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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Gespenster – Zweiter Teil – Zweite Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Zweiter Teil

Zweite Erzählung

Das spukende Scheusal in Ketten unweit von Magdeburg

Herr Lehmann machte im Herbst des Jahres 1789 als Wirtschaftsverwalter bei der Frau Geheimrätin von Gansauge zu Königsborn bei Magdeburg in ökonomischer Hinsicht eine Reise durch den Saalkreis. Er kam eines Abends sehr ermüdet zu Welsleben, einem Dorf magdeburgischer Inspektion, an. Im Wirtshaus schon bekannt, ging er nach dem Abendessen ohne Begleitung vonseiten der Wirtsleute auf eine obere Gaststube, wo er gewöhnlich zu schlafen pflegte. Nach Verlauf einer Viertelstunde, in welcher er sich gemächlich entkleidet hatte, ging er mit dem Licht in der Hand, zu der offenen Kammer, um das ihm bestimmte Bett in Augenschein zu nehmen. Aber welch eine Erscheinung! Am Bette sitzt das scheußlichste aller Gespenster. Ein außerordentlich kleines missgestaltetes, dem Anschein nach weibliches, kreuzweise mit Ketten gefesseltes Wesen, starrt ihn mit einem Paar blinzenden Augen an. Es hockt wie ein dienender Hund auf zwei Beinen. Um Kopf und Brust ist alles zottig. Kohlenschwarzes Haar hängt, gleich der Mähne eines kranken polnischen Pferdes, wild und unordentlich über die Schultern hin. Mit offenem Rachen blökt die Hässlichste ihres Geschlechts Herrn Lehmann an, nähert drohend sich demselben und rasselt fürchterlich mit den Ketten. Er, sonst ohne Furcht, wagt es vor Schrecken nicht, die Unholde anzureden. Germ macht er ihr offene Bahn. Sie verschwindet plötzlich und hinterlässt einen so scheußlichen Gestank, dass der fast sinnlose Geisterseher darin beinahe erstickt wäre.

Es währte lange, bevor dieser von seinem Entsetzen sich erholen konnte. Endlich gelang es ihm wieder mit dem Gehörgeben der kalten, ruhigen Vernunft.

Diese flüsterte ihm, nach langem vergeblichen Hin- und Herdenken, ins Ohr: »Der Wirt sei ihm ja längst als ein lustiger, schalkhafter Mann bekannt. Mithin werde er wohltun, sich zu überzeugen, der habe seinen unzeitigen Scherz mit ihm getrieben, und die ganze gespenstartige Erscheinung sei nichts mehr und nichts weniger als eine von demselben veranstaltete Verkleidung eines ungestalteten Kindes.«

Durch diese hetzenden Einflüsterungen im hohen Grade aufgebracht und erhitzt, warf er sich missmütig aufs Bett, des festen Vorsatzes, am nächsten Morgen dem ungeschickten und unberufenen Spaßmacher derbe Wahrheiten zu sagen. Allein so müde er war, erquickt ihn doch kein Schlaf. Unzufrieden mit seinem Schicksal kleidet er sich nach Mitternacht an und weckt den Wirt auf, um demselben verdiente Vorwürfe zu machen, nach der Rechnung zu fragen und weiterzureisen, um nie wiederzukommen. Der Wirt erstaunt und versichert mit einer vollkommen unzweideutigen Miene seine Unschuld. Als endlich Herr Lehmann dringender wird und alles Ernstes Aufklärung fordert, schwört jener hoch und teuer, er wisse vom ganzen Hergang der Sache nur so viel, als er diesen Augenblick davon höre. Auch die Übrigen im Haus wussten nicht, was sie von der Erscheinung denken sollten.

So sah nun Herr Lehmann sich genötigt, mit dem Anbruch des kommenden Morgens in der quälendsten Ungewissheit und kopfschüttelnd das Dorf zu verlassen. Er war völlig zweifelhaft, ob ihm das scheußlichste Wesen des Geisterreiches in Menschengestalt erschienen sei, oder ob man ihn vielmehr getäuscht und ohne Not geängstigt habe. Vielleicht würde er ohne Umstände für das Letztere sich erklärt haben, wenn er nur irgendeine wahrscheinliche Ursache der Täuschung sich hätte denken können.

Glücklicherweise gehörte der Geisterseher zu jener gebildeteren Menschenklasse, welche über die Vorurteile des großen Haufens in Absicht des Gespensterwahns erhaben ist. Allein so sehr sich seine gesunde Vernunft gegen den Glauben an eine übernatürliche Erscheinung sträubte, so lief sie dennoch zuletzt Gefahr, nach und nach wenigstens in diesem Punkt erstickt zu werden.

Es waren Jahr und Tag vergangen, ohne dass ein günstiger Zufall – der doch mit seiner Schwester, der Zeit, so manches aufzuklären pflegt – einiges Licht über das obwaltende Dunkel der gehabten Erscheinung verbreitet hätte. Hundertmal hatte er den Hergang der Sache seinen Freunden und Bekannten erzählt und wieder erzählen müssen, und immer lebhafter schwebte dann die Schreckensgestalt ihm von Neuem vor Augen. Fest überzeugt, dass weder seine Sinne ihn dabei getäuscht noch auch die Einbildungskraft ihm einen hämischen Streich gespielt haben, schloss zuletzt an diese Überzeugung der Glaube an die Möglichkeit spukhafter Erscheinungen sich an. Zwar war er nicht anmaßend genug, zu verlangen, dass um seiner Erfahrung willen auch andere dem Glauben an Erscheinungen höherer Natur huldigen sollten, allein wenigstens – meinte er – habe er doch für seine Person nun ein unveräußerliches Recht zum Gespensterglauben.

Endlich – nach Verlauf von zwei vollen Jahren, führte sein Weg ihn einmal wieder durch das Dorf Welsleben. Kaum wagte er es, die geheime Freude sich zu gestehen, die er darüber empfand, dass er diesmal nicht nötig habe, hier wieder zu übernachten. Ein sicherer Beweis, dass das durch die spukende Vettel in Ketten ausgestreute Samenkorn des Aberglaubens auch selbst in dem, seiner Meinung nach, unfruchtbaren Boden bereits Wurzel geschlagen, selbst der bisher unbefangenen, geläuterten Vernunft des guten Verwalters übel mitgespielt hatte.

Das Erste, wonach Herr Lehmann seinen alten Wirt zu Welsleben, den er seit jenem Ereignis nicht gesprochen hatte, fragte, betraf natürlich jene Erscheinung. Die unerwartete Antwort, so er erhielt, war für seine dem Gespensterwahn schon halb preisgegebene Vernunft äußerst beschämend.

Jenes Scheusal in Ketten war die melancholisch gewordene, betagte Ehefrau eines Welslebenschen Einwohners gewesen. Man hatte dies mittelst der angestellten Nachforschungen schon an dem Tag der Abreise des Verwalters entdeckt, aber versäumt und es vielleicht nicht der Mühe wertgehalten, dem Letzteren Nachricht davon zu erteilen. Den Tag vorher, ehe die Unglückliche unabsichtlich gespukt hatte und für ein übernatürliches Wesen gehalten worden war, hatte ihre bisher stille Schwermut, den Leuten in der Schenke unbewusst, angefangen, in völlige Wut und Raserei auszuarten, sodass ihr unglücklicher Ehemann sich genötigt gesehen hatte, sie, um Aufsehen und Unglück zu verhüten, heimlich mit Ketten zu fesseln und einzusperren. Dennoch aber war es ihr, teils zufällig, teils durch angewandte Gewalt gelungen, ihrem Gefängnis gefesselt zu entspringen. Zufällig hatte sie des Abends im Finsteren, von den Wirtsleuten unbemerkt, sich in deren obere Kammer geschlichen, wo Herr Lehmann sie antraf. Mit ihrem Verschwinden aus der Kammer muss es übrigens wohl vollkommen natürlich zugegangen sein, denn sie war, wie überhaupt jedem Menschen, der nicht hinkt, eigen ist, auf zwei natürlichen Beinen zur Tür hinausgegangen und unbemerkt entkommen.

Wie aber der Verwalter vor Entsetzen eine solche Entfernung für ein übernatürliches Verschwinden nehmen konnte, macht der halb sinnlose Zustand, worin er sich befand, sehr begreiflich. Nicht minder natürlichen Ursprungs war der durch das vermeinte Gespenst verbreitete Gestank, worüber der Wirt in der Verlassenschaft der rasenden Frau auf dem Fußboden der Kammer die anschaulichsten Beweise vorfand.