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Aëlita – Teil 38

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Die Stimme der Liebe

In dichten Wolken flog der Schnee am Shdanow-Kai entlang, er kroch am Boden über die Gehsteige, irrsinnig tobende Hocken kreisten um die schwankenden Laternen. Die Hauseingänge und Fenster wurden zugeweht, und am anderen Ufer des Flusses wütete der Schneesturm in dem aufheulenden Park.

Auf der Uferstraße schritt Losj mit hochgeschlagenem Kragen und vorgebeugt dem Wind entgegen. Der warme Wollschal flatterte hinter seinem Rücken, die Füße glitten aus, der Schnee peitschte sein Gesicht. Er kehrte zur gewöhnlichen Stunde aus dem Werk zurück, nach Hause, in seine einsame Wohnung. Die Leute, die in der Uferstraße wohnten, hatten sich an seinen breitrandigen Hut gewöhnt, an seinen wollenen Schal, der die untere Gesichtshälfte verbarg, an seine gebeugten Schultern. Sogar, wenn er jemanden grüßte und der Wind sein weißes Haar wehen ließ, wunderte sich niemand mehr über den merkwürdigen Blick seiner Augen, die einst sahen, was noch niemand gesehen hat.

Zu einer anderen Zeit wäre sicher irgendein junger Dichter entflammt gewesen beim Anblick seiner durch das Schneegestöber schreitenden ungefügen Gestalt mit dem flatternden Schal. Aber die Zeiten waren jetzt andere. Die Dichter lassen sich nicht mehr begeistern von tobenden Schneestürmen, auch nicht von Sternen oder von Ländern, die hinter den Wolken sind. Sie suchen das Podien der Hämmer im ganzen Land, das Kreischen der Sägen, das Geschurre der Sicheln, das Pfeifen der Sensen – und fröhliche irdische Lieder.

Ein halbes Jahr war vergangen, seit Losj auf die Erde zurückgekehrt war. Die Neugierde hatte sich gelegt, von der die ganze Welt ergriffen gewesen war, als die erste telegrafische Nachricht verbreitet wurde, dass zwei Menschen vom Mars angekommen seien. Losj und Gussew hatten die vorgeschriebene Anzahl Gänge auf den hundertfünfzig Banketten, Soupers und den gelehrten Versammlungen gegessen. Gussew hatte seine Mascha aus Petrograd kommen lassen und sie wie eine Puppe herausgeputzt. Er hatte einige Hundert Interviews gegeben, sich ein Motorrad angeschafft, trug eine runde Brille und war ein halbes Jahr lang in Amerika und Europa herumgereist, um von den Raufereien mit den Marsianern, von den Spinnen und den Kometen zu erzählen. Er berichtete auch, dass er und Losj um ein Haar auf den Großen Bären geflogen wären, und gründete, nach Sowjetrussland zurückgekehrt, die Gesellschaft zum Hinüberschaffen von Kampfabteilungen auf den Planeten Mars zwecks Rettung der Überreste seiner werktätigen Bevölkerung.

Losj baute in einer Petrograder Maschinenfabrik einen Universalmotor von dem auf dem Mars gebräuchlichen Typus. Gegen sechs Uhr abends kehrte er gewöhnlich nach Hause zurück. Er aß allein zu Abend. Vor dem Einschlafen öffnete er meist ein Buch. Wie Kinderlallen erschienen ihm die Zeilen der Poeten, als kindisches Geschwätz, was die Romanschriftsteller sich ausgedacht haben. Wenn er das Licht gelöscht hatte, lag er noch lange wach, schaute ins Dunkle und spann und spann seine einsamen Gedanken.

Zur gewöhnlichen Stunde ging Losj auch heute am Ufer des Flusses entlang, durch das dichte Schneegestöber. Der wütend tobende Sturm trieb die Flocken hoch in die Luft. Die Gesimse und Dächer rauchten. Man konnte kaum atmen.

Losj blieb stehen und hob den Kopf. Der Wind hatte die sturmgepeitschten Wolken zerrissen. Am bodenlosen schwarzen Himmel glänzte ein Stern. Losj schaute hinauf zu ihm mit dem Blick eines Irrsinnigen – sein Strahl war ihm mitten ins Herz gedrungen. Tuma, Tuma, Stern der Traurigkeit … Die Ränder der jagenden Wolken zogen sich aufs Neue zusammen vor dem bodenlosen Abgrund und verdeckten den Stern. In diesem kurzen Augenblick war in Losjs Gedächtnis mit grauenhafter Deutlichkeit eine Vision aufgetaucht, die ihm bis dahin immer entglitten war.

Halb im Schlaf schien er ein Brausen zu hören, es klang wie das zornige Summen von Bienen. Dann ertönten laute Aufschläge – ein Pochen. Die schlafende Aëlita schreckte auf, seufzte und erwachte. Sie begann zu zittern, er konnte sie in dem Dunkel der Höhle nicht sehen und fühlte nur, wie ihr Herz schlug. Das Pochen gegen die Tür wiederholte sich. Von außen erscholl Tuskubs Stimme: »Nehmt sie!« Losj umfasste Aëlitas Schultern.

Sie sagte kaum hörbar: »Mein Gatte, Sohn des Himmels, leb wohl.«

Ihre Finger glitten rasch über sein Gesicht. Da tastete Losj nach ihrer Hand und nahm ihr das kleine Flakon mit dem Gift weg.

Ganz schnell, nur mit dem Atem, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Mir ist ein Verbot auferlegt, ich bin der Königin Magr geweiht … Nach dem uralten Brauch, einem furchtbaren Gesetz der Magr, wird eine Jungfrau, die das Weihegebot übertreten hat, in das Labyrinth, in den Schacht, geworfen. Du hast ihn gesehen … Aber ich konnte der Liebe des Himmelssohnes nicht widerstehen. Ich bin glücklich. Ich danke dir für das Leben. Du hast mich den Jahrtausenden des Chao zurückgegeben. Ich danke dir, mein Gatte …«

Aëlita küsste ihn, und er spürte den bitteren Geruch des Gifts auf ihren Lippen. Dann trank er den Rest der dunklen Flüssigkeit aus. Es war noch ziemlich viel davon in dem kleinen Flakon. Aëlita hatte kaum Zeit gehabt, daran zu nippen. Die Schläge gegen die Tür nötigten Losj aufzustehen, doch sein Bewusstsein entschwand ihm und Hände und Füße gehorchten ihm nicht. Er kehrte zum Bett zurück, fiel über den Körper Aëlitas, legte die Arme um sie. Er rührte sich nicht, als die Marsianer die Höhle betraten. Sie rissen ihn von der Gattin los, bedeckten sie und trugen sie fort. Mit einer letzten Kraftanstrengung sprang er hoch und griff nach dem Saum ihres schwarzen Mantels, doch das Aufblitzen von Schüssen und dumpfe Schläge gegen die Brust schleuderten ihn zurück, an die goldene Tür der Höhle.
Gegen den Wind ankämpfend, lief Losj weiter die Uferstraße entlang. Blieb von Neuem stehen, drehte sich um sich selbst in dem Schneegestöber und rief, ebenso wie damals in der Finsternis des Weltenraumes: »Sie lebt, sie lebt … Aëlita, Aëlita …«

Ein rasender Windstoß erfasste den zum ersten Mal auf der Erde ausgesprochenen Namen und verwehte ihn zwischen den fliegenden Schneeflocken. Losj drückte das Kinn tiefer in den Schal, steckte die Hände tief in die Taschen und ging taumelnd weiter, nach Hause.

Vor der Haustür stand ein Automobil. Gleich weißen Fliegen wirbelten die Schneeflocken in den rauchgrauen Lichtstreifen seiner Scheinwerfer. Ein Mann in zottigem Pelz tänzelte auf dem Gehsteig frierend von einem Fuß auf den anderen.

»Ich will Sie mitnehmen, Mstislaw Sergejewitsch«, rief er Losj fröhlich zu, »setzen Sie sich in den Wagen und fahren wir!«

Das war Gussew. Er erklärte hastig: Heute Abend um sieben Uhr wartete die Funkentelefonstation – wie schon in dieser ganzen Woche – auf den Empfang von überaus starken unbekannten Signalen. Ihre Chiffrierung sei unverständlich. Bereits seit einer ganzen Woche ergingen sich die Zeitungen sämtlicher Erdteile in Mutmaßungen bezüglich dieser Signale. Man vermute, dass sie vom Mars kämen. Der Leiter der Funkstation habe Losj eingeladen, die geheimnisvollen Ätherwellen heute Abend zu empfangen.

Losj war mit einem Satz, ohne ein Wort zu sagen, in dem Automobil. Weiße Flocken tanzten ihren rasenden Reigen in den Lichtkegeln der Scheinwerfer. Der Schneesturm drang in den Wagen und schlug ihnen ins Gesicht. Über der verschneiten, öden Newa loderte der lilafarbene Lichtschein der Stadt, blinkten die Reihen der Laternen an den Kais – überall Lichter, viele Lichter. In der Ferne heulte die Sirene eines Eisbrechers, der irgendwo das Eis zertrümmerte.

Ganz am Ende der Straße des Morgenrots, auf einem verschneiten freien Platz, hielt das Automobil unter sturmgeschüttelten Bäumen vor einem kleinen Hause mit rundem Dach. In den gitterartig durchbrochenen Türmen, die sich hoch oben in den Schneewolken verloren, und in den Drahtnetzen heulte pfeifend der Wind. Losj öffnete die vom Schnee verwehte Tür, betrat das warme Haus, legte Hut und Schal ab. Ein rotbäckiger rundlicher Mann, der Losjs von der Kälte rot gewordenen Finger mit seinen warmen molligen Händen festhielt, begann ihm etwas zu erklären. Der Zeiger der Uhr ging auf sieben.

Losj nahm vor dem Empfangsgerät Platz und setzte sich die Kopfhörer auf. Der Uhrzeiger kroch so langsam vorwärts. O Zeit, o ihr eiligen Schläge des Herzens, eisiger Raum des Weltalls! …

Ein langsames Geflüster ertönte in seinen Ohren. Losj schloss sogleich die Augen. Das entfernte, erregte, langsame Flüstern wiederholte sich. Ein seltsames Wort wurde immer aufs Neue ausgesprochen. Losj strengte das Gehör an. Gleich einem feinen Blitzstrahl durchdrang sein Herz eine entfernte Stimme, die traurig in einer unirdischen Sprache wiederholte: »Wo bist du, wo bist du, wo bist du, Sohn des Himmels?«
Die Stimme verstummte. Losj blickte vor sich hin, mit geweiteten, weiß gewordenen Augen. Die Stimme Aëlitas, die Stimme der Liebe, der Ewigkeit, der Sehnsucht, sie flog durch das ganze Weltall – rufend, anrufend, flehend: Wo bist du, wo bist du, Liebe …