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Der Welt-Detektiv Band 6

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Atlantis Teil 15

Das bleiche Licht der Mitternachtssonne spielte um das graue Turmmassiv. Tredrups Schulter stemmte sich gegen das Motorboot, half es mit vom Strand abrücken.

»Ab!« Er sprang hinein.

Der Motor ging an. Der Bootsmann überließ ihm den Griff und ging ans Steuer. Das Boot kam in Fahrt. Schneller, immer schneller schoss es Süd zu Südost durch die grüne Flut.

»Volle Kraft voraus!«, schrie der Steuermann.

Tredrup befolgte den Befehl.

Stunden vergingen. Sie fuhren … sie fuhren Süd zu Südost … fantastisch die Schnelligkeit.

Tredrup stand am Motor, die Hand am Griff. Sein Herz pochte im Takt der Maschine.

Da vorn am Stern … da saß er … der aus dem Leuchtturm, Johannes Harte. Das Gesicht in der Richtung der Fahrt. Tredrups Gedanken gingen zurück. An den Bootssteg. Johannes Harte trat aus der Pforte des Turmes. Stieg die schmale Treppe hinab, kam auf den Bootssteg, stieg ein.

Ein Mensch … ein Mann … Was war das für ein Mann? Wie hatte seine Fantasie gearbeitet in der Erwartung, diesen rätselhaften Menschen zu sehen? Welche Bilder waren es, die er sich von ihm gemacht hatte? Und dann hatte er ihn gesehen … gesehen so ganz anders … anders … ja wie?

Eine schlanke hohe Gestalt. Ein schmales bleiches Gesicht. Eine hohe, sich weit vorwölbende Stirn. Langes, lockiges Blondhaar darüber.

Aber die Augen … die Augen! Was waren das für Augen? Nur mit leichtem Seitenblick streiften sie ihn … und doch, was waren das für Augen? Wie war seine ganze gesammelte Willenskraft, sich das Bild dieses Menschen tief einzuprägen, vor einem leichten Blick dieser Augen zerstoben! Sein ganzes Wesen fühlte sich gefangen. Wie ein Gefangener war er ihm gefolgt, wie der Sklave seinem Herrn.

Die rauen Rufe des Bootsmanns erst hatten ihn aus seiner Betäubung gerissen. Klar zur Abfahrt! hatte der Bootsmann geschrien.

Der Mann vom Leuchtturm hatte sich am Stern niedergelassen, denen im Boot den Rücken zugewandt. Da hatte Tredrup aufgeatmet, wie befreit von den Fesseln jenes Blickes.

Und sie fuhren … und fuhren. Wie ein Vogel schoss das Boot über die leichte See dahin. Stille über den Wassern … Stille im All. Nichts als das leise Rauschen der Wogen, die der scharfe Kiel durchschnitt.

Im Norden! Ein heller Schein über der Kimme. Dann ein Rot … Orange … Gelb … ein Nordlicht. Ein Farbenwunder in majestätischer Größe erstand da.

Er blickte zu jenem Mann hin, wie dieser sich wendete, wie seine Augen an diesem Schauspiel hingen, sich daran weideten. Klaus Tredrup schaute zur Kimmung, wo der dunkel glühende Sonnenball einzutauchen schien. Mechanisch sah er auf seine Uhr. Die Mitternachtsstunde nahte … war da.

Der Mann am Stern war aufgestanden, ging zur Kajüte und kam wieder herauf. Unter dem Arm trug er einen Apparat, einen leichten Kasten, wie es schien. Am Stern setzte er sich nieder, zog einen weiten Mantel um die Schultern. In dessen seidigem Glanz spielten die Lichter des Himmels. Er wandte sein Gesicht der Sonne zu und schaute lange hinein. Dann senkte er sein Haupt. Die Hände zogen den Mantel dichter zusammen, ergriffen etwas. Und wie der Bug sich hob und senkte, glänzte das in den matten Sonnenstrahlen.

Tredrup stand still. Seine Hände umkrampften den Motorhebel. Seine Augen bohrten sich durch das Dämmerlicht zu dem Glitzernden hin.

Ha … ein Tokschor? Er griff sich an die Stirn. Hatte er richtig gesehen. Ein Tokschor in jenes Mannes Händen? Ja! Er hatte richtig gesehen.

Die schmalen Finger spielten an dem Knopf der Gebetsmühle. Die Augen starrten auf die Blätter in dem Gehäuse. Die Lippen bewegten sich, als wenn sie läsen … beteten …

Tredrup starrte. Seine Hand fuhr zum Herzen. Was war das? Was sollte das? Sein Geist zwang sich zur stärksten Willenskraft. Seine Zähne schlugen aufeinander wie im Fieber. Und … dann … der da oben griff nach dem Apparat … nahm ihn zwischen die Knie. Sein Körper senkte sich darüber. Seine Hände legten sich an dessen Seiten. Sie bewegten Hebel … Schrauben … die Augen des Mannes gingen in die Ferne, als suchten sie eine Richtung im Süden, gingen wieder herunter zu jenem Apparat.

Und dann … dann war es Tredrup, als führe ihm eine Hand über die Stirn, über die Augen … minutenlang. Und dann sah er wieder auf … und war auf einem Schiff … einem ganz anderen … einem ganz fremdartigen Schiff.

Ein Schiff, eine Kogge, kam von Hamburg, der jungen, aufblühenden Siedlung an der Elbmündung. Vier Wochen schon waren sie unterwegs. Mit Rudern und Segeln hatten sie mit dem Nordost gerungen, bis sie um das Nordkap bei Skagen herum waren.

Kostbare Last hatten sie an Bord. Fränkische Tuche … burgundische Weine … levantinische Spezereien, Tauschhandel damit zu treiben gegen die Güter des Ostens, die köstlichen Rauhwaren, den begehrten Bernstein …

Und sie fuhren durch den Belt, wo Sturm den Sturm jagte … und beteten zu dem neuen Christengott, der ihnen gnädig war …

Und sie kamen am Boskamp vorbei, wo noch heidnische Feuer rauchten. Und sie fuhren weiter, bis sie hinkamen zu dem Ziel der Fahrt, nach Jumneta, und die Anker fallen ließen.

Da lag es an der äußersten Nordspitze der langen Insel, wo der westliche Oderarm das Meer erreicht. Von hohem Hügel her grüßte die wallumgürtete Wikingerfeste, die trutzige Jomsburg, zu ihren Füßen die reiche Slawenstadt Vineta.

Und sie gingen an Land und staunten über die Größe und den Reichtum der Stadt. Slawen und Sachsen … Nordmänner und Franken … ein Gemisch aller Völker und Zungen.

Ihre Augen konnten sich nicht sattsehen an den Herrlichkeiten der Meerkönigin Vineta. An die zwei Wochen blieben sie hier und tauschten ihre Waren gegen die Erzeugnisse des Ostens. Und dann lichteten sie wieder die Anker und fuhren nach Westen.

Noch hatten sie die letzten Spitzen der Türme in Sicht, da kam es von Norden herangefahren. Der alte Schiffsführer sah es beizeiten, sodass sie sich ducken konnten, verkriechen in den Buchten der Rugischen Küste. Sie sprangen an Land, schleppten die Kogge an den Strand, banden sie an Klippen und Bäumen fest.

Kaum war das geschehen, da brauste es vom Norden heran. Die Welt wollte untergehen. Turmhoch schäumte das Meer unter Sturmesgewalt.

Und dann … entsetzt starrten ihre Augen über die Landzunge nach Osten. Da kam es heran wie eine Mauer. Hochgetürmt wie eine Riesenwand kam das Meer, stürmte vorbei vor ihren Augen … raste nach Süden.

Das Land da unten verschwand in wirbelndem Gischt. Darüber hinweg die kochende See! Noch einmal grüßten die Türme der Jomsburg … dann …

Lastende Stille … und dann kam es zurückgefahren … mit schwächerer Kraft … nach Norden hin. Und als sie wieder nach Süden sahen, suchten ihre Blicke vergeblich die glänzende Stadt, in der sie eben geweilt hatten. An einem kahlen grauen Sandrücken brachen sich die abebbenden Fluten des Meeres …

Und dann … die Nacht verging unter Schrecken und Schaudern. Der Morgen kam, und eine ruhig stille See glänzte in der ersten Dämmerung. Da machten sie los und fuhren zurück nach Hamburg … Und als der Kiel am Elbstrand über heimatlichen Boden knirschte, sprangen sie an Land und knieten nieder …

»An Land! An Land, Herr Tredrup!«

Tredrup zuckte zusammen. Er fühlte, wie ein Fuß ihn anstieß. Mit einem Schrei warf er sich empor. Seine Augen starrten im Kreis umher.

»Was war das? Wo bin ich?«

Er fuhr sich mit den Fäusten in die Augen und rieb sie, als ob er ein Schreckensbild herausreiben wolle.

Da stand der alte Bootsmann. Der breite, zahnlose Mund lachte.

»Sie haben geträumt, Herr Tredrup. Wir sind zu Hause. Hier ist der Leuchtturm.«

Mit einem Ruck stand Tredrup auf den Füßen. Seine Augen flogen von dem Alten hinüber zum Leuchtturm, gingen weiter zu den Schachttürmen. Er holte tief Atem.

»Geträumt? Habe ich geträumt, Bootsmann?«

»Na ja!«, sagte der lächelnd. »Sie schlafen schon die halbe Fahrt. Gewiss haben Sie geträumt. Was ist Ihnen?«

Tredrup stand. Er schüttelte den Kopf. Seine Hände bewegten sich wie hilflos fragend.

»Ja … ja … ich habe geträumt. Ein Traum … fürchterlich … war über mich gefallen. Und nun sind wir zu Hause … ja, zu Hause.«

Mit zitternden Knien betrat er den Bootssteg, klomm er den Uferhang empor … und kam nach Wibehafen …

»Herr Tredrup! In einer Stunde beginnt die neue Schicht.«

Er erwachte … sah um sich. Er lag in seinem Bett. Um ihn herum die vertraute Umgebung. Er stand auf, hängte sich die Kleider um und riss das Fenster auf. Die kühle, frische Luft, die ihm entgegenschlug, legte sich wohltuend um seine Schläfen. Ein paar Mal schöpfte er tief Atem.

Die Tür ging auf. Seine Wirtin trat herein, auf den Händen das Kaffeetablett. Er setzte sich an den Tisch. Seine Augen überflogen die Morgenzeitung. Die erste Überschrift: Vineta!

Er taumelte zurück, als hätte ihn ein Schlag getroffen. Wieder ergriff er das Blatt. Immer größer werdend starrten seine Augen auf die Nachricht, die da stand.

»In der gestrigen Nacht ist der Meeresgrund an der Nordspitze von Usedom in einer Ausdehnung von zwei Quadratmeilen zutage gestiegen. Die Stätte, wo einst Vineta lag, ist wieder erstanden.«

 

*

 

Christie Harlessen hatte schon ihre Wohnung betreten. Sie ließ sich an dem einladenden Teetisch nieder und strich sich mit einer müden Bewegung über die Stirn. Die Tätigkeit bei Simmons Brothers war doch zu manchen Zeiten anstrengender, als sie anfangs gedacht und gespürt hatte.

Wie anders doch das freie, abwechslungsreiche Leben in Tejada … selbst im Zirkus. Die Eintönigkeit im Büro war allein schon ermüdend … und doch, was tun. Jener Sturz, der ihr die weitere Ausübung dieses Berufes unmöglich machte, hatte sie ihn nicht zeitweise für eine Schicksalsfügung gehalten?

Die Unterredung mit Walter Uhlenkort in Kapstadt! Wie oft erinnerte sie sich daran! Etwas Neues, ihr bis dahin kaum Bewusstes, schien seitdem in ihr Denken und Fühlen getreten zu sein.

War es das Harlessenblut, das sich in ihr regte? Wie hatte Walter Uhlenkort gesprochen?

›Sie sind eine echte Harlessen!‹

Hätte sie ihm damals folgen sollen? … Hamburg?

Die Türglocke klang. Sie hörte eine Männerstimme, hörte ihre Wirtin etwas antworten und auf ihre Tür zukommen.

War er es? Mr. Rouse? Der kurze Gedanke trieb sie empor.

»Miss Harlessen, Besuch für Sie! Mr. Uhlenkort aus Hamburg.«

»Herr Uhlenkort?« Befreiung … Überraschung lag in den Worten.

»Bitte, führen Sie den Herrn zu mir!«

Sie folgte der Frau und öffnete die Zimmertür.

»Bitte, Herr Uhlenkort!« Sie schüttelte dem Eintretenden kräftig die Hand. »Willkommen in meinem Heim!«

Uhlenkort stand einen Augenblick und hielt ihre Hand fest in der seinen.

»Dank für Ihre freundliche Begrüßung, Fräulein Christie. Ich … ich …«

»Sie erwarteten eine andere Begrüßung, Herr Uhlenkort,«

Sie lachten beide.

»Ich gestehe, Fräulein Christie, nach meinem letzten Besuch in Kapstadt …«

»… waren Sie auf das Schlimmste gefasst.«

»Beinahe. Meine Freude ist eine doppelte. Der gute Empfang und dann … ich sehe, dass Sie sich wohlbefinden. Sie sind wieder gänzlich hergestellt?«

Christie nickte. »Gänzlich? Dann wäre ich vielleicht nicht hier.«

»So leiden Sie immer noch unter den Folgen des Sturzes?«

Mit Besorgnis blickten seine Augen über die schlanke Gestalt, die anscheinend in blühender Gesundheit vor ihm stand.

»Nein und ja«, erwiderte sie. »Es genügt nicht allein, völlig gesund zu sein, um die Hohe Schule zu reiten. Ich bin es. Aber es fehlt die volle Kraft der Zügelhand, ohne die es nun einmal nicht geht.«

»Dank für die Worte, Fräulein Christie. Ich freue mich. Doch …« Er wies auf den gedeckten Teetisch. »Ich störe Sie bei Ihrer Mahlzeit.«

»Durchaus nicht. Machen Sie mir die Freude, den Tee mit mir zusammen zu nehmen!«

Sie saßen sich am Tisch gegenüber.

»Sie müssen vorlieb nehmen, Herr Uhlenkort. Die Tischplatte biegt sich nicht unter der Last. Hätte ich bestimmt gewusst, dass Sie kommen …«

Uhlenkort blickte fragend auf.

»Bestimmt? Fräulein Christie, wie meinen Sie das?«

»Oh!« Eine leichte Röte glitt über ihr Gesicht. Sie klappte sich mit der Hand auf den Mund.

»Ah! Sie haben mich wohl gesehen, als ich heute Morgen bei Simmons Brothers war, obgleich Sie so vertieft in Ihre Manuskripte blickten.«

»Ja, ich sah Sie.«

»Sie sahen mich und haben mich – wenn auch nicht bestimmt – erwartet. Das wollten Sie sagen, Fräulein Christie?«

»Ja, Sie hatten es leicht, Gedanken zu lesen … überhaupt wohl leicht, meinen Aufenthalt festzustellen.«

»Wie meinen Sie das, Fräulein Christie?«

»Ich vermute wohl nicht mit Unrecht, Herr Uhlenkort, dass Ihr Wissen aus dem Pinkerton Office stammt.«

»Richtig geraten, Fräulein Christie! Weshalb hinter dem Berg halten. Sie mögen gehen, wohin Sie wollen, ich werde stets wissen, wo Sie sind.«

»Warum diese Mühe, Herr Uhlenkort?«

»Weil Sie zu uns gehören, Christie. Sie sind eine Harlessen.«

»Sie sind aber doch ein Uhlenkort.«

»Harlessen und Uhlenkort gehören zusammen.«

Der Ernst, mit dem er die Worte sprach, ließ sie schweigen. Sie fühlte seinen Blick voll auf sich ruhen. Fühlte, wie ihr Herz bei diesen Worten mitklang.

»Dann weiß ich wohl, weswegen Sie hierherkommen.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, suchte nach Worten und stieß es dann heraus: »Sie kommen wieder, das verirrte Schaf zurückzuholen!«

»Christie! Warum so bitter? Fassen Sie meine Worte so auf? Können Sie sich nicht denken, dass ich aus persönlichen Gründen ein Interesse habe, mich um Sie zu kümmern? Ich verließ Sie damals in Kapstadt in einer schlimmen Lage … Auf dem Krankenbett. Wäre es nicht widersinnig, wenn ich Sie danach verlassen hätte? Ich war froh, als ich erfuhr, dass Sie hier in Stellung waren. Als ich hörte, dass Sie aus dem gefährlichen Beruf heraus seien.«

»Nun … und wenn schon.«

»Christie, wie kamen Sie dazu?«

»Sie wissen es ja! Und schließlich, wen geht es denn was an?«

»Christie, können Sie sich nicht denken, dass mein Herz …«

Christie wandte ihm das Gesicht zu und sah ihm in die Augen. Ihre Blicke senkten sich ineinander.

»Ich glaube Ihnen, Herr Uhlenkort. Ich will Ihnen glauben, trotz allem, was mir geschehen ist … meinem Vater geschehen ist.«

»Ihrem Vater, Christie? Wieder der alte Vorwurf! Warum quälen Sie mich? Ich versichere Ihnen, dass man sich in Hamburg die größte Mühe gab, ihn zu finden. Ihn trotz aller Bemühungen nicht zu finden vermochte. Bis ich an den Kanal kam, unglücklicherweise zu spät kam. Eine Woche früher, und ich hätte ihn lebend getroffen, und alles wäre anders geworden.«

»Anders geworden? Vergessen Sie nicht, auch mein Vater war ein Harlessen.«

»Und doch hätte er in diesem Fall die Hand, die sich ihm von Hamburg entgegenstreckte, nicht zurückgewiesen.«

»Sie sagen das, Herr Uhlenkort.«

»Jawohl, Christie! Ich behaupte das, weil ich weiß, dass er eben ein Harlessen war. Sie sagten mir ja, wie oft er an Hamburg gedacht … wie oft er Ihnen davon erzählt hat. Ich hätte es auch gewusst, ohne dass Sie es mir berichtet hätten. Gerade weil er ein Harlessen war, fühlte er die Vereinsamung. Wie sehr er die Bitternis, in der Fremde zu leben, empfand, wird er Ihnen nicht offenbart haben. Ich aber sage es Ihnen, nie … nie konnte er sich in der Fremde glücklich fühlen. Die zerrissenen Bande …«

Er war aufgesprungen und durchmaß mit heftigen Schritten den kleinen Raum. In Christies Zügen wechselten jagend Blässe und Röte. Mit einem Ruck blieb er plötzlich vor ihr stehen.

»Und du! Christie, du … du willst es nicht sagen … und doch, du … du fühlst dich auch als eine Harlessen, fühlst, dass du zu uns gehörst, zu uns hingehörst nach Hamburg …«

Schweigen lastete in dem kleinen Raum.

Es drängte sie, ihm die Hand zu reichen. Es schrie in ihr: Ja! Ja! Du hast recht. Ja! Ja!

Sie kämpfte mit sich … Ihr Herz schlug, als wollte es bersten … und sie bezwang sich.

»Herr Uhlenkort!«

Der Klang seines Namens schien ihn aufzuwecken. Er strich sich über die Augen.

»Ach! Verzeihung, Fräulein Christie … Was sprach ich? Ich … Verzeihung … mein Herz floss über. Ich konnte nicht anders.«

Er streckte ihr die Hand entgegen. Er fühlte, wie ihre Finger sich leicht hineinlegten und darüberglitten. Dann ging er zu seinem Platz zurück.

»Ich vergaß … vergaß schon damals in Kapstadt, Sie nach den rätselhaften Umständen jenes Verbrechens in Tejada zu fragen. Ihr Vermögen wurde damals geraubt. Haben die Nachforschungen der Polizei, der Behörden gar nichts ergeben?«

»Nichts, Herr Uhlenkort. Man hat mich verschiedene Male vorgeladen. Man hat auch einige Leute verhaftet. Aber ihre Unschuld erwies sich bald. Es bleibt ein Rätsel, ein Geheimnis, dessen Dunkel wohl niemals gelichtet werden wird.«

»Niemals? Was an mir liegt, soll geschehen, um das Rätsel zu lösen. Wäre es auch nur, um dem Verbrecher seinen Raub abzujagen. Die Verbindung mit dem Pinkerton Office hat mich auf den Gedanken gebracht, die Pinkertons auf die Spur des Verbrechens zu setzen.«

Noch einmal ließ er sich von Christie die Umstände der Tat, soweit sie bekannt waren, berichten. Sah, wie Christie Harlessen durch die Erzählung von Neuem ergriffen, wie ihr Bericht immer matter und tonloser wurde.

»Nur noch eine Frage, Fräulein Christie, dann wollen wir dies dunkle Thema verlassen. Haben Sie selbst irgendeinen Verdacht, einen leisen Verdacht? Vielleicht auf irgendjemand …«

Er schaute Christie voll an. Sah, wie sie überlegte, wie ihre Augen hin und her gingen, wie sie kämpfte, zögerte.

»Ich habe keinen Verdacht. Habe auch niemals einen Verdacht gehabt … irgendein Landstreicher … ein entlassener Arbeiter … wer hätte sonst am Kanal noch … Doch warum noch weitere Nachforschungen nach dem unbekannten Täter anstellen? Sein Raub …« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich werde leben. Ich finde mein Brot selber.«

Uhlenkort erhob sich.

Auch Christie war aufgestanden.

»Warum wollen Sie so plötzlich gehen, Herr Uhlenkort?«

»Fräulein Christie … ja, Fräulein Christie … Sie sagten, Sie werden leben. Ich sehe, dass Ihre Willensstärke, Ihr Selbstständigkeitsgefühl größer ist als meine Überredungskraft. In Ihren Worten Ich werde leben drückte es sich nur zu deutlich aus. Sie sollten auch für mich gelten.«

»Herr Uhlenkort!«

»Fräulein Harlessen?«

Christis Blick ging zur Erde. Sie trat einen kleinen Schritt zurück.

Das versöhnende Wort auf ihren Lippen erstickte unter dieser Anrede.

»Herr Uhlenkort, noch einen Augenblick, ich habe Ihnen noch eine Nachricht zu geben, die Ihre Niederlassung in Valparaiso betrifft.«

Sie holte von ihrem Schreibtisch ein verschlossenes Kuvert und überreichte es ihm.

»Ich war im Begriff, nach Hamburg zu telegrafieren, als Sie heute Mittag zu Simmons Brothers kamen. Als ich Sie sah, änderte ich meine Absicht. Hier ist der Brief, den ich Ihnen, wären Sie nicht zu mir gekommen, in Ihr Hotel geschickt hätte.«

Uhlenkort ergriff das Kuvert.

»Eine Nachricht, die unsere Firma interessiert?«

Sie war hinter den Teetisch getreten und machte sich dort zu schaffen.

»Vielleicht war es überflüssig, was ich tat. Sie werden es zu Hause lesen.«

»Zu Hause? Im Hotel? Nein …!«

Er riss den Umschlag auf und überflog die Zeilen.

»Fräulein Christie?« Er trat erregt auf sie zu. »Ist das wahr … was Sie uns hier mitteilen?«

Christie sah kurz auf.

»Warum sollte ich Ihnen ein Märchen berichten?«

»Christie! Ich beschwöre Sie! Sind Sie sich der Tragweite dieser Nachricht bewusst? Ipton & Co. vor dem Bankrott? Unser Vertreter im Bunde mit den Inhabern … Ein Betrug beabsichtigt, der uns zehn Millionen kosten würde? Und Sie wissen es? Sagen Sie, wie Sie zu der Erkenntnis gekommen sind!«

Christie zuckte die Achseln. »Ich weiß es. Ein glücklicher Zufall. Ich glaubte, Ihrer Firma einen Dienst erweisen zu können. Vielleicht war es auch das Harlessensche Blut …«, vollendete sie mit Ironie.

»Christie! Christie! Alles, was Sie sprechen und tun, ja! Das ist Harlessenblut. Nie und nimmer war das ein bloßer Zufall, der Sie hiervon in Kenntnis setzte. So offen werden diese Herrschaften ihre Karten nicht spielen. Die Aufdeckung dieser Schurkerei ist Ihr Werk, Ihr Verdienst. Und wie Sie mir das gegeben haben, das ist …«

Er ergriff ihre Rechte und hielt sie trotz ihres leisen Widerstrebens fest.

»Christie … Christie Harlessen! Warum quälen wir uns!«

Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie.

»Christie, lassen Sie uns jetzt ganz sachlich reden. Alles Persönliche beiseite. Sie schreiben mir hier, dass unser Vertreter in Valparaiso die große Kobaltlieferung an Ipton & Co. trotz unseres telegrafischen Widerrufes doch zur Ausführung bringt, dass die Dampfer dafür, von Simmons Brothers gechartert, bereits in Valparaiso gelandet sind. Sie wissen auch, dass Ipton & Co. kurz vor dem Konkurs stehen … kurz, dass ein Komplott gegen uns im Gange ist, das uns unberechenbaren Schaden bringen muss.«

»Ganz recht, Herr Uhlenkort. Das wollte ich Sie wissen lassen.«

»Wieder der Ton, Christie, der so ganz anders klingt, als … Ihr Herz spricht.«

»Mein Herz? Ja! Wir wollen doch sachlich bleiben. Ich denke, jetzt handelt es sich doch darum, was zu tun ist. Fahren Sie nicht sofort dorthin?«

»Gewiss, ich muss es und … doch …«

»Warum zögern Sie? Gibt es jetzt etwas Wichtigeres für das Haus Harlessen?«

Uhlenkort starrte mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin.

»Wichtiger? Was ist jetzt wichtiger? Wüsste ich es … Der Weg nach Süden oder der nach Norden? Nach Norden?«

»Sie könnten einen anderen schicken. Mit Vollmachten versehen.«

»Einen anderen?« Uhlenkort strich sich über die Stirn. »… ja, könnte ich den ersten Besten nehmen. Aber hier! Den Schurken wird nicht so leicht beizukommen sein. Sie würden dem, den ich schicke, Hindernisse in den Weg werfen. Ehe er sie überwunden hat, wäre es doch geschehen … wäre es zu spät! Gewiss habe ich hier in New York Verbindungen. Wen könnte ich da wählen? Wer wäre der energische, vertrauenswürdige Mann, dem ich die Sache …?«

»Und wäre es eine Frau?«

»Eine Frau!« Er drehte sich nach ihr um und sah ihr fragend ins Gesicht.

»Eine Frau? Wie? Sie, Christie? Sie wollten? Sie wären bereit, diese nicht leichte Mission zu übernehmen?«

Christie nickte.

Er sprang auf und durchmaß den Raum. Dann blieb er kurz vor ihr stehen. Die Zweifel, die in ihm kämpften, prägten sich auf seinen Zügen aus.

Christie sah es. »Sie haben kein Vertrauen. Ich sehe es.«

»Vertrauen? Christie. Zu keinem Menschen in der Welt hätte ich mehr Vertrauen als zu Ihnen.«

Eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht.

»Aber das ist eine Aufgabe, welche die Tatkraft eines Mannes von der größten Energie verlangt … und …«

»Tatkraft und Energie? Was wissen Sie von meinem Lebensweg mehr, als was Ihnen das Pinkerton Office sagte. Es gab da mehr als einmal Situationen, an denen ein Mann vielleicht gescheitert wäre. Meine Kräfte werden sich bei einem Werk verdoppeln, das ich unternehme … für die Firmen Harlessen und Uhlenkort.«

Er trat dicht vor sie hin. Seine Hände legten sich auf ihre Schultern.

»Christie! Ja! Du wirst es tun. Dir wird es gelingen. Ich glaube an dich! Und dann wirst du zurückkehren … zurück zu uns nach Hamburg.«