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Hexengeschichten – Furia infernalis – Kapitel 1

Ludwig Bechstein
Hexengeschichten
Halle, C. E. Pfeffer. 1854

Furia infernalis
Kapitel 1

Der große Ritter Linné beschreibt in seinem Natursystem einen rätselhaften Wurm, welchen er den Namen Furia infernalis – Höllenfurie – beilegte. Dessen Beschreibung, aus der lateinischen in die deutsche Sprache übertragen, lautet so:

Furie. Körper haarstark, fadenförmig, gleichmäßig, an beiden Seiten mit Härchen und mit in einfacher Reihe stehenden, den Körper angedrückten, zurückgekehrten Stacheln besetzt.

Nur eine Art: Höllenfurie. Wohnt in den öden rasenreichen Morästen Botniens, hat die Länge eines Fingernagels, ist fleisch- oder ockerfarbig, an der Spitze öfters schwarz. Häufig an Binsen und Sträuchern hinaufsteigend, wird sie vom Wind durch die Luft auf nackte Stellen von Menschen und Pferden geführt, bohrt sich in deren Haut ein, die anfangs nur einen leisen Stich empfinden, und wird an der Stelle, wo die Höllenfurie eindrang, nur ein schwarzer Punkt erblickt, der bald auf das Heftigste juckt, dann unter schrecklichen Schmerzen zum roten Fleck, dann zum rings um jenen schwarzen Punkt sich ausbreitenden Geschwür wird, Entzündungsfieber hervorruft, das bis zum Vergehen der Sinne und zum Wahnsinn sich steigert, und am anderen Tag, häufig aber schon am ersten, ja nach wenigen Stunden den Tod herbeiführt, wenn nicht schnellste Hilfe nahe ist, die sehr schwierig ist, indem nur durch Herausziehen des Wurmes aus der Haut oder durch Ausschneiden, falls er schon tiefer eingedrungen ist, und durch Aufträufeln von empyreumatischen Birkenöl, wie man sagt, oder durch aufgelöste geronnene Milch oder Quark Rettung möglich werden kann.

Soweit Linné. Die neuere Naturforschung aber weiß wenig oder nichts von diesem Wurm, nichts von der Höllenfurie des großen Naturkundigen. Eine dunkle Sage, in Russland weit verbreitet, mag über den botnischen Meerbusen herüber nach dem Norden Schwedens gedrungen sein, und der edle Ritter mag wohl aus mündlichen Gerüchten und entstellten Schilderungen sich bewogen gefunden haben, ein Geschöpf, das er nie mit eigenen Augen sah, in einer ungenügenden Beschreibung in sein berühmtes Natursystem aufzunehmen. Andere schrieben es ihm getrost nach.

Und dennoch gibt es eine Furia infernalis – nur ist sie ein ganz anderes, sagenhaftes, grausenhaftes Geschöpf, das seine wahre Gestalt und Art der Forschung bislang entzogen hat.

Näher nach diesem Geschöpf hin deutet folgende Mär au mündlicher Überlieferung, aufgezeichnet in Johannes Wilhelm Wolfs Deutsche Sagen und Märchen. Leipzig 1845. S. 497. Nr. 369.

Die bösen Spinnen

In der langen Münze zu Gent war ein Wirtshaus und darin eine Kammer, worin kein Mensch übernachten wollte, denn es war noch keiner lebend daraus zurückgekommen. Ein kühner Kerl versuchte es doch, legte eine Strohpuppe ins Bett, verbarg sich unter dem Tisch, und wartete so ab, was kommen würde. Um Mitternacht sah er, wie zwei faustgroße Spinnen hinter einem alten Bild hervorkrochen und zu dem Bett eilten. Da setzten sie sich auf den Kopf der Strohpuppe, sonder Zweifel um ihr Gift darauf auszugießen. Aber der Bursche unterm Tisch nahm eine Bürste, die er zufällig fand, und sprang zu dem Bett, wo er die Spinnen totschlug. Seitdem war es in der Kammer geheuer.

Das waren keine Spinnen, das war die Furia infernalis, ein Geschöpf, das, wie aus nachstehender schlichter Erzählung erhellt, unsagliches Weh liebenden Herzen bereitet, ein Geschöpf des Fluches, der Rache – ein Verhängnis, ein Dämon – heraufbeschworen aus der Hölle tiefunterstem Grund, durch ein dieser Hölle verfallenes Hexenweib.

Es war ein schwüler Frühlingstag. Im Süden zog Wettergewölk herauf, das dem Schoß des Schwarzen Meeres entstiegen war, dem Wind entgegen, der von Norden kommend über die unabsehbaren Flächen der Ukraine sauste und über dem Schwarzwald dahinfuhr, der die Dzika Polie, die schier einwohnerlosen Einöden des Landes der tschernomanischen Kosaken begrenzte. Dieser Frühlingssturm erschütterte die Fenster des Herrenschlosses auf einer Anhöhe über der alten Stadt Krzemienczuk, kürzer Krementschuk am Dnjepr; da gelegen, wo der kleine Fluss Psiot oder Psol seine Wellen in den Schoß des großen inselreichen Stromes gießt.

Trüb wie der Tag und der Himmel war im Herrenschloss die Stimmung. Vor einem halben Jahr war die Hausfrau des Gutsherrn Polykarpow Simeonowitsch Kalugin in der Familiengruft beigesetzt worden, tief betrauert von dem Gatten, von ihrer einzigen Tochter Agaphonika und dem einzigen Sohn Basiliy Polycarpowitsch, und von allem Hausgesinde, dem sie eine gute und milde Herrin gewesen war.

Und dieser einzige Sohn, ein Jüngling schlanken Wuchses, noch im zarten Alter, den Knabenjahren kaum entwachsen, stand allein bei Vater und Schwester, im Reisepelz und Abschied nehmend. Agaphonika, eine hehre Jungfrauengestalt mit allen Reizen einer vollendet erblühten Tscherkassierin , zerfloss in Tränen.

Der Vater stand ernst, wie dem Manne ziemt, und gehalten da, umarmte und küsste noch einmal den scheidenden Sohn und sprach: »Vergiss nicht die Lehren, mein Sohn, mein Liebling, du einziger meines Herzens, du letzter, du hoffnungsvoller Sprössling des alten Stammes der Kalugin, die dein Vater dir erteilte. Du trittst in den Militärdienst des Zaren, um dich vorzubereiten auf eine schöne Zukunft. Wenn du einst heimkehrst in deiner Väter Schloss und Gebiet, wirst du als kaiserlicher Offizier eine Stimme haben im Gouvernement, außerdem nicht. Ich habe keine, ich versäumte das. Hole du nach, mein Basiliy Polycarpowitsch, was dein Vater versäumt hat. Welch ein Glück für mich, welch ein Stolz für unser Haus, wenn ich erlebte, dir einst zum Rang eines Kreisadelsmarschalls Glück zu wünschen. Ja, Basiliy Polycarpowitsch, zum Gouvernementsadelsmarschall kannst du es bringen, zu einer der höchsten Stellen, die ein Edelmann in diesem unseren Land erreichen und behaupten kann.«

Des Jünglings Seele war noch frei von Plänen des Ehrgeizes, jene hohen Stellen lockten ihn noch nicht. Er freute sich dem Prunk der Waffen, dem Leben im Heer des Zaren entgegen, doch ehrte er des Vaters gute Wünsche und treue Hoffnungen und widersprach ihm nicht. Er neigte kindlich sein Haupt, des Vaters Segen zu empfangen, empfing diesen Segen gerührt, und küsste dem Vater Polycarp Simeonowitsch die Hand und rief: »Dank dir, Väterchen, für deine Liebe und deinen Segen! Ich werde, deiner wert zu bleiben, mich bestreben, so wahr ich Basiliy Polycarpowitsch und ein Kalugin bin! Lebe auch du wohl, du Herzchen meines Herzens, mein schönes Schwesterchen und denke oft an mich und schreibe oft deinem Brüderchen. Gott mit Euch!«

Raschen und festen Schrittes schritt Basiliy Polycarpowitsch aus dem Zimmer, hinabzugehen in den Hof, wo schon der mit einer schönen Troika bespannte Reisewagen und Kutscher und Diener des jungen Herrn harrten, auch die Dienerschaft des Hauses versammelt stand. Da hemmte dessen Weg über den Vorsaal ein Jüngling gleichen Alters, der sich ihm mit Leidenschaft fast entgegenwarf, vor ihm niedersank, seine Knie umfasste, seine Hände ergriff und an seine Lippen riss, und alle Zeichen eines leidenschaftlichen Schmerzes, eine zärtliche Vertraulichkeit mit Unterwürfigkeit gepaart an den Tag legte.

»Lebe wohl, Brüderchen! Lebe wohl Kolynka (Nickelchen). Bleibe gut und folgsam, so kommst du einst wieder zu mir!«

»Nimm mich mit dir, Barin (Herr) Basiliy Polycarpowitsch! Lass mich dir dienen«, rief flehend der junge Leibeigene Nikolay.

»Es geht nicht an, Brüderchen, beim Himmel! Mein Vater will es nicht!«, entgegnete Basiliy seinem Gespielen, dem Sohn der alten Amme Agaphonikas und der Pflegerin seiner eigenen Kindheit, der zärtlich an ihm hing, infolge seines Verhältnisses manche Gunst genossen, manches Vorzugs sich erfreut hatte, und nun mit Schmerz empfand, dass er von seinem jungen Gebieter getrennt leben sollte.

Ein ernster Blick des Schlossherrn und ein Handwink desselben geboten dem jungen Nikolay zur Seite zu treten und ohne weitere Gefühlsäußerungen dem Scheindenden Raum zu geben.

Unten aber an der Pforte des Hauses zum Hof wiederholte sich noch stärker, noch leidenschaftlicher dieselbe Szene. Ein Weib, groß, von starkknochigem Bau, unverkennbar mongolischen Stammes, gebräunter runzelvoller Haut, mit nachtschwarzem Haar und grauen Wimpern, die über der Nasenwurzel zusammenflossen, stürzte ebenso heftig und noch dazu mit Geheul und Gekreische auf Basiliy los, umklammerte seine Füße, küsste diese und gab sich dem Ausbruch namenlosen Schmerzes völlig hin.

»Lass doch! Lass mich doch, alte treue Raenka (Wärterin) und lebe wohl, Mataphka. Diene treu deinem Herrn und meinem Schwesterchen. Wir sehen uns, so Gott will, gesund wieder!«

»Satansweib!«, murmelte einer unter der Dienerschaft. »Wie sie sich anhänglich stellt, wie sie tut, als ob sie ein Engel wäre, und ist doch schlimmer als der Höllendrache, den der Erzengel Sankt Michael überwand – das verfluchte, von Gott nicht gekannte Hexen- und Heidengezücht!«

Der so murmelte und böse Gedanken gegen Mataphka hegte, die allerdings ein mohammedanisches Tatarenweib war und der nogaischen Steppe entstammte, war Paul Michaylow, der alte Haushofmeister und erste Leibdiener des Schlossherrn, der einen tödlichen Grimm gegen die alte Mataphka im Herzen trug, denn sie hatte in jungen Jahren seine Neigung verschmäht und den Sohn geboren, dessen Vater niemand kannte. Seitdem hatte des Haushofmeisters Hass sich auf Sohn und Mutter in gleichem Maße verteilt. Und wo er ihr oder ihm ein Weh und Leid bereiten konnte, sparte Paul Michaylow keinen Fleiß.

Die Abschiedszene ging rasch vorüber. Der junge Sohn des Hauses reichte jedem der Diener und Dienerinnen die Hand, Gregor Constantinow, der Leibkutscher, schwang, den Pferden winkend, die Peitsche, und der leichte Reisewagen, aus dem Basiliy Polycarpowitsch noch mit der Mütze grüßend winkte, entrollte dem Tor, ohne Furcht vor dem Wetter, das zu grollen und seine Donner zu rollen begann, und von Zeit zu Zeit einen grellen Blitz in der breiten Stromflut des Dnjepr spiegeln ließ, ohne zum rechten Ausbruch zu kommen, denn der Wind trieb es nordöstlich zur Seite, den Gegenden zu, in denen die berühmte Gouvernementshauptstadt Poltawa gelegen ist, über denen es sich dann mit voller Macht entlud, und die Flüsse anschwellte, die von der linken Seite des Stromes sich in dessen Bett stürzen.

Im Schloss zu Krementschuk trat die Stille ein, welche einer alle Bewohner aufregenden Szene insgemein zu folgen pflegt. Jeder ging an sein Geschäft. Der Vater und die Tochter blieben in ernsten Gesprächen allein beisammen, die beiden Dienerinnen der Letzteren, Anuschka und Barynka flüsterten in einem Nebenzimmer nur heimlich und leise miteinander, und Nikolay saß bei seiner Mutter und zerfloss in Tränen.