Ein Schiff fuhr. An Bord alles sorglos. Da, plötzlich ein Schuss, ein zweiter, ein dritter, und die Antennen der Funkanlage sind zerstört, bevor das überraschte Schiff um Hilfe funken kann.

Die Musik bricht jäh ab. Der Kapitän stürzt auf die Brücke. Längsseit der graue Leib eines U-Bootes. Keine Flagge … Ein Boot mit Bewaffneten … Hands up! Das alte Räuberwort …

Eine halbe Stunde später taucht das U-Boot mit seiner Beute an Geld und Geiseln … wie sich’s traf.

Altes, schon längst Gehörtes. Die geschwätzigen Lippen wiederholten es hier an Bord der Abraham Lincoln zum hundertsten Male.

Das neueste, beinah stärkste Stück! Es war in aller Munde. Der Herzog von Bloomfield befand sich auf der Fahrt von England nach New York. Auf seiner Rapidjacht, um an den Regatten von Atlantic City teilzunehmen. In Sicht der amerikanischen Küste. Scharfer Schuss vor den Bug, zweiter über den Steven. Die Jacht versucht zu fliehen … Schuss in die Schraube. Er funkt um Hilfe … Schuss in die Antenne.

Das feindliche Boot legt an. Das alte Rezept. Und doch! Dies ist ein Extrastück, hier im belebtesten Teil des Weltmeeres.

Von allen Seiten eilen Schiffe herbei, die den Hilferuf noch vernommen hatten, große, kleine; die Bewaffneten darunter lösen ihre Geschütze, schießen auf den Räuber. Der wehrt sich, erwidert das Feuer mit schwerem Geschütz.

Ein Seekampf! Die großen Schiffe werden getroffen, Feuer bricht aus, Boote stoßen ab … Der Seeräuber wehrt sich wie ein gestellter Eber, verbirgt sich hinter der gekaperten Jacht und taucht weg. Die Hilfe kommt heran, zu spät! Der Herzog ist geraubt, mitgeführt auf dem verschwundenen U-Boot.

Am nächsten Tag erhält seine Familie Nachricht: Lösegeld eine Million Dollar in bar, abzuwerfen vom Postflugzeug London – New York am 12. Februar in Schwimmboje zehn Uhr dreißig Minuten vormittags. Geschieht dies, so wird der Herzog unverletzt an Land gesetzt. Bei Verweigerung des Lösegeldes oder Verfolgung durch englische Polizei ist das Leben des Herzogs verwirkt.

Und es geschah, musste so geschehen, wie es die Herren Piraten wollten. Das Postflugzeug warf die Boje mit dem Lösegeld zur bestimmten Zeit ab. Es war beinahe lächerlich, die Sorge in der Öffentlichkeit drehte sich weniger um das Leben des Geraubten, als darum, ob der Pirat auch die Boje mit dem Geld finden würde.

Wetten wurden abgeschlossen. Ein Kordon von U-Booten umzog den mittleren Atlantik. Die sahen, wie die Boje aufgenommen wurde, und mussten tatenlos zusehen. Denn der Geraubte war ja noch an Bord des Räubers. Jeder Schritt, den Piraten zu fangen, brachte das Leben des Herzogs in Gefahr.

Drei Tage später wurde der Herzog an der amerikanischen Küste abgesetzt, kam nach New York. Ein Heer von Interviewern lagerte vor der Tür seines Hotels.

Die Meinung des Herzogs: »Nette Leute, die Herren Piraten, vollkommene Gentlemen, habe keine Bequemlichkeit vermisst, tadellose Verpflegung und Unterkunft, modernstes Zehntausendtonnenboot. Ein höchst interessantes Erlebnis, mit einer Million nicht zu hoch bezahlt … Konversationsstoff bis ans Lebensende …«

Der Herzog nahm die Sache von der leichten Seite. Doch nicht immer war es so gegangen, dass die Betreffenden es als interessantes Abenteuer buchen konnten.

»Jamaika Nordost voraus!« Der Lautsprecher meldete es von der Brücke her durch den Speisesaal. Der Kapitän der Abraham Lincoln, der mit an der Tafel saß, nickte kurz, hob sein Glas.

»Auf einen weiteren glücklichen Verlauf der Reise, nachdem wir die Durchfahrt durch das neue Meer hinter uns haben!«

Der scharfe Knall eines Schusses! Die Hände sanken von den Gläsern. Noch ehe eine Stimme das Wort Schuss herausbrachte, ein zweiter Knall.

»Seeräuber!« Eine Frauenstimme gellte es über die Tafel.

Mit einem Ruck gingen alle Blicke zum Kapitän. Der stand auf, das gebräunte Gesicht erblasst.

»Seeräuber? Hier Seeräuber? Unmöglich … unmöglich …« Er murmelte ein paar undeutliche Worte zu den Gästen … »Keine Beunruhigung …« und stürmte hinauf.

Kam an Deck … eine Granate pfiff über seinen Kopf hinweg, riss die Antenne ab.

Keuchend stand er auf der Brücke. Schon hatte der Wachoffizier das Kommando »Stop« gegeben, schon schlugen die Maschinen rückwärts.

»Wo? Woher? Der Schuss!«

»Nordost voraus U-Boot«, schrie der Wachoffizier.

»Flagge?«

»Nicht zu erkennen … die Dämmerung …«

»Unmöglich!« Der Kapitän murmelte immer wieder das eine Wort. »Unmöglich. Es wird ein Boot der USA sein, das uns hier anhält. Weiß der Teufel, was sie wollen!«

»Ein Boot stößt ab«, rief der Wachoffizier unter seinem Glas hervor.

»Uniformen?«

»Noch nichts zu sehen … sie kommen näher … das Boot ist voll Bewaffneter!«

»Flagge?«

»Keine Flagge! Seeräuber!«

Der Wachoffizier schrie es.

Der Riesenrumpf der Abraham Lincoln glitt kaum noch durch die Dünung, stand fast still. Die Sonne tauchte hinter dem Isthmus unter, den Tag mit sich hinabziehend.

»Fallreep herunter!«, brüllte es von dem Boot.

Das Fallreep sank.

»Abraham Lincoln? Kapitän Frederik White?« Eine schneidige, scharfe Stimme schrie es zur Brücke hinauf.

Der Kapitän war starr. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, stammelte er.

»Abraham Lincoln von Valparaiso nach New York? Kapitän Frederik White?«

Der bejahte.

»Der Kapitän ist mein Gefangener! Schiffsleute! Tresorschlüssel! Passagiere und Mannschaft unter Deck!«

Kaum war das Wort von seinen Lippen, waren die Decks wie reingefegt.

»Maschinengewehre an ihre Posten!«

In Minuten waren alle wichtigen Punkte des Schiffes besetzt.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Kapitän!«

Der Piratenführer setzte sich auf einen Deckstuhl, zog einen anderen heran, den Kapitän einladend. Der folgte der Aufforderung. Kaum dass seine zitternden Knie ihn noch aufrecht hielten.

»Unmöglich! Unmöglich!«

Immer wieder kam das von seinen Lippen. Er konnte und wollte nicht begreifen, was geschah. Verstand auch nicht, was der Mann mit ihm sprach, ihn fragte.

Der Unterführer kam melden. In der einen Hand ein Schriftstück über die Depositen, mit der anderen auf einen Sack deutend, den zwei Leute seiner Mannschaft heranschleppten. »Zwei Millionen Dollar … etwas darüber noch!«

»Gut! Gut! Sehr gut! Doch das andere? Wie ist es damit?«

»Schon besorgt!«

»Schon besorgt?«

»Jawohl! Im Boot!«

»Ah! Das ging schnell.«

Der Piratenoffizier erhob sich, wandte sich an den Kapitän.

»Ich bedaure sehr, Sie inkommodiert zu haben. Die Störung, Sie werden es selbst zugeben, war nur geringfügig. Freie Fahrt, Herr Kapitän!«

Mit ein paar Sprüngen war er am Fallreep und von Bord.

»Freie Fahrt voraus!«, schrie er aus dem Boot.

»Freie Fahrt voraus!«, echote es zögernd von der Kommandobrücke der Abraham Lincoln.

Die Schrauben liefen an. Der Riesenrumpf kam in Fahrt. Von unten her kamen sie an Deck … Mannschaften … Passagiere.

»Kurs Nord zu Nordost!«, gab der Wachoffizier das Kommando.

Der Bug drehte auf den alten Kurs.

»Gerettet! Gerettet … Seeräuber an Bord? Was? Was ist geschehen? Wo sind sie?« Ein unbeschreibliches Gewirr von Fragen, Rufen in allen Sprachen der Welt.

Der Lärm drang bis zur Brücke, hinauf zum Kapitän. Der stand immer noch verwirrt, fuhr sich mit der Hand an den Kopf. Fast hätte er geschrien: »Unmöglich!«

Doch ein Blick … Hart Steuerbord … da! Eben noch das Periskop der Seeräuber … tauchend … verschwindend.

Da! Die blassen, verstörten Gesichter der Mannschaften, der Passagiere. Tausend Hände auf den fliehenden Feind deutend.

Die Stimme des Ersten Offiziers riss ihn aus seiner Verwirrung.

»Die Tresore sind beraubt! Die Passagierlisten … wären sie nicht nachzuprüfen?«

Der Kapitän nickte.

»Nachprüfen? Jawohl! Prüfen Sie nach!«

»Der Sender ist in Ordnung gebracht!«, meldete ihm der Zweite Offizier.

»Funken Sie … funken Sie!« Der Kapitän kam ins Stocken. »Sie wissen es ja! Sie haben es ja erlebt … Funken Sie!«

Der Offizier gab die Nachricht … Antworten kamen von hier und von da. Die Wichtigste: Amerikanische U-Boote auf der Fahrt von Kingston aus zur Verfolgung des Räubers angesetzt.

Meldung vom Ersten Offizier.

»Alle Mannschaften und Passagiere wohlbehalten an Bord. Passagier Christie Harlessen, kommend von Valparaiso, zurzeit nicht auffindbar.«

Der Kapitän hörte es, las und nickte.

Gott sei Dank – kein Menschenleben in Gefahr, wie es schien. Christie Harlessen, Kontoristin aus New York, Raub nicht anzunehmen … völlig ausgeschlossen!

Eine Milliardärstochter, das wäre was anderes. Eine Kontoristin? Ausgeschlossen! Wer weiß, wo die sich in ihrer Angst verkrochen hat … im tiefsten Raum des Schiffes … Die wird sich schon wieder einfinden.

Mit einem erleichterten Aufatmen ging der Kapitän von der Brücke.

Die Nacht war da. Kein Abendkonzert, kein Bal paré. Die Gesellschaftsräume öde und leer. Kaum dass ein paar Gruppen, in den Gängen beisammenstehend, das Ereignis besprachen.

Am anderen Morgen waren die Promenadendecks überfüllt … Fragen in allen Sprachen schwirrend … Erregung über das Ereignis in Worten und Gesten … ein aufgeregter Bienenschwarm …

Nur wenige waren es, deren Eigentum geraubt war …

Die Frechheit der Räuber! Hier … auf offener See … die Piraten! Der Ruf nach der Seepolizei! Von allen Seiten wurde er hörbar.

Doch kein Menschenraub … die Passagierliste aufgerufen … alle waren da gewesen, bis auf eine Miss Harlessen aus New York, eine kleine Kontoristin … sie sollte fehlen … nun, wer weiß, wo sie sich versteckt hatte in der Angst. Die Lautsprecher hatten mehrmals vergeblich ihren Namen ausgerufen.

Die Melodien der Musikkapelle klangen vom Oberdeck. Mit jedem Ton verschwanden Angst und Sorge mehr.

Die, deren Depots geraubt waren? Die Versicherungsgesellschaften mussten es tragen. Wie lautete denn der neue Passus in den Policen? Auch gegen Seeraub …

Man hatte gelacht, als man zuerst die Worte las … und doch, wie hatte die Wirklichkeit die Lachenden eines Besseren belehrt.

Die Schiffszeitung brachte am nächsten Morgen Nachrichten aus aller Welt, Nachrichten von Bord … da zum Schluss: Passagier Christie Harlessen ab Hafen Valparaiso an Bord der Abraham Lincoln, vermisst seit der Stunde des Überfalls. Der Prozess James Smith war zu Ende! Der Angeklagte freigesprochen! Eine Sensation ohnegleichen!

Tagelang war Washington überfüllt. Schon allein das Riesenheer der Reporter, die aus allen Teilen der Welt hierher geeilt waren, brachte Tausende nach Washington. Bis in die entlegensten Winkel der Welt drangen ihre Berichte.

Sensationsprozess?

Und doch! Die Gerichtsverhandlung … Wie wenig waren die meisten auf ihre Kosten gekommen! Die Sensation lag im Geschehnis, das den Grund zum Prozess gab; in den fürchterlichen Auswirkungen hatte sie gelegen.

Die Gerichtsverhandlungen selbst?

Die einzige Sensation war der Angeklagte. Als die Hünengestalt des Chefingenieurs in den Saal trat, ging ein Ruck durch die Tribünenbesucher.

Das war der Mann, der Mann, an dessen Namen sich alles knüpfte, fortspann über Jahrhunderte, Jahrtausende.

Absichtlich? Unabsichtlich?

Eine Tat war geschehen durch ihn, die alle Ordnung der Welt über den Haufen warf. Der ganze Riesensaal … aller Blicke, vom Vorsitzenden des Gerichtshofes bis auf den letzten der Zuhörer, waren minutenlang wie gebannt auf den Angeklagten gerichtet.

Das war der Mann! Sein Bild? Die Presse der Welt hatte es längst gebracht. Ein Bild aus früheren Tagen, aus Tagen vor dem, an dem es geschah. Wie würde er jetzt aussehen?

Seine Gestalt, sein Gesicht, bis in die kleinsten Züge verfolgte es die Versammlung. Jeden! Zitternd in dem Versuch, darin zu lesen … irgendetwas.

Das Gesicht … nach dem, was geschehen war, es konnte … es musste sich verändert haben. Irgendwie …

Das ungeheure Unglück drüben! Wenn er auch schuldlos war, irgendwie musste das doch die Züge geändert haben.

Wäre er gebeugt, mit allen Zeichen des seelischen Gebrochenseins, geführt von helfenden Armen, in den Saal gekommen, die wenigsten hätten sich darüber gewundert. Aber er war hereingekommen, die Riesengestalt hochaufgerichtet, den markanten Kopf zurückgeworfen, die Augen auf den Richtertisch geheftet. Hatte kurz davor haltgemacht, die Richter mit leichtem Neigen begrüßt und sich niedergesetzt. Die Anklageschrift war verlesen worden. Der Angeklagte hatte sie angehört. Kein Zug in seinem Gesicht veränderte sich. Kein Augenzucken, keine Bewegung des Körpers!

Das war auch so geblieben bis zum Schluss der Verhandlung. Seine Antworten an den Vorsitzenden, an die Sachverständigen, den Staatsanwalt … mit immer der gleichen, ruhigen, selbstbewussten Stimme gesprochen. Die Plädoyers! Auch der Staatsanwalt hatte Freisprechung beantragt.

Der Spruch des Vorsitzenden, der die Freisprechung verkündete! Nichts hatte das Gesicht des Angeklagten auch nur im kleinsten sich ändern lassen. Die eiserne, fast gleichgültige Ruhe war immer dieselbe geblieben. Er war aufgestanden, von der Anklagebank hinausgeschritten durch die Masse der Zuhörer, die ihm Beifall zuriefen.

Des Mannes Gesicht … wäre es aus Stein gehauen … nicht starrer hätte es blicken können.

Der Kraftwagen brachte ihn zum Hotel.

Er trat in sein Zimmer, schloss es ab. Das Schnappen des Schlosses … das Schnappen des Schlosses an seiner Kerkertür! Wie hatte ihn das bei jedem Hinausgehen des Schließers gepeinigt, ihm zugeschrien: Gefangen! Verbrecher … Verbrecher an der Menschheit, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht gekannt hatte.

Jetzt hatte seine Hand, die Hand des Freien, die Hand des Freigesprochenen, das Schloss einschnappen lassen. Es hatte ihm dasselbe zugeschrien wie das Schloss an seiner Kerkertür.

Frei? Freigesprochen?

Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Ein grässliches Lachen brach aus seinem Mund.

Frei? Freigesprochen?

Er warf sich auf ein Ruhebett und vergrub das Gesicht in die Kissen.

Wie anders würden jetzt die Zeitungsüberschriften lauten! Und doch, für ihn blieben es die alten, die ihn im Gefängnis täglich gepeinigt hatten.

Mit aller Kraft seiner Seele kämpfte er gegen die Qualen, das Bild Juanitas vor seine Augen zwingend, sich an sie klammernd, in deren Hände er seine Seele gegeben hatte.

Er warf sich zur Seite. Seine Brust atmete freier; das Gesicht nur zeigte noch die Spuren des Kampfes.

Juanita! Er sprang auf, durchmaß mit starken Schritten das Zimmer, blieb dann mit einem Ruck stehen.

Er! … Rouse!

Würde er sie ihm kampflos überlassen?

Die Riesengestalt reckte sich. Die Hände ballten sich zu Fäusten, hoben sich, als stände der andere vor ihm …

Er! Er soll sich hüten! Und wenn ich ihn mit diesen Fäusten …