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Der Winterkönig

Jörg Olbrich
Der Winterkönig
Geschichten des Dreißigjährigen Krieges I

Historischer Roman, Taschenbuch, acabus Verlag, Hamburg, Oktober 2017, 468 Seiten, 16,00 Euro, ISBN 9783862825288, Cover: Marta Czerwinski, Karte:Annelie Lamers
www.acabus-verlag.de

Synopsis:
Wie durch ein Wunder überlebt der Sekretär Philipp Fabricius zusammen mit zwei Statthaltern den gewaltsamen Fenstersturz aus der Prager Burg. Philipp macht sich schwer verletzt auf den Weg nach Wien, um den Kaiser über die protestantischen Aufstände zu informieren. Mit Hilfe der schönen Magdalena erreicht seine Botschaft die Residenzstadt, doch die Lage zwischen Katholiken und Protestanten spitzt sich weiter zu und Philipp gerät ins Visier der gegnerischen Parteien. Der Krieg lässt sich nicht mehr aufhalten …
Währenddessen tritt in Pilsen der Schmied Hermann den kaiserlichen Truppen bei. Als Söldner in Tillys Armee begeht und erleidet er die Schrecken des Krieges. Die Chronik eines jungen Schreibers in Wien dokumentiert die Gräuel.
Verwüstung, Hungersnöte, Armut und Pest kosteten zwischen 1618 und 1648 rund sechs Millionen Menschen das Leben. Der Auftakt der sechsteiligen Romanreihe Geschichten des Dreißigjährigen Krieges überzeugt mit historischen Fakten und einer spannungsgeladenen Entwicklung.

Der Autor

Jörg Olbrich, Jahrgang 1970, lebt in Mittelhessen.
Das Heimatdorf des Autors, das zwischen Wetzlar und Braunfels liegt, wurde während des Dreißigjährigen Krieges von spanischen Truppen verwüstet. Die Spanier wollten die Kirchenglocke einschmelzen, um Waffen herzustellen. Die Dorfbewohner versteckten die Glocke jedoch, woraufhin die feindlichen Truppen das Dorf niederbrannten.
Nach der Veröffentlichung seiner ersten Kurzgeschichte 2003 folgten Beiträge in Anthologien. Die Kurzgeschichte Herz aus Stein wurde 2008 in der Kategorie Beste deutschsprachige Kurzgeschichte mit dem Deutschen Phantastik Preis ausgezeichnet. 2010 belegte sein Roman Das Erbe des Antipatros dort in der Kategorie Bestes deutschsprachiges Romandebüt den 3. Platz.

Jörg Olbrich gehört zum Autorenteam der Serie Paraforce, welche seit 01. Mai 2012 zu einem festen Bestandteil des Onlinemagazins Geisterspiegel.de gehört.

Leseprobe

Prag, 23. Mai 1618

»Was ist das für ein Lärm?«, schrie Jaroslav Borsita Martinitz und schlug ärgerlich mit der Faust auf den Tisch.

Philipp Fabricius fuhr erschrocken zusammen und warf dabei mit dem Ärmel seines schwarzen Mantels fast das Tintenfass vor sich um. Es gelang ihm gerade noch rechtzeitig, das Gefäß festzuhalten, bevor es über die Kante fiel und den kostbaren Marmorfußboden der böhmischen Hofkanzlei in der Prager Burg verschmutzte. Er sah den königlichen Statthalter vorwurfsvoll an, den das allerdings nicht zu interessieren schien. Wie immer, wenn sich Martinitz durch irgendetwas gestört fühlte, drehte er nervös mit dem Zeigefinger an den fingerlangen Barthaaren.

»Bei diesem Krach kann man unmöglich arbeiten«, pflichtete Wilhelm Slavata, der oberste Landrichter, seinem Freund bei.

»Fabricius, geh und schau nach, was dort unten im Gange ist«, befahl Martinitz. Der Statthalter rutsche unruhig auf seinem Stuhl vor und fuhr sich mit der knochigen rechten Hand über den kahlen Schädel.

Philipp wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als der Auf­forderung von Martinitz zu folgen. Trotz seiner für diese Jahreszeit viel zu dicken Kleidung fror der Sekretär der königlichen Statthalter entsetzlich. Pflichtbewusst war er den vier Statthaltern Martinitz, Slavata, Ladislaus von Sternberg und Diepold von Lobkowitz am Morgen nach der Kirche in das Amtszimmer gefolgt, obwohl er spürte, wie das Fieber seinen Körper gepackt hielt. Sein normaler­weise lockiges, schwarzes Haar klebte ihm in klumpigen Strähnen am Kopf, und er sah alles um sich herum wie durch einen nebligen Schleier. Philipp betete darum, dass die heutige Sitzung ein schnel­les Ende finden würde und er sich bald in seinem Bett verkriechen konnte, hatte aber die düstere Vorahnung, dass daraus nichts werden würde.

In diesem Moment flog die schwere Holztür der Ratsstube mit einem Knall auf und schlug krachend gegen die Wand. Sofort stürmte eine Horde wütender und bewaffneter Männer in den Raum. Sie sprang über die drei Besucherbänke vor den Statthaltern auf diese zu. Spätestens jetzt bereute Philipp es, an diesem Morgen nicht in seiner Kammer geblieben zu sein. Er hätte einen Verweis bekommen, wenn er nicht zum Dienst erschienen wäre, fürchtete aber, dass das was nun folgen würde, wesentlich schlimmer für ihn ausgehen konnte.

»Was fällt Euch ein, einfach so hier hereinzustürmen«, schrie Mar­tinitz und sprang so heftig auf, dass er dabei mit seinem gewölbten Bauch fast den Tisch umstieß, an dem er saß.

»Das werdet Ihr gleich erfahren«, antwortete Matthias von Thurn. Wie ein Richter stand der grauhaarige Graf vor den königlichen Beamten und deutete mit dem Finger auf sie. »Ergreift sie und schafft sie nach draußen.«

Die vier Statthalter wollten ihre Waffen ziehen; wurden aber von der Menge regelrecht überrannt, bevor sie zu einer Gegenwehr fähig waren. Auch Philipp wurde gepackt und von den Männern aus dem Raum heraus in den breiten Flur gezogen, in dem normalerweise die Bittsteller warteten.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Martinitz mit sich überschla­gender Stimme.

»Ihr seid zu weit gegangen«, antwortete von Thurn. »Heute wer­det Ihr für Eure Taten zur Rechenschaft gezogen. Die Zeit der Unter­drückung der protestantischen Stände ist nun vorbei.«

Philipp sah sich um und erkannte, dass die Eindringlinge überall standen. Von unten drängten sich weitere Männer über die Treppe nach oben. Fast alle hatten die Hände an ihren Waffen und waren bereit, diese sofort gegen die Statthalter einzusetzen, sollte es denn nötig sein. Eine Flucht war ausgeschlossen. Philipp hoffte, dass von Thurn ihn gehen lassen würde. Schließlich protokollierte er die Ver­sammlungen der Statthalter lediglich und war nicht für ihre Taten ver­antwortlich. Dabei wusste er nur zu gut, dass die Horde ihre Revolte gegen die Hofkanzlei nicht ohne Grund durchführte.

Der Sekretär schaute zu Martinitz und Slavata. Beide Männer waren erbleicht. Von dem anfänglichen Selbstbewusstsein, mit dem sie sich gegen die Angreifer gestellt hatten, war nichts mehr übrig geblieben. Unruhig ließen sie ihre Blicke über die endlos erschei­nende Gruppe der Eindringlinge schweifen. Ladislaus von Sternberg und Diepold von Lobkowitz hatten sich erst gar nicht gegen von Thurn und seine Mannen gewehrt und standen lethargisch im Flur, als ginge sie der Aufstand der Stände nichts an.

Graf von Thurn hob die Hände und brachte die wild durchei­nander schreiende Menge so zum Schweigen. Er sprach mit lauter Stimme, sodass ihn jeder im Flur hören konnte: »Seit der Regent­schaft von König Ferdinand werden die Rechte der protestantischen Stände in Böhmen mit Fußen getreten. Selbst vor der Zerstörung unserer Kirchen schreckten die Jesuiten nicht zurück. Dies war ein klarer Verstoß gegen den Majestätsbrief, der von Kaiser Rudolf II im Jahr 1609 ausgestellt und später von Kaiser Matthias bestätigt worden ist.«

Während die meisten Anwesenden die Worte ihres Rädelsführers nickend bestätigten, erschrak Philipp bis ins Mark. Er kannte das von Graf von Thurn angesprochene Dokument, in dem den böhmi­schen Landeseinwohnern eine freie Religionswahl und der Aufbau einer protestantischen Kirchenorganisation erlaubt wurde. Selbst der Bau von evangelischen Kirchen auf den königlichen Kammer­gütern war gestattet worden. Wenn sich die Statthalter von Prag nun tatsächlich offen gegen diesen Majestätsbrief gestellt haben sollten, würde ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert sein. Philipp wusste nur zu gut, dass auch er dann kaum noch mit heller Haut davonkom­men konnte.

»Um unser Recht durchzusetzen, haben wir uns in einem Pro­testschreiben an Kaiser Matthias gewandt«, fuhr von Thurn fort. »Doch in Wien fand unser Anliegen kein Gehör. Im Gegenteil, dem protestantischen Adel wurde verboten, weitere Ständeversammlun­gen abzuhalten. Der Kaiser drohte uns sogar mit dem Verlust des Leibes und der Ehre, wenn wir seine Anordnung nicht befolgen. Es stellt sich uns nun die Frage, was Matthias dazu brachte, von seinem Weg abzuweichen und sich gegen den Majestätsbrief zu stellen, den er selbst bestätigt hat. Von den anwesenden Statthaltern wollen wir wissen, ob sie von dem kaiserlichen Schreiben gewusst haben oder gar dazu rieten und es approbierten.«

Der Flur schien sich während der Worte von Graf von Thurn weiter gefüllt zu haben. Die Männer standen dicht gedrängt und schoben sich gegenseitig immer weiter vor. Philipp hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Es roch nach Schweiß, und die Hitze im Flur schien mit jeder Sekunde zuzunehmen. Aus Angst davor, von der Menge totgetreten zu werden, sollte er zu Boden fallen, kämpfte der Sekretär verzweifelt gegen den drohenden Schwindel an.

Die Eindringlinge rückten noch enger zusammen. Alle wollten wis­sen, was die Statthalter nun zu ihrer Verteidigung vorbringen wür­den. Trotz seiner Schwäche war auch Philipp gespannt, ob es ihnen gelang, sich aus dieser bescheidenen Lage herauszuwinden. Von den Wachen der Burg war sicherlich keine Hilfe zu erwarten. Die Männer waren entweder von den Rebellen überwältigt worden oder geflohen.

»Wir sind dem Kaiser mit schwerem Eid verpflichtet und ver­bunden«, antwortete Martinitz sichtlich um Fassung bemüht. Weil er von seinen Widersachern an beiden Armen festgehalten wurde, war er kaum in der Lage sich zu rühren. »Wir dürfen nichts offenbaren, was die Statthalter im Namen des Königs in ihrem Kreis beraten.«

»Ihr irrt, wenn Ihr glaubt, dass wir unverrichteter Dinge wie­der abziehen werden«, sagte von Thurn mit energischer Stimme. »Wir verlangen hier und heute eine Antwort. Gebt Ihr diese nicht, wird das von den protestantischen Ständen als Schuldeingeständnis gewertet werden.«

»Ich muss energisch protestieren und kann guten Gewissens sagen, dass wir weder zu diesem, dem Majestätsbrief zuwider lau­fenden Schreiben geraten, noch davon gewusst haben.«

Philipp sah Ladislaus von Sternberg überrascht an. Der stand zittrig zwischen den Rebellen und hielt den Gehstock, den er benö­tigte seit er vor zwei Jahren vom Pferd gefallen war und sich das Bein verdreht hatte, krampfhaft fest. Normalerweise wählte der Mann den Weg des geringsten Widerstandes. Sein Protest passte nicht zu dem Verhalten, das Philipp sonst von ihm kannte.

Der Sekretär betete, dass die adeligen Herren nun schnell zu einer Endscheidung kommen würden. Ihm selbst fiel es immer schwerer, sich auf den Beinen zu halten, obwohl auch er nach wie vor von zwei Männern gepackt wurde. Er hatte das Gefühl, dass der Lärm in der Burg sein Fieber noch steigerte und seinen Kopf früher oder später zum Bersten bringen würde.

»Herr Burggraf«, sprach von Thurn von Sternberg direkt an. »Wir wissen wohl, dass Ihr und Diepold von Lobkowitz fromme Herren seid und den protestantischen Ständen nicht schaden wolltet. Herr Slavata und Herr Martinitz sind die Feinde unserer Religion und wollen uns um den Majestätsbrief bringen.«

»Das ist eine Lüge«, protestierte Martinitz und versuchte, auf sei­nen Widersacher zuzugehen. Daran wurde er aber von den anderen Männern gehindert.

»Dann stimmt es nicht, dass Ihr beide schon bei der Sitzung des Landtages nicht anwesend wart, bei dem der Majestätsbrief entlas­sen wurde, und Ihr seitdem alles darauf verwendet, das Dokument außer Kraft zu setzen?«

Weder Martinitz noch Slavata antworteten auf diese Anschul­digungen. Philipp wusste nur zu gut, dass beide Statthalter immer wieder nach Möglichkeiten gesucht hatten, gegen die Protestanten vorzugehen. Er hatte dies selbst dokumentiert. Den Männern war es ein Dorn im Auge, dass der protestantische Teil der Bevölkerung in Prag immer mehr zunahm.

Die Tatsache, dass von Thurn gnädig mit von Sternberg und von Lobkowitz umging, ließ den Sekretär hoffen, ebenfalls aus dem Gebäude herauszukommen, ohne Schaden zu nehmen.

In den nächsten Minuten wurden weitere Vorwürfe vorgebracht. Martinitz und Slavata versuchten vergeblich, sich zu verteidigen, gerieten aber immer mehr in die Zwickmühle. Weil mehrere Männer durcheinandersprachen und seine Kopfschmerzen immer unerträg­licher wurden, konnte Philipp den Worten nicht mehr folgen. Er spürte, dass er dieser Tortur nicht mehr lange standhalten konnte. Wie auch immer die Entscheidung über seine Zukunft ausfallen mochte, er betete, dass diese rasch getroffen würde. Falls es tatsäch­lich Gottes Wille war, den jungen Sekretär mit gerade einmal zwan­zig Jahren zu sich zu holen, sollte er ihm die Gnade eines schnellen Todes gewähren.

Plötzlich verschaffte sich Graf von Thurn mit lauter Stimme Gehör und riss damit auch Philipp aus seiner Lethargie. »Die Her­ren von Sternberg und von Lobkowitz sollen nun die Burg verlas­sen. Ihnen wird nichts geschehen. Keiner von uns wird Hand an sie legen. Die anderen beiden dagegen werden nun unseren Richt­spruch erfahren.«

Zunächst rührten sich die beiden Angesprochenen nicht und starrten von Thurn überrascht an. Erst als sie von den Eindringlin­gen in Richtung Ausgang geschoben wurden, erkannten sie, dass es der Graf ernst meinte, und bahnten sich fluchtartig ihren Weg zur Treppe. Philipps Hoffnung, nun ebenfalls freigelassen zu werden, erfüllte sich nicht.

»Seht, liebe Herren, diese Zwei sind unsere größten Feinde. Sie wol­len uns um den Majestätsbrief und die Freiheiten unserer Religion bringen. Glaubet gewiss, dass unsere Stände niemals mit unseren Weibern und Kindern in Frieden leben können, solange diese Her­ren im Lande verweilen. Wir würden unseres Lebens nicht sicher sein. Wenn wir sie weiter gewähren lassen, ist es um unsere Religion geschehen und wir alle hier werden an Leib, Ehre und Gut verdor­ben und verloren sein.«

Ein Raunen ging durch den Flur. Graf von Thurn stand in der Mitte des Raumes und genoss seinen Triumph sichtlich. Der Anfüh­rer der Rebellion wirkte auf Philipp wie ein Kriegsherr auf dem Schlachtfeld, der seine Männer aufhetzte, bevor er sie in den Kampf schickte.

»Derethalben deklarieren wir die beiden als Feinde und werden mit ernstlicher Strafe gegen sie verfahren.«

Philipp blickte in die entsetzten Gesichter der beiden Statthalter. Beide wussten nur zu gut, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte, sollte nicht noch ein Wunder geschehen. Während Slavata um seine Fassung rang, forderte Martinitz von den Eindringlingen, zu einem Beichtvater geführt zu werden, bevor das Urteil an ihm vollstreckt wurde.

»Wir werden Euch jetzt sicher nicht noch einem schelmischen Jesuiten zuführen«, entgegnete von Thurn und deutete zum Fenster. »Hinaus mit ihnen.«

In diesem Moment brach der Tumult los. Gleich fünf der anwe­senden Ritter stürzten sich auf Martinitz und zogen ihn zum geöff­neten Fenster. Philipp versuchte sich nach hinten zu drängen, wurde aber von seinen Widersachern festgehalten.

»Jesu, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner!«, schrie der Statthalter und versuchte sich gegen die übermächtigen Angreifer zu wehren.

Philipp sah voller Entsetzen zu, wie der Oberkörper von Mar­tinitz durch das schmale Fenster geschoben wurde. Sofort machten sich drei Männer an seinen Beinen zu schaffen, hoben sie an und warfen den Statthalter hinaus.

»Jesus, Maria«, schrie Martinitz. Seinen Fall konnte aber nichts mehr aufhalten.

»Wir wollen sehen, ob ihm seine Maria helfen wird«, sagte von Thurn spöttisch.

Der Sekretär konnte nicht erkennen, was weiter mit Martinitz geschah. Die Männer standen so dicht an den Fenstern, dass es unmög­lich war, einen Blick an ihnen vorbei zu werfen. Philipp war überzeugt, dass der Statthalter den Fall unmöglich überlebt haben konnte; immer­hin lag das Fenster siebzehn Meter über dem Boden. Die aufgeregten Rufe der Protestanten belehrten ihn jedoch eines Besseren.

»Er bewegt sich noch«, rief einer der Männer und deutete nach unten.

Die Stimmung im Flur heizte sich noch weiter auf. Die Eindring­linge schrien wild durcheinander. Philipp bekam einen Schlag gegen den Kopf und nahm nun alles nur noch verschleierter wahr.

Wieder musste sich von Thurn mit energischer Stimme Gehör verschaffen. »Edle Herren, noch ist unsere Aufgabe hier nicht been­det«, rief er und zeigte auf Slavata. »Da habt ihr den anderen.«

Auch dem zweiten Statthalter blieb keine Möglichkeit zur Gegen­wehr. Er klammerte sich verzweifelt mit den Händen am Fensterrah­men fest, musste aber loslassen, als ihm einer der Männer mit dem Kopf seines Dolches auf die Finger schlug.

Mit blankem Entsetzen spürte Philipp, wie nun auch er von den Eindringlingen gepackt und zum Fenster geschleift wurde. »Ich habe nichts mit den Taten der Statthalter zu schaffen«, rief er verzweifelt. »Ich bin nur der Sekretär,«

In ihrer Rage machten die Männer um Graf von Thurn jetzt aber keine Unterschiede mehr. Sie drückten Philipp durch das Fenster, und er würde genauso fallen wie die beiden Statthalter zuvor. Sein durch das Fieber geschwächter Körper ließ keine Gegenwehr zu. Er merkte, wie er den Halt verlor und sah, wie der Graben unter ihm immer näher kam. Ein Fenstersims stoppte seinen Fall. Philipp spürte einen stechenden Schmerz in der Hüfte. Dann rutschte er an der Mauer entlang in die Tiefe. Die unzähligen Schläge gegen Arme und Beine nahm der Sekretär kaum wahr. Innerlich hatte er bereits mit dem Leben abgeschlossen.

Der Aufprall in dem Graben vor dem Schloss erschütterte Phil­ipps Körper. Er stieß mit dem linken Ellenbogen gegen einen Stein und schrie auf. Der Schmerz zog durch seinen gesamten Körper und schien keine Stelle auslassen zu wollen. Und doch – der Sekretär konnte es nicht fassen – hatte er den Sturz überlebt. Neben sich sah er, wie Martinitz versuchte, den scheinbar leblosen Körper von Slavata, dem das Blut aus einer Wunde an der Schläfe lief, aus dem Graben zu ziehen. Auch die Dienerschaft, welche die Burg beim Eintreffen der Rebellen verlassen haben musste, eilte den Statthal­tern nun endlich zur Hilfe.

Plötzlich krachten Schüsse von oben. Philipp schaute zu dem Fenster und sah, wie sich die protestantischen Grafen und Ritter dort zusammendrängten und ihre Waffen nach unten richteten. Zu seinem Glück behinderten sie sich dabei aber gegenseitig und schaff­ten es nicht, einen gezielten Schuss abzugeben. Er musste hier weg.

»Lauft in den Graben hinunter und macht der Sache ein Ende«, befahl von Thurn oben mit lauter Stimme.

Die protestantischen Eindringlinge waren aber zu weit von der Stelle entfernt, an der ihre drei Opfer auf den Boden geschlagen waren. Jetzt geriet es ihnen zum Nachteil, dass sie allesamt in die Burg gestürmt waren und jeder bei der Verhandlung gegen die Statt­halter hatte dabei sein wollen.

»Geh nach Wien!«, befahl Martinitz seinem Sekretär. »Kaiser und König müssen erfahren, was heute hier geschehen ist.« Der Statt­halter hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Brustkorb und schien große Mühe beim Sprechen zu haben. Seine Worte wurden von keuchendem Atem begleitet und waren fast nicht zu verstehen.

»Ich kann Euch hier nicht alleine lassen«, entgegnete Philipp und sah seinen Herrn ängstlich an. Er selbst spürte stechende Schmerzen in den Ellenbogen und Knien, schien sich bei dem Sturz aber keine Brüche zugezogen zu haben.

»Das musst du aber. Wir haben noch genug Freunde in der Stadt, die uns helfen werden. Sorge dich nicht um Slavata und mich. Geh nach Wien. Dort wird man wissen, was zu tun ist, um diesem gottlo­sen Treiben ein Ende zu bereiten.«

Philipp sah, dass nun immer mehr königliche Soldaten und Die­ner auf den Graben zustürmten, um ihre Herren zu retten. Slavata wurde aufgehoben und von der Burg weggetragen. Zwei Männer stützten Martinitz, der mit dem rechten Fuß nicht auftreten konnte, und halfen ihm so bei der Flucht.

Überall um die Burg herum erklangen Schreie. Mittlerweile schien sich halb Prag am Ort des Geschehens versammelt zu haben. Wenn Philipp dem Befehl seines Statthalters nachkommen wollte, musste er den Tumult nutzen und versuchen, unbemerkt zu verschwinden. Als er sich auf seinem linken Arm abstützte, gab dieser nach und der Sekretär fiel mit dem Gesicht in den Dreck. Die Schmerzen waren unerträglich. Benommen schaute er auf den zerrissenen und blut­durchtränkten Ärmel seiner Jacke. Am liebsten wäre er jetzt einfach im Graben liegen geblieben und hätte auf sein Ende gewartet. Nein! So wollte er nicht sterben.

Er mobilisierte seine letzten Kräfte, nahm seinen ganzen Mut zusammen und kroch aus dem Graben. Als Philipp merkte, dass sich niemand für ihn interessierte, humpelte er, so schnell es sein geschundener Körper zuließ, davon. Als er einige Minuten später die Moldau erreichte, kämpfte er gegen das Verlangen seines schmer­zenden Körpers nach einer Pause an und überquerte hinkend den Fluss. Die Schreie an der Burg wurden leiser. Hinter sich konnte Phi­lipp keinen Menschen sehen. Er war seinen Häschern also entwischt und für den Moment mit dem Leben davongekommen.

In seiner Kammer packte Philipp nur die nötigsten Dinge zusam­men. Er wusste, dass man ihn hier zuerst suchen würde, und musste die Stadt so schnell wie möglich verlassen. Die Schmerzen in seinem Körper wurden mit jedem Schritt stärker. Seine Kleidung war an Armen und Beinen zerrissen und voller Blut von zahlreichen Schürf­wunden. Es gab nichts, was der Sekretär jetzt lieber tun würde, als sich einfach auf sein Bett fallen zu lassen und zu schlafen. Aber er musste sich in Sicherheit bringen.

Weniger als fünf Minuten, nachdem er das Haus, in dem er lebte, betreten hatte, verließ er es wieder. Die Zeit, sich wenigstens not­dürftig zu reinigen und frische Kleidung anzulegen, nahm er sich nicht. Er ging zu einem Kutscher, von dem er wusste, dass er den Statthaltern treu ergeben war. Sie vereinbarten einen Treffpunkt, der etwa einen Kilometer von der Stadt entfernt war. Bis dahin musste sich Philipp alleine durchschlagen. Es war zu gefährlich, den Versuch zu unternehmen, in der Kutsche durch die Stadttore zu fahren.

Der Weg zum vereinbarten Treffpunkt brachte Philipp an den Rand der Verzweiflung. Er stand mehrfach kurz davor aufzugeben. Mit jedem Schritt zog ihm der Schmerz durch seine Beine hoch bis zur Brust. Das Wissen darum, wie viel davon abhing, dass er Wien so schnell wie möglich erreichte, verlieh ihm jedoch die Kraft, sein Ziel zu erreichen. Graf von Thurn durfte mit seiner schändlichen Tat nicht durchkommen.

Der Kutscher erwartete ihn bereits, als Philipp schwer atmend bei dem Mann ankam. Völlig fertig stieg er in die Fahrgastzelle und ließ sich dort auf eine Bank fallen. Schlafen konnte der Sekretär aber auch jetzt nicht. Jeder Stein, über den die Räder der Kutsche holper­ten, versetzte seinem Körper einen schmerzenden Stich und zwang ihn dazu, sich aufzusetzen. Die Tortur endete erst, als eine gnädige Ohnmacht ihn von seiner Pein befreite.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Einen einführender Exkurs in die Zeit der böhmischen Unruhen im Jahre 1618 gibt es HIER.